Ein Ergebnis des Projekts Individualisierung und Flexibilisierung von Lernprozessen in der beruflichen Bildung - EUROPOOL

Rosemarie Klein, Marita Kemper

1. Eckdaten des Projekts

Die Lernberatungskonzeption wurde im Frauenqualifizierungs-Projekt ‘EUROPOOL - Individualisierung und Flexibilisierung von Lernprozessen in der beruflichen Bildung’ entwickelt, erprobt, evaluiert und dokumentiert.

Träger dieses Projektes war die Akademie für Jugend und Beruf e.V., Hattingen in Kooperation mit der VHS Witten-Wetter-Herdecke. EUROPOOL wurde als herausgehobenes Vorhaben aus Mitteln der Europäischen Union und des BMBF gefördert. Das Projekt wurde von einem wissenschaftlichen Beirat kritisch-konstruktiv begleitet.

Das Projekt hatte eine Laufzeit von 1. Juni 1995 - 31. Dezember 1997. Die ½-Stelle der Wissenschaftlichen Begleitung wurde zum 15. Februar 1996 besetzt. Projektleitung: Birgit Klein. Wissenschaftliche Begleitung: Rosemarie Klein. Pädagogische Koordination: Marita Kemper.

Das EUROPOOL-Individualisierungsprojekt - wie wir es kurz nannten - bildete die pädagogische Klammer und wissenschaftliche Begleitung verschiedener beruflicher Weiterbildungsmaßnahmen im kaufmännischen Bereich mit Frauen (diese waren ESF/Ziel II finanziert). Das somit existierende ‘Projektbündel EUROPOOL’ wendete sich an Frauen ohne anerkannten Berufsabschluß (Ausbildungs- und Studienabbrecherinnen) und an Berufsrückkehrerinnen. Im Blick auf die unterschiedlichen Voraussetzungen, Qualifikationen und Kmpetenzen, die die Frauen einbrachten und orientiert an den prognostizierten regionalen Qualifizierungsbedarfen bündelte EUROPOOL Qualifizierungsmaßnahmen mit unterschiedlichen Zielen, die von der Anpassungsqualifizierung in den Bereichen EDV und Fremdsprachen, mit der Möglichkeit des Erwerbs anerkannter Zertifikate bis zur Umschulung zur Industriekauffrau mit IHK-Abschluß reichten.

2. Projektbedingter Entstehungshintergrund der Lernberatungskonzeption Lernberatung

Diese Heterogenität hinsichtlich der Lernvoraussetzungen, -interessen, -ziele, -tempi der Frauen haben wir bei der Auswahl der Teilnehmerinnen positiv in Kauf genommen, im Wissen um die Normalität von Heterogenität in der Erwachsenenbildung und in der Annahme, daß die vorgesehenen Lernformen und -arrangements - selbstgesteuertes Lernen in sozialen Kontexten, fremdorganisiertes Lernen in Abstimmung mit selbstgesteuerten Lernphasen - Voraussetzungen und Chancen für eine Individualisierung und Flexibilisierung von Lernprozessen bieten würden. EUROPOOL hat sich dabei zunächst in Fragen des Lernarrangements und der Methodenwahl weitgehend an in Modellversuchen und Projekten entwickelten und bewährten Instrumenten orientiert und diese auf die Zielgruppe und Rahmenbedingungen des Projektes hin gebündelt und transferiert. Es zeigte sich jedoch schnell - und im Projektverlauf durchaus schmerzvoll - daß das intelligente Verknüpfen von vorliegenden Ansätzen, Methoden und Instrumenten nicht ausreicht, wenn es nicht in ein von allen Beteiligten getragenes pädagogisches Gesamtkonzept eingebettet ist. Den Beginn der Tätigkeit der Wissenschaftlichen Begleitung markierte ein ‘Organisationsentwicklungsprozeß EUROPOOL’, in dessen Ergebnis Wege zur Entwicklung und Erprobung einer pädagogischen Konzeption zum Verfolgen der Projektziele ‘Individualisierung und Flexibilisierung von Lernprozessen’ verabschiedet wurden. Das war die Geburtsstunde von ‘Lernberatung’ (nähere Informationen siehe Kemper/Klein: Lernberatung Baltmannsweiler 1998, S.62-75)

3. Multiplikation/Transfersicherung der Ergebnisse

Das EUROPOOL-Projektebündel ist seit Ende 1997 abgeschlossen. Zur Transfersicherung der Projektergebnisse, vor allem der entwickelten, erprobten und evaluierten Konzeption von Lernberatung haben wir mehrere projektinterne Dokumente erstellt, im laufenden Prozeß an Interessenten verteilt und schließlich - nach Laufzeit des Projektes - auf Empfehlung unseres Beirates und aufgrund der positiven Resonanzen im Projektumfeld, unser Konzept, seine didaktisch-methodische Umsetzung sowie die Chancen und Grenzen der Umsetzung, auf die wir gestoßen sind, in einer ordentlichen Publikation aufbereitet.

Eine Ergebnispublikation ist erfahrungsgemäß jedoch nur ein Weg der Multiplizierung und Transfersicherung. Hinzu kommt, daß der Projektträger ‘Akademie für Jugend und Beruf e.V.’ (ajb) die Verbreitung der Ergebnisse über eine Veröffentlichung hinausgehend nach offiziellem Projektende nicht mehr gewährleisten konnte. In Abstimmung mit der Geschäftsführung der ajb übernahmen wir die Weiterentwicklung und Multiplizierung der Lernberatung im Rahmen unserer Aktivitäten im ‘bbb Büro für berufliche Bildungsplanung’, einem Zusammenschluß freiberuflich tätiger ErwachsenenbildnerInnen. Seit Januar 1998 führen wir Seminare und Trägerberatungen zur Lernberatung durch, bauen Kontakte und Kooperationen mit inhaltlich vergleichbaren Intentionen folgenden Projekten und Institutionen auf (Z.B. Kooperation mit dem Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest, dem Deutschen Institut für Erwachsenenbildung, der Neue Arbeit Saar GmbH u.v.m.).

3. Kurzskizze: Lernberatung - Gestaltung von Lernprozessen in der beruflichen Weiterbildung

Die Organisation und Didaktisierung der Ziele Individualisierung und Flexibilisierung von Lern-/ Lehrprozessen in der beruflichen Erwachsenenbildung war zentraler Auftrag des Qualifizierungsprojektes EUROPOOL. Das Ergebnis der Entwicklungs- und Erprobungsphasen trägt den Namen Lernberatung. Dahinter verbirgt sich eine Konzeption beruflicher Weiterbildung, die Antworten auf die Anforderungen des lebenslangen selbstgesteuerten Lernens aus der Sicht der institutionalisierten Weiterbildung gibt. Lernberatung steht für Organisationsformen, Gestaltungselemente, Methoden und Instrumente, die darauf basieren und es ermöglichen, das lernende Individuum mit seinen Lerninteressen, Lernzielen und seinen lernbiographisch erworbenen Lernhaltungen zum Ausgangspunkt der didaktisch-methodischen Überlegungen zu machen. Dabei wird selbstgesteuertes Lernen in soziale Kontexte eingebunden und mit organisiertem Lernen verbunden.

Unser zugrundeliegendes pädagogische Prinzip und Verständnis von Lernen, die daraus resultierenden Anforderungen an die Lernenden, Bildungsträger und pädagogisches Personal werden wir in Kürze skizzieren.

Selbstgesteuertes Lernen gilt aktuell als die angemessene Antwort der Weiterbildung auf die rasanten gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungsprozesse. Dabei wird in der bildungspolitischen Debatte nicht selten der Eindruck erweckt, Erwachsene verfügten selbstverständlich über die notwendigen Potentiale und Erfahrungen, die selbstgesteuertes Lernen erfordert. Im selbstgesteuertem Lernen geht es u. E. darum, die Strukturmerkmale von Lernen ‘selbst’ kompetent zu gestalten. Dazu gehört es u.a. Lernziele zu formulieren, Lernen in Lernschritte zu unterteilen und eine Auswahl von Lernwegen zu treffen . Diese Lernkompetenz der Lernenden zu aktivieren, zu fördern und zu fordern ist in unserem Verständnis ein Ausgangspunkt didaktisch-methodischer Planung. Lernen lernen wird im Kontext der Lernberatungskonzeption mit fachlichem Lernen verzahnt und selbstgesteuerte Lernelemente in soziale und organisierte Lernangebote integriert. Hans Tietgens hebt in seinem Vorwort zum Lernberatungsbuch hervor: „Es dürfte das bedeutsame des hier vorgelegten Projektberichtes sein, das Fadenscheinige dieser Kampagne (Propagieren des selbstgesteuertem Lernen) aufgedeckt und die Möglichkeiten des individualisierten Vorgehens in Verknüpfung mit organisiertem Lernen aufgezeigt zu haben."

Die Lernberatungskonzeption versucht Lernen und Lehren neu auszubalacieren. Lehren wird nicht nebensächlich oder gar überflüssig, sondern wird mit den Selbstorganisationspotentialen der lernenden Individuen verknüpft. Die Lernenden übernehmen Verantwortung für die Planung des Lern-/ Lehrprozesses, sie gestalten und entscheiden aktiv mit. Die LernerInnen werden mit ihren Voraussetzungen, Interessen, Zielen und eigenen Lernwegen systematisch wahr- und ernstgenommen. Die Fokussierung auf Lerninteressen ist dabei nicht Ausdruck einer ausschließlichen Orientierung an der Bedürfnisstruktur. Es geht vielmehr darum eine Balance zwischen berufsfachlichen und persönlichen Lernzielen zu finden. Denn dies ist eine Voraussetzung für eine selbstgesteuerte Gestaltung von Lernwegen.

Kernstück der Lernberatungskonzeption ist die zugrunde liegende pädagogische Haltung; an ihr macht sich die Herausforderung an Lehrende fest. In Anlehnung an Hans Tietgens steht bei der Lernberatung Subjektorientierung und das Selbstverständnis der Mündigkeit von erwachsenen Lernenden im Zentrum.

Diese Grundhaltung findet in folgenden didaktischen Prinzipien ihren Ausdruck, die wir als aktuelle Differenzierung des Leitprinzips der TeilnehmerInnen-Orientierung verstehen:

Biographiebezug
Jeder Lernprozeß hat eine Lebensgeschichte, bezieht sich also auf eine lebendige Erfahrungen der eigenen Biographie. Eine Auseinandersetzung mit den zurückliegenden Lernerfahrungen und ihre Verarbeitung in das Selbstkonzept von Lernen ist notwendige Voraussetzung, das Lernen aktiv (mit)zu gestalten. Es geht dabei um die Entdeckung von verborgenen Ressourcen und um die Frage, welche Fähigkeiten weiterentwickelt werden können, welche ungelebten Leben ausgeschöpft werden können.

Kompetenzorientierung
Lernen im Verständnis der Lernberatungskonzeption setzt bei den Fähigkeiten der LernerInnen und nicht bei den Schwierigkeiten und Defiziten an. Die Lernprobleme und -schwierigkeiten sind auch Gegenstand der Arbeit, sie bilden jedoch nicht den Ausgangspunkt des Lernens. Ein Bewußtsein über die eigenen Fähigkeiten ist Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung für den eigene Lernprozeß.

Sicherung von lern- und lebensbiographischer Kontinuität
Diese Prinzip ist eng verbunden mit der Kompetenzorientierung. Lernen in der Kontinuität der bisherigen Lebens- und Berufserfahrung ist Voraussetzung um etwas Neues zu lernen. Altes Wissen wird mit Neuen verbunden. Lernbereitschaft und Lerninteressen in den Zusammenhang von zukünftiger beruflicher Handlungskompentenz zu stellen und zu Lernzielen zu konkretisieren gelingt dann, wenn das Individuum sich in seiner Kontinuität erfährt.

Reflexionsorientierung
Reflexion von Lernerfahrung ist im Verständnis der Lernberatung Bestandteil von Lernen. Mit der Reflexion können Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in Verbindung gesetzt und auf die Wechselwirkung überprüft werden. Für den Lern-/Lehrprozeß heißt dies, daß die Lernziel mit der aktuellen Lernsituation in Beziehung gesetzt wird. In der Verzahnung von Selbstreflexion mit gemeinsamer Lernreflexion in der Lerngruppe entsteht die Dynamik von Lernen als interaktivem Prozeß.

Orientierung an den Lerninteressen
Wie bereits oben erwähnt, sind zentraler Ausgangspunkt für didaktisch-methodische Entscheidungen die Lerninteressen der Lernenden. Sie bilden Ausgangspunkt und Orientierung für Lernen, für die Ermittlung von Lernzielen und die Gestaltung von Lernwegen.. Orientierung an den Lerninteressen beginnt mit dem Schritt der Lernenden begründete Lerninteressen zu bestimmen und zu benennen. Dies sind die Potentiale für Selbstorganisation und aktive Steuerung von Lernprozessen.

Transparenz und Partizipation
Transparenz im Sinne einer Überschaubarkeit und Durchschaubarkeit des Lern-/Lehrgeschehens in Bezug auf Organisation, Inhalte, Methoden und medialen Möglichkeiten ist Voraussetzung für eine aktive Partizipation der Lernenden am Lernprozess. Transparenz ist auch erforderlich hinsichtlich der geplanten Unterrichtsangebote, der Angebote der einzelnen Lernabschnitte. Transparenz wird als didaktisches Prinzip immer in Abhängig von der Möglichkeit der Selbstorganisation und Selbststeuerung des Lernens im Rahmen des jeweiligen organisierten Weiterbildungsangebotes stehen.

Das Lernen beraten
Beratung steht in unserem Kontext als Beschreibung eines angereichertem Lehrbegriffs, der lehrendes pädagogisches Handelns mit seiner klassischen Funktion des Unterrichtens um den des Beratens erweitert. Damit werden die Lernprozesse nicht mehr primär aus dem Blickwinkel von den Lehrhandlungen heraus betrachtet, sondern im Mittelpunkt stehen die Lernhandlungen. Statt der Frage: Mit welchen Methoden kann ein Lehrender Wissen vermitteln und Kompetenzen fördern?, steht eher die Frage: Welche inneren und äußeren Bedingungen braucht eine LernerIn, damit er/sie sich Wissen erschließen oder seine Kompetenzen erweitern kann. Beratung ist eine Möglichkeit, diese Bedingungen im pädagogischen Alltag zu erfassen bwz. auch auszuhandeln.

Dieses führt zur Veränderung im Rollengefüge Lehrende-Lernende und in der Verantwortlichkeit der Bildungsträger. Die Lernenden übernehmen Verantwortung für ihr Lernen und entscheiden und gestalten aktiv mit. Lehrende wechseln in die Rolle des Berater und Begleiter von Lernprozessen. Ihre traditionelle Lehrfunktion als Wissenvermittler vermindert sich zugunsten der beratenden Förderung und Forderung der Selbstlernkompetenz. Die Verantwortung der Bildungseinrichtung liegt darin, Ressourcen bereit zustellen, mit den Lernenden in Interaktion zu treten und die Lerninteressen der Lernenden ernstzunehmen. Planungszeiträume werden kürzer, Situatives, Nicht-Vorhersehbares muß konstruktiv aufgegriffen und eingebunden werden, Kooperationen mit anderen Bildungsanbietern müssen aufgebaut und gepflegt werden.

Umsetzung in der Praxis
Vor dem Hintergrund der beschriebenen Leitprinzipien und dem zugrunde liegendem Verständnis von Lernen sind unter der Bezeichnung „Lernberatung" Elemente der Unterstützung des Prozesses entwickelt und erprobt worden.. Die Lernberatungskonzeption wurde in der Praxis von EUROPOOL zu einer pädagogischen Grundorientierung und steuerte in alle Bereiche der Lern-/Lehrplanung und ihrer Umsetzung hinein: Teiloffene Lernangebote und Wahlangebote, Differenzierung im Unterricht. Selbstgesteuerte Lernphasen, arbeiten mit multimedialer Lernsoftware.

Kernelemente der Lernberatungskonzeption sind jedoch

Reflexion, Transparenz von Lerninhalten und -zielen als Voraussetzung für die Partizipation der Lernenden an Stundenplan- und Unterrichtsgestaltung werden zu Planungsprinzipien von pädagogischem Handeln in allen Bereichen. Damit wird fremdgesteuertes Lernen durch selbstgesteuertes ergänzt und „Lernen lernen" zu einem zentralen Ziel und zur Aufgabe von Weiterbildung.

Lernberatung ist ein grundsätzlich offenes Konzept, dessen didaktisch-methodische Umsetzung sich in Abhängigkeit von Zielgruppe, Maßnahmetypus, Trägerressourcen usf. durchaus verschieden gestalten kann und soll. Grundlegend für Lernberatung ist die pädagogische Haltung, wie wir sie u.a. durch die pädagogischen Prinzipien als handlungsleitend dargestellt haben.

Kontakt:
büro für berufliche bildungsplanung
rosemarie Klein/marita kemper
penningskamp 12 a
44263 dortmund

Literatur: Marita Kemper/Rosemarie Klein: Lernberatung. Gestaltung von Lernprozessen in der beruflichen Weiterbildung;    Balmannsweiler 1998