Zukunft der Stadtteile – Zukunft der Stadtteilbüchereien (Zusammenfassung)

Gabriele Steffen, Weeber + Partner,
Institut für Stadtplanung und Sozialforschung

 

Zukunft der Stadtteilbüchereien – 9 Szenarien

Zur Zukunft der Stadtteilbüchereien lassen sich ganz unterschiedliche Szenarien denken. Das Ergebnis einer fiktiven Expertenbefragung zum Thema:

  • die Erlebnisbibliothek mit events aller Art,

  • die Bibliothek als Dienstleistungscenter mit Komplettservice rund um die Uhr,

  • die virtuelle Bibliothek – das Buch ist tot,

  • Rückzug der öffentlichen Hand aufs Kerngeschäft – Stadtteilbüchereien als ehrenamtliche Aufgabe,

  • Privatisieren, Deregulieren – Bibliotheken verkaufen,

  • Neues Steuerungsmodell mit Kosten-Leistungs-Rechnung, Produktdefinitionen, Kennzahlenvergleichen, Kontraktmanagement und dezentraler Ressourcenverantwortung,

  • weitermachen wie bisher – die unveränderliche oder änderungsresistente Verwaltung und Bücherei,

  • Konzentration auf Stadtmarketing für die Innenstädte – Stadtteilbüchereien als Restgröße für die sozial Bedürftigen,

  • Ende der europäischen Stadt.

2. Entwicklungen in den Städten

2.1. Was ist die Stadt?

Stadt lässt sich auf verschiedenen Ebenen definieren:

  • funktional: Mischung von Wohnen, Arbeiten, öffentlichen Einrichtungen, Administration, Bildung / Kultur,

  • sozial, durch das Zusammenleben ganz unterschiedlicher Menschen (Stadt als „Integrationsmaschine", H. Häußermann), Ort der Emanzipation, der Befreiung aus hergebrachten Bindungen („Stadtluft macht frei"),

  • wirtschaftlich: Ort der Produktion und des Austauschs von Waren,

  • kulturell: Ort der Produktion und des Austauschs von Informationen und Ideen; unverwechselbares lesbares Bild der Zeit ihres Bestehens und ihres Wandels, „Orte des kollektiven Gedächtnisses und Laboratorien der Moderne",

  • räumlich-städtebaulich: Dichte, Nutzungsmischung, öffentlicher Raum als nicht zweckbestimmter, für alle zugänglicher Ort des Austauschs,

  • politisch-administrativ – kommunale Selbstverwaltung (Grundgesetz, Gemeindeordnung) – Stadtbürger/innen mit Bürgersinn,

  • Stadt als Gegensatz zum Land (räumlich, funktional, kulturell),

  • Urbanität als Lebensweise: ein Verhalten im Umgang gerade mit Differenz, mit Neuem und Ungewohnten, spezifisch städtischer Lebensstil, der das Zusammenleben auch mit Fremden außerhalb der Sphäre des Privaten, Beruflichen etc. in einem städtischen Raum ermöglicht, aus dem niemand ausgeschlossen ist (Louis Wirth: Die Stadt ist nicht nur eine „relativ große, dicht besiedelte und dauerhafte Niederlassung gesellschaftlich heterogener Individuen", sondern auch eine bestimmte Lebensform, die „individuelle Unterschiede... toleriert, mehr noch, honoriert". „Wenn sie Menschen aus allen Ecken der Erde zusammenbringt, so nicht um ihrer Homogenität und Geistesverwandtschaft willen, sondern gerade weil sie verschieden und deshalb füreinander nützlich sind").

 

2.2. Entwicklungen in den Städten

Auf allen Ebenen erleben die Städte derzeit gravierende Veränderungen:

  • funktional, räumlich-städtebaulich: Zonierung, Trennung Wohnen – Arbeiten – Freizeit – Versorgung; Zunahme von Verkehr; Privatisierung des öffentlichen Raums; großflächige Nutzungen / neue Maßstäbe,

  • sozial: sozialräumliche Polarisierung, Auseinanderdriften „begünstigter" und „benachteiligter" Stadtquartiere (s. Programm „Soziale Stadt"),

  • Krise der Innenstädte / kulturell und wirtschaftlich (Verlust des Wohnens, produzierender Arbeit, der Kinder, der nicht hochrentablen Nutzungen), Inszenierung des Städtischen als Kommerzialisierung, Profillosigkeit, Konkurrenz anderer Formen des Austauschs (u.a. in den Medien),

  • Mobilität (als Möglichkeit und Zwang: räumlich, sozial, kulturell),

  • politisch-administrativ: Steuerungsverlust (Zuständigkeiten von Land, Bund, EU; Vielzahl der Akteure), Finanzkrise,

  • Auflösung der Stadt ins Umland (Suburbanisierung, Peripherie, Wohnsiedlungen, Speckgürtel, „Zwischenstadt"),

  • einerseits Verstädterung (immer mehr Menschen leben in Städten),

  • andererseits: nach der Landflucht nun die Stadtflucht;

  • trotz Verstädterung lebt nur noch ein – wahrscheinlich geringer werdender – Teil der Bevölkerung unter wirklich städtischen Verhältnissen.

  • Urbanität als gelegentliches Ereignis, „Urbanität als Lebensweise ist ortlos geworden" (W. Siebel), „Urbanität in den Netzen" (F. Rötzer).

Die Frage: Verschwindet die europäische Stadt? Oder gibt es nach wie vor ein (sicher verändertes, vielleicht sogar wachsendes) Bedürfnis nach Stadt – auch als Gegengewicht zur „Tyrannei der Intimität" (R. Sennett) in den Siedlungen?

 

3. Stadtteile

3.1. Was ist überhaupt ein Stadtteil?

Es gibt keine feste Definition:

  • Unter Stadtteilen versteht man unterschiedliche politisch-administrative Einheiten (Stadtbezirk, Stadtviertel),

  • sie haben eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte (aus der Stadt heraus als Vorstädte, größer gewordene Dörfer, Wohnsiedlungen auf der „Grünen Wiese", früher eigenständige, später eingemeindete Gemeinden oder gar Städte),

  • damit auch unterschiedliche baulich-städtebauliche Gestalt und Funktionen (dörflicher Kern; gemischte und dichte Stadtviertel; reine Wohnsiedlungen),

  • unterschiedliche Identität (z. B. ärmer und wohlhabender, „oben" und „unten"), Image, Profil,

  • unterschiedliche Größe (in kleineren / mittleren Städten einige tausend, teilweise unter 1000; in der Großstadt Größe einer Mittelstadt),

Was ist das Gegenteil von Stadtteil: Stadtzentrum oder Siedlung?

 

3.2. Entwicklungen in den Stadtteilen

Die Entwicklungen in den Stadtteilen entsprechen einerseits denjenigen der Städte – sie sind ja Teile der Städte.

Idealtypisch ist der Stadtteil der Ort, wo man aufgewachsen ist, die Schule besucht, arbeitet, einkauft, seinen Freundeskreis hat, in Vereinen o.ä. engagiert ist, die öffentlichen Einrichtungen und sonstige Dienstleistungen nutzt, der Ort, mit dem man sich identifiziert, dem man sich zugehörig fühlt.

Für die Ortsgebundenen ist der Stadtteil nach wie vor der Raum, auf den sie existenziell angewiesen sind (Kinder, nicht motorisierte Hausfrauen, Ältere). Für immer mehr Menschen sind aber Wohnort, Arbeitsort, Ort der sozialen Beziehungen, der Teilnahme am kulturellen Leben, der Zugehörigkeit nicht mehr identisch. Für die Mobilen ist die Verbindung zum Stadtteil eine Option unter anderen.

 

3.3. Bedeutung des Stadtteils

Andererseits gibt es ein (wachsendes?) Bedürfnis nach dem Lokalen. Für die wiedererkannte Bedeutung der Stadtteile spielen eine Rolle:

  • konkrete Verankerungen: Wohnung, Beziehungen im Quartier, Arbeitskontakte, Einkaufen und sonstige Dienstleistungen, Freizeitaktivitäten, Kindergarten- oder Schulbesuch der Kinder, Bürgerengagement in Kirche, Vereinen oder neuen Formen, Bürgerrechte und -pflichten, Betroffenheit von kommunalpolitischen Entscheidungen, Einbindung in formelle und informelle Informations-/Kommunikationsstrukturen – und Teilnahme an Bildung und Kultur (auch Stadtteilbücherei),

  • kurze Wege – Dichte und Vielfalt der Beziehungen: Stadtteil als Raum der Alltagsorganisation, das Quartier als lokale Mikrowelt, in der vieles in der Nähe, um die Ecke, auf dem Weg erledigt werden kann, der home range / Aktionsradius (wichtig: Nähe, Wegeketten, Knotenpunkte, Möglichkeit, unterschiedliche Erledigungen miteinander zu verbinden), das Alltägliche und Normale im Gegensatz zum „in die Stadt"-Gehen, Flanieren in den schön hergerichteten, auf Konsum orientierten Zentren,

  • Stadtteil als kommunikatives Milieu (vgl. Begriffe wie Kiez/Berlin, Veedel/Köln), als Netzwerk vielfältiger gegenseitiger sozialer Beziehungen, die aufgrund von Gewohnheiten und auch „beiläufigen" Kontakten als selbstverständlich und verlässlich erscheinen; Milieus helfen Menschen, die sie umgebende gesellschaftliche Komplexität zu bewältigen, diese auf eine alltäglich fassbare soziale Welt zu reduzieren,

  • Stadtteil als Handlungsfeld für zivilgesellschaftliche Verantwortung: Viele Menschen sind bereit und interessiert, sich für das Gemeinwesen zu engagieren und einzusetzen – freilich nicht nur „für Gotteslohn" und auf Lebzeiten, sondern auf absehbare Zeit, mit konkretem Nutzen, auch für sie selber; sie handeln besonders dann, wenn ihnen etwas im wahrsten Wortsinne nahe geht. Nur als Gedankenspiel: Was wäre, wenn die Stadtteile die Möglichkeit hätten, über alle sie betreffenden Angelegenheiten selber zu entscheiden?

  • Stadtteil als Stadt: Die vielfältigen Beziehungen im Stadtteil sind dennoch in einer gewissen Weise anonym und distanziert – im Unterschied zur Nachbarschaft, wo jeder jeden kennt, eine enge soziale Kontrolle herrscht, Fremde erst einmal auf Misstrauen stoßen. Ein Stadtteil muss auch für Außenstehende etwas bieten, Publikum von anderswo anziehen, gesamtstädtische Aufgaben haben. Ein richtiger Stadtteil ist nicht selbstgenügsam, hat nicht nur Stadtteileinrichtungen für die Bewohner des Stadtteils. Die Stadt lässt sich eher als Ansammlung vieler interessanter Quartiere betrachten und weniger als kompakte und homogene Metropole. Das heißt, dass jeder Stadtteil eigentlich eine Stadt sein muss mit allem, was dazugehört, und einem einzigartigen Charakter, der Grund gibt, ihn aufzusuchen. Dazu gehört auch, dass jeder Stadtteil gleichermaßen Anteil an dem immer noch schwierigen und zunehmend wichtigen Integrationsgeschäft erbringen müsste: von Kindern und Älteren, Arbeitslosen und sonstwie von der Norm Abweichenden – und allen Menschen anderer Herkunft.

Vielleicht ist die Sehnsucht nach dem „Zurück in die Stadt" in Wirklichkeit die Sehnsucht nach dem Stadtteil, wo man auf kurzem Wege möglichst viel erledigen kann, wo man die Leute kennt und gekannt wird, ohne eingezwängt zu sein, einem Ort, wo man hingehört und wo man konkret verankert ist – auch oder gerade in globalen Netzen und immer komplexer, unüberschaubarer werdenden Verhältnissen.

 

4. Lebenslanges Lernen – Der Stadtteil als Lern-Netzwerk

4.1. Lebenslanges Lernen

Zur wachsenden Bedeutung des Lebenslangen Lernens einige Belege:

  • Der frühere Bundespräsident Herzog bezeichnet Bildung als Megathema der Gesellschaft,

  • die Bildungsminister der OECD-Länder erklären 1996 Lifelong learning for all zum Ziel ihrer künftigen Bildungspolitik,

  • die UNESCO-Weltkonferenz in Hamburg 1997 verabschiedet eine Deklaration zum Lernen im Erwachsenenalter,

  • weltweit verstehen sich Städte als learning oder educating cities / communities,

  • neue Förderprogramme haben Lernende Regionen (BMBF) und Lebenslanges Lernen (BLK) zum Ziel.

Zu den Gründen dieser Bedeutung einige Stichworte:

  • Wissen-/Informationsgesellschaft: Schaffung von Reichtum durch Schaffung und Verbreitung von Informationen, immer schneller überholtes Wissen,

  • Abschied vom Normal-Arbeitsverhältnis als unbefristetes abhängiges Vollzeit-Arbeitsverhältnis an einem festen Ort,

  • entscheidende Bedeutung der Humanressourcen als Potenzial an nutzbarem und wertvollem Wissen und Qualifikationen, das durch Erfahrung und Schulung entsteht,

  • Pluralisierung (unterschiedliche Lebensentwürfe, Systeme, Optionen, Stile) und Individualisierung (Wahlmöglichkeiten und -zwänge in Bezug auf soziale Zugehörigkeit, Orte, Lebenswege, Zeiten; Mobilität),

  • Globalisierung: weltweite wirtschaftliche und soziale Beziehungen, Vernetzung aller mit allem, für alle wichtig: internationale Qualifikationen,

  • Komplexität: Überfülle und Interdependenz / wechselseitige Zusammenhänge der Informationen und Handlungsmöglichkeiten,

  • Entgrenzung des Lernens: keine Monopolstellung der Lerninstitutionen, Lernen kann überall, auch informell, beiläufig stattfinden.

 

Einigkeit herrscht darüber, dass Lebenslanges Lernen nicht einfach als Verlängerung des schulischen Lernens zu denken ist, das an bestimmte Lernräume und
-zeiten gebunden ist, auf einem klaren Wissens- und Kompetenzgefälle zwischen Laien und Profis beruht, in homogenen Lerngruppen stattfindet, pädagogisch definiert, in „Fächer" sortiert und portioniert ist, linear und lehrgangsartig verläuft und als Lernen „auf Vorrat" klar getrennt ist von Arbeit, dem „Ernstfall" und damit auch einem konkreten öffentlichen Nutzen.

Lebenslanges Lernen bedeutet auch eine Veränderung des Lernens: in Bezug auf die zu erwerbenden Qualifikationen, die Lernorte, Zeiten, Methoden, die Rollen der Beteiligten, das Verhältnis von Arbeiten und Lernen, die eigene Verantwortlichkeit für Lernprozess und Ergebnisse (selbstgesteuertes Lernen).

Es gibt nicht mehr die Station im Lebenslauf, zu der man – wie bisher z. B. nach Abschluss einer Lehre – behaupten kann „Ich habe ausgelernt". Aus- und Fortbildung, Zeiten bezahlter Arbeit, Eigenarbeit und Bürgerarbeit werden sich stärker abwechseln und überlagern (vgl. O. Giarini/P.M. Liedtke, Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome, 1997).

 

4.2. Stadt(teil) als Lern-Netzwerk

Bildungseinrichtungen sind vor vielen Jahrtausenden dezidiert in den Städten entstanden: Zum Lernen geht man in die Stadt. Andererseits ist die Stadt mit ihrer Vitalität, ihrem Umtrieb, ihren Versuchungen, ihrer Vielfalt und Dichte an Menschen, Aktivitäten, Lebensweisen und Kompetenzen immer wieder interessanter als die Schule und andere Bildungseinrichtungen.

Stadt und Lernen sind unauflöslich miteinander verknüpft. Die meiste Zeit waren Bildungseinrichtungen eng – auch räumlich – in die Stadt eingebunden. Erst im Zuge der städtebaulichen Aufgliederung, die jeder einzelnen Nutzung und Funktion getrennte Bereiche zuweist, hat sich das Lernen aus der Stadt entfernt. Zunehmend sind Bildungseinrichtungen nicht mehr zugänglich und einsehbar, sondern in eigenen Bereichen vom Umfeld abgeschottet.

Wer welchen Zugang zum Lernen hat, ob es Einblicke ins Lernen gibt, ob Lernen und Lehren öffentliche Aufmerksamkeit und Wirkung hat, hängt ganz wesentlich von der räumlichen Organisation ab: Von der Gestaltung einzelner Gebäude bis hin zu den Stadtstrukturen.

Die erste Konsequenz ist daher, sich wieder um den Kontakt zwischen Bildungseinrichtungen und Stadt/teil zu kümmern: durch Zugänge an allgemein benutzten Wegen, so dass viele im Zuge alltäglicher Erledigungen dort vorbeikommen; durch neugierig machende Einblicke; durch Öffnung für die Bedürfnisse und Aktivitäten des Stadtteils; durch konkret wahrnehmbaren Nutzen und Engagement für das Städtische und Aufmerksamkeit für neue Synergien zwischen Wirtschaften und Lernen.

Es geht aber nicht nur um „mehr desselben", um nur neue Lerninstitutionen und Spezialisten. Mein Plädoyer ist, Stadt und Stadtteil als ein Lern-Netzwerk zu verstehen, das ein breites Spektrum an auch informellen Lerngelegenheiten umfasst und aus dem jede und jeder sich sein eigenes „Curriculum" zusammenstellen kann.


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Stadt(teil) als Lern-Netzwerk

 

 

 

Lernorte:

Unentdeckte Lernorte

  • Arbeitsstätten
  • öff. Einrichtungen
  • Stadtteileinrichtungen
  • Kultur-Orte

Mehrzweckorte mit Lernangeboten
Lernen als Markt – private Anbieter

Bildungseinrichtungen und ihr Kontakt zum Stadtteil

Third places: neue Modelle für Lernorte

Lernen, wo die Zeit lang wird

Lernen mobil

Lehren und Lernen in der Öffentlichkeit

Beiläufiges Lernen: Wie man zum Lernen kommt:
Lernen im öffentlichen Raum
Straßen und Plätze
Kristallisations- und Treffpunkte
Einblicke und Zugänge

 

 

 

 

 

Wege
Stadtrundgänge, -fahrten,
-erkundungen
Lernparcours

Grenzüberschreitungen

Verknüpfungen
Lernstadtplan
Lernmarkt, Lernfest
Lernläden, LLL-agencies, Wissens- /Expertenbörsen

 

 

 

 

 

Zeiten:
Tageszeiten
Wochentage
Jahreszeiten
Lebenszeiten
Alltag und Fest

Lernsituationen
ungewohntes Lehrpersonal
neue Lerngruppen
Arbeitsformen
Alle wollen und können lernen

Sinneserfahrungen

Medien
Zeitung
Rundfunk: lokales Radio und TV
elektronische Medien, Internet

Dies beginnt beim „beiläufigen" Lernen im öffentlichen Raum: Als nicht zweckbestimmter, für alle gleichermaßen zugänglicher Raum des Austauschs und der Begegnung ist er der Ort der Auseinandersetzung mit Neuem, Fremdem, Ungewohntem, auch der Ort, an dem die Regeln des zivilen öffentlichen Umgangs immer wieder neu erworben werden; der Ort, an dem alle mit einer Vielfalt von Menschen, Aktivitäten, Nutzungen in Berührung kommen.

Zu diesem Netzwerk gehören ferner Lernorte, die zu einem guten Teil noch unentdeckt sind: Arbeitsstätten – Werkstätten, Betriebe, Läden, Ateliers, vielfältige Dienstleister –, öffentliche Einrichtungen wie Rathaus, Polizeiposten und Feuerwehr; Stadtteileinrichtungen vom Kinderladen bis zum Bürgerzentrum; Kulturorte – wie Theater, Konzerthaus oder Museum, die sich durch öffentliche Proben, Workshops oder Projekte für die Öffentlichkeit öffnen. Mehrzweckorte mit Lernangeboten, bei denen Lernen ein Teil des Programms ist: Altenbegegnungsstätte und Mädchentreff, Stadtbücherei und internationale Vereine. Private Anbieter, die Lernen und Lehren als Markt organisieren. Und natürlich ebenso die Bildungseinrichtungen im engeren Sinne mit Kontakt zum Stadtteil. Es gibt neue Modelle für Lernorte, die sich nicht nur am Modell des Klassenzimmers orientieren, sondern etwa auch an dem des Cafés (wie Internet- oder Philosophiecafés), des Kaminzimmers, des Salons, der Kneipe, der Werkstatt oder des Ladens. Zu denken ist an Lernen an Orten, wo die Zeit lang wird – im Wartezimmer oder Wartezonen, auf dem Bahnhof oder im Zug; an mobile Angebote, die zu den Menschen kommen; an Lehren und Lernen in der Öffentlichkeit – und an Ansätze, wo die ganze „Stadt als Schule" aufgefasst und genutzt (und auf herkömmliche Lernräume verzichtet) wird.

Zu diesem Netzwerk gehören auch andere Zeiten für das Lernen, nicht nur die hierfür traditionell vorgesehenen: Tageszeiten wie Frühstückstreff, Lern-Aperitif oder Bildungsnacht; Wochentage wie Marktgespräche oder Sonntags-Matinee; Jahreszeiten wie Frühjahrsakademie, Sommerschule oder Winternachts-Angebote; natürlich alle Lebenszeiten; Alltag ebenso wie die Erfahrung, dass man Lernen auch feiern kann.

Ferner neue Lernsituationen: Ungewohntes Lehrpersonal wie Kinder, Jugendliche, Flüchtlinge, Ältere; neue Lerngruppen, alters-, kultur-, berufs- und hierarchieübergreifend zusammengesetzt; neue Arbeitsformen, vor allem solche, die Anschluss an die Arbeitswelt schaffen, wie Jobs, Praktika, Werkstätten; es gibt zahlreiche Beispiele dafür, dass alle lernen wollen und können, sogar die von der Gesellschaft schon Aufgegebenen.

Dieses Netzwerk lässt sich durch unterschiedliche Wege erschließen: temporär wie bei Stadtrundgängen, -fahrten, -erkundungen und -rallyes oder dauerhaft in Form eigener Lernparcours.

Es braucht sich nicht auf die eigene Stadt zu beschränken, sondern kann und sollte Grenzen überschreiten: interkulturelles Lernen vor Ort, das die vielen in einer Stadt vorhandenen Kompetenzen (z. B. von Menschen anderer Muttersprache) nutzt, und in gemeinsamen Projekten, in wirklicher Zusammen-Arbeit mit Partnerstädten.

Und es lässt sich schließlich erschließen und unterstützen durch Angebote und Orte, die Verknüpfungen herstellen: der Lernstadtplan, der die Lernmöglichkeiten sichtbar macht; Lernmarkt und Lernfest, die das Lernen in die Öffentlichkeit tragen; Lernläden, lifelong learning agencies, Wissens- und Expertenbörsen in bürgerschaftlicher Trägerschaft, die Orientierung und Beratung anbieten und unterschiedliche Nachfragen und Kompetenzen zueinander vermitteln.

 

Konsequenzen für die Stadtteilbüchereien

Stadtteilbüchereien sind ein (Lern-)Ort, den man freiwillig aufsucht und der nicht auf lehrgangsartiges Wissen und eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe festgelegt ist. Darin liegt ihre große Chance. Sie können zur Verankerung der Menschen in „ihrem" Stadtteil beitragen. Sie bieten ein kommunikatives Milieu, wo man auch „allein unter Menschen" sein kann.

 

Sie sind Bibliotheken im Stadtteil, die einen konkreten Ort haben, in der Nähe sind, auf dem Weg liegen. Sie können konkrete Dienstleistungen für den Stadtteil übernehmen in der Kooperation mit Schulen und außerschulischen Angeboten (im Rahmen der aktuellen Öffnung der Schulen; „Vaihinger Modell"), Volkshochschulen, Theatern, Museen, Betrieben und Geschäften, bürgerschaftlichen Initiativen (Lernen durch Bürgerengagement und Lernen als bürgerschaftliche Aufgabe), Vereinen (auch ausländischen), kommunalpolitischen Gremien. Als Bücherei des Stadtteils können sie der Ort seiner Erinnerung und Selbstverständigung, der Auseinandersetzung mit seinen aktuellen Fragen und Problemen, des konkret auf den Stadtteil bezogenen Lernens sein. In dem Lern-Netzwerk können Stadtteilbüchereien ein wichtiger Knotenpunkt sein oder gar zum Initiator werden.

Anknüpfend an den zu Anfang skizzierten Szenarien lässt sich in fast jedem etwas Richtiges finden:

 

  • Wer bloß zu einem Buch kommen will, braucht dazu nicht unbedingt eine Stadtteilbücherei. Der Besuch dort ist mehr als ein zweckrationaler Vorgang. Viele Beispiele zeigen, was um das Lesen herum inszeniert werden kann. Allerdings sind es vielleicht gar nicht die events, die spektakulären Ereignisse, auf die es ankommt, sondern manchmal einfach die menschliche, anregende, spannende Begegnung, der angenehme Aufenthalt, die Möglichkeit zum Rückzug, die Qualität des Angebots.

  • In Sachen Dienstleistungsorientierung sind Büchereien weiter als viele andere städtische Dienststellen. Das, was man will, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und auf dem richtigen Weg zu bekommen, freundlich und entgegenkommend behandelt zu werden und zu erleben, dass man sich meiner Bedürfnisse wirklich annimmt, nicht von einer Stelle zur anderen geschickt zu werden, sondern mehreres aus einer Hand zu bekommen, sind berechtigte Erwartungen. Kunden haben unterschiedliche Bedürfnisse – möglichst zeitsparende Abwicklung oder umfassende Zuwendung, sich selbständig umschauen, möglichst wenig behelligt werden oder die Suche nach Ansprache, Mittellosigkeit oder die Bereitschaft, durchaus etwas auszugeben. Angesichts der Zahl der Neuerscheinungen und lieferbaren Bücher und überhaupt in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt wird das Bedürfnis nach Orientierung und Beratung sicher zunehmen.

  • Die elektronischen Medien haben die Informations- und Kommunikationsweisen und -möglichkeiten der Menschheit revolutioniert wie bisher wahrscheinlich nur der Buchdruck mit beweglichen Lettern. Sie haben aber bisher das Buch nicht verdrängen können. Es geht darum, Bücher und elektronische Medien intelligent miteinander zu kombinieren.

  • Wirtschaftlichkeit durch ein betriebswirtschaftliches Haushalts- und Rechnungswesen, professionelles Management sind eine Anforderung auch an (Stadtteil-)Büchereien. Die Frage nach dem Verhältnis von Kosten und Leistungen darf auch bei Bildung und Kultur kein Tabuthema sein. Steuerzahler- und Bürgerinnen haben einen Anspruch darauf zu wissen, was mit ihren Geldern geschieht, sie wollen „value for money" – einen Gegenwert fürs Geld. Auch eine Bücherei muss heute mit fundierten Zahlen Auskunft geben können, was sie konkret leistet, was ihre Leistungen im einzelnen kosten, ob sie nicht anders wirtschaftlicher oder besser erbracht werden können, wie sie im Vergleich mit anderen Städten steht.

  • Die Frage ist dringlich: Was kann die private Wirtschaft erledigen, was der sogenannte „dritte" (bürgerschaftliche oder non-profit-) Sektor, und was muss „der Staat" oder „die Stadt" leisten? Wie kann eine sinnvolle Verantwortungsteilung aussehen? Bei den wesentlichen Aufgaben der öffentlichen Hand dürfte eines unstrittig sein: allen Bürgerinnen und Bürgern gleichen Zugang zum verfügbaren Wissen und den öffentlichen Leistungen zu schaffen. Angesichts der Zahlen der Analphabeten, der horrenden Ausgaben für Nachhilfe und der fest eingeplanten Tätigkeit der Mütter als Hilfslehrerinnen kann man behaupten, dass der öffentliche Bildungsauftrag der Schulen nach wie vor nicht eingelöst ist. Lesen und Schreiben sind immer noch die wichtigsten Schlüsselqualifikationen – im wahrsten Sinne des Wortes: Wer nicht gut und gewandt lesen und schreiben kann, dem bleibt die Welt verschlossen.

  • In diesem Zusammenhang ist auch nach dem Verhältnis der öffentlichen Büchereien zur privaten Wirtschaft und zu bürgerschaftlichem Engagement zu fragen. Sind die Buchhandlungen eher eine unerwünschte Konkurrenz oder gleichsam natürliche Kooperationspartner, die das gemeinsame Interesse haben, das Interesse am Lesen lebendig zu erhalten? Sind die Menschen in der Stadt oder im Stadtteil nur Kunden, die es bestmöglich zu bedienen, zu versorgen oder zu betreuen gilt, oder selbstverantwortliche Bürgerinnen und Bürger, die auch ihren Anteil an der Leistungserstellung haben? Ist uns die Kooperation mit Freiwilligen willkommen, oder betrachten wir sie eher als Störenfriede oder höchstens als Hilfskräfte, wenn es mal irgendwo klemmt? Auch in der Verwaltungsreform hat sich das Leitbild mittlerweile erweitert: Von der Behörde zum Dienstleistungsunternehmen zur Bürgerkommune.

  • Und schließlich: Kann sich eine Verwaltung ändern? Wer immer Veränderungen angehen will, tut gut daran, sich auch mit den Schwierigkeiten zu beschäftigen, auf die jede Innovation stößt. Es gibt (einige) Befürworter und Promotoren, eine große Zahl von Unentschiedenen, und eine – kleine, aber meist gewichtige – Zahl an Bremsern, die nicht immer offen auftreten, sondern oft auch im Untergrund agieren. Jede Organisation tendiert als selbstreferenzielles System dazu, sich selbst – so wie sie ist – zu erhalten, immer wieder selbst zu bestätigen, Neues auszublenden und neue Anforderungen an andere zu delegieren. Wer Änderungen durchsetzen will, hat in der Regel eine konkrete Vorstellung von den Inhalten. Man braucht darüber hinaus aber auch eine Strategie zur Umsetzung.

  • Aber: Veränderung ist kein Selbstzweck. Es gibt über alle Veränderungen und möglichen Szenarien hinweg eine Neugier auf Neues, eine Lust am Lesen und am Text, die sich in allen möglichen Situationen und oft auch bei denjenigen zeigt, von denen man sie nicht erwarten würde.

 

Eine wesentliche Chance und Aufgabe der Stadtteilbüchereien besteht darin, Zugänge zu schaffen: zum gesammelten Wissen, zum Stadtteil, zur Welt.

Dazu zum Abschluss Jeremy Rifkin (Access. Das Verschwinden des Eigentums, 2000): „In dieser Welt hat nichts Bestand. In einer Ökonomie, deren einzige Konstante der Wandel ist, macht es wenig Sinn, bleibende Werte anzuhäufen... Netzwerke treten an die Stelle der Märkte, Verkäufer und Käufer werden zu Anbietern und Nutzern, und was bislang käuflich war, wird 'zugänglich'. Zugang, Zugriff, 'Access' sind die Schlüsselbegriffe des anbrechenden Zeitalters".

Näheres zu Punkt 4: Steffen, Gabriele: Bürger-Lernen. Die Stadt als Fundament der Lerngesellschaft. In: Bundesministerium für Bildung und Forschung: Weiterbildungsinstitutionen, Medien, Lernumwelten. Rahmenbedingungen und Entwicklungshilfen für das selbstgesteuerte Lernen. Hrsg. von Günther Dohmen. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung 1999, S. 269-329.