Ekkehard Nuissl von Rein die_logo1a.gif (1181 Byte) April 1999


Die eigentliche Aufgabe der Erwachsenenbildung

Manuskript eines Vortrags bei der Jahreskonferenz des Arbeitskreises der großstädtischen Volkshochschulen, Mannheim 7. April 1999

"Es wird aber eine Zeit kommen, nach späten Jahren, da der Ozean die Fesseln der Dinge lösen wird, da die unermeßliche Erde wird offen liegen, da die Seefahrer neue Welten entdecken werden und dann wird Thule nicht mehr der Lande Äußerstes sein" – Seneca war Philosoph und Historiker, kein Prophet. Er hat aber recht behalten im Ergebnis, was die offengelegte Erde angeht und den Bedeutungsverlust von Thule als nördlichsten Punkt der bewohnten Welt.

Vermutlich hat er mehr recht behalten als er ahnte und als ihm vielleicht lieb gewesen wäre. Es gibt heute keinen Flecken dieser Erde mehr, der nicht im Äußeren erfaßt, vermessen, erkundet und von den Menschen angeeignet worden wäre. Die Zeit der Globalisierung ist zu allererst die Zeit der physischen Aneignung der Erde, erst dann diejenige der Vernetzung und Beschleunigung.

Die Ursache dieses Prozesses, da mag man Seneca eher hinterfragen, ging nicht vom Ozean selbst aus, der die Fesseln der Dinge löste. Es waren die Menschen, welche die Fesseln der Dinge lösten. Es waren die Seefahrer, die Händler, die Soldaten, die Politiker, die Wissenschaftler, die Arbeiter und Bauern und schließlich die Poeten, welche die Fesseln lösten. Im Großen und Ganzen, dies nur nebenbei, auch in dieser Reihenfolge. Vor allem aber waren es weißhäutige europäische Männer, die Senecas Prophezeiung erfüllten und mit der Natur und der Erde zusammen sich auch andere Menschen und Völker unterwarfen. Die Erfahrung der Herrschaft des Menschen über die Natur und die Erfahrung der Herrschaft des Menschen über die Menschen ist eine zu tiefst kollektive männliche Erfahrung aus der Zeit der Abenteuer, des Eroberns und der neuen Erkenntnisse.

Die Frage des Verhältnisses der Geschlechter ist heute zugleich eine wichtige und grundsätzliche gesellschaftliche Frage und zugleich Aufgabe der Weiterbildung. Erstaunlicherweise ist dies sogar in politischen Programmen nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch in europäischen Deklarationen festgelegt; es geht um das "Gender mainstreaming", schlicht darum, alle sachlichen, sozialen und individuellen gesellschaftlichen Tatbestände unter dem Aspekt zu würdigen, daß der Mensch zwei Menschen sind, die sich teilweise gleichen, teilweise aber auch unterscheiden. Nach meiner Auffassung gehört die Wahrnehmung, Akzeptanz und Bearbeitung der Zweigeschlechtlichkeit der Menschen zu den dringendsten Aufgaben von Bildung mit Blick auf eine zukünftige humane und gleichberechtigte Gesellschaft.

Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden schon dann deutlich, wenn es um die Vermittlung des Wissens über die neuen Welten und über deren Erforschung geht. Männer erobern Welten, unterwerfen sich die Natur, stellen produktiv Dinge her, aber sie pflegen und hegen nicht, vermitteln nicht, sind nicht pädagogisch tätig. Sie entwickeln vielleicht pädagogische Konzepte, leisten aber nicht die dauerhafte und alltägliche Vermittlungsarbeit. Wenn es um neues, verwertbares Wissen, um Hilfsmittel zur Beherrschung von Natur und Menschen geht, dann muß geforscht, entwickelt und konzipiert werden. Männliche Produktivität ist angesagt, nicht die immer wiederkehrende Reproduktion schon vorhandenen Wissens. Diese dürfen Frauen übernehmen.

Vermittlungsarbeit wurde und wird als weibliche Arbeit definiert. Zu unrecht übrigens: Nicht in der Familie, aber im Beruf und vielfältigen Feldern des Alltags waren und sind Männer lehrend tätig – allerdings ohne dies anzuerkennen und eigenständig zu qualifizieren. Vermittlungsarbeit könne nicht produktive Arbeit sein, keine neuen Erkenntnisse und damit auch keinen Fortschritt erzeugen. In gesellschaftlichen Systemen, in denen Fortschritt und Wachstum die entscheidenden Werte sind, können die reproduktiven Komponenten der Aneignung des Fortschrittswissens nur von nachgeordneter Bedeutung sein. Dies drückt sich auch in dem gesellschaftlich gültigen Meßsystem aus, im Geld. Produktive Arbeit, die Erzeugung von Fortschritt, Technik und Wissens, wird bezahlt und teilweise gut bezahlt, reproduktive Arbeit wird in den Bereich des Unproduktiven, Unbezahlten und Privaten verwiesen. Wir haben hier in letzter Zeit einen Wandel: Die Informations- und Wissensgesellschaft ist zu allererst eine Dienstleistungsgesellschaft, in der reproduktive Tätigkeiten unvermittelt in den Rang wertschöpfender Aktivitäten geraten. Vielleicht liegt hier die wesentliche ökonomische Wurzel der Umwertung des Verhältnisses von Männer und Frauen, wie wir sie aktuell vor allem in der Mittelschicht beobachten können.

Machen wir uns aber trotzdem nichts vor: Die Ziele unserer pädagogischen Arbeit sind nicht identisch mit den Hauptzielen der Gesellschaft, in der wir sie tun. Wir können froh sein, wenn sie nicht im Konflikt miteinander stehen. Aber wir können auch dazu beitragen, daß sie nicht im Konflikt miteinander stehen. Schon das Konzept der Aufklärung, eng verbunden mit dem Abstreifen der Fesseln der Ozeane, verfolgt ja nicht nur und vielleicht nicht einmal primär das Bildungsziel des "Sapere aude". Das Konzept der Aufklärung folgte grundsätzlich der Vorstellung, daß mehr Wissen und mehr Information verbunden seien mit gesellschaftlichem und individuellem Fortschritt. (Wissen dabei nicht als Instrument der persönlichen Entfaltung, sondern als Machtinstrument zur Beherrschung der Natur und zur Beherrrschung der Menschen.) "Wissen ist Macht" – nicht von ungefähr ein Kampfbegriff des aufmüpfigen Bürgertums wie auch des revolutionären Proletariats.

Hat sich Aufklärung – nach humanitätsorientiertem Beginn – nicht konzentriert auf Naturwissenschaften und Technik? Sind Erkenntnisse, die äußere Welt der Menschen betreffend, heute nicht ungleich weiter entwickelt und differenzierter als solche, welche das Innere der Menschen und ihr Zusammenleben miteinander betreffen? Sind ethische Fragen der Technikfolgenabschätzung nicht wesentlich brisanter und bedeutsamer als solche der Erziehung und Bildung? Natürlich stehen Dinge, die Menschen tun, mit dem, wie sie sind, stehen Äußeres und Inneres in einem wechselseitigen Bedingungszusammenhang. Schon ihre Trennung ist nicht aufklärerisch, sondern in spezifischer Funktionalität verschleiernd. Aber wird dies politisch und gesellschaftlich ausreichend berücksichtigt?

Erst heute wird dies erkannt – oder es scheint zumindest so. Heute werden Kompetenzen gesucht nicht in der Akkumulation von Wissen, sondern in der Orientierung gegenüber scheinbar unbegrenzter Wissensbeständen. Kompetenzen werden gesucht in der Fähigkeit, Ziele zu definieren, sich auseinanderzusetzen, zu führen und Schwerpunkte zu bilden. Kompetenzen werden gesucht nicht im höheren Fachwissen, sondern in der Fähigkeit, sich dieses immer wieder neu aneignen zu können – lernen zu lernen.

Wenn wir von Zielen der Erziehung und Bildung sprechen, formulieren wir sie – dies ist in der sogenannten westlichen Welt heute Konsens – mit Blick auf die Menschen. "Überall in der westlichen Welt ist heute das Recht des Einzelnen auf eine Chance für die größtmögliche Entfaltung seiner Persönlichkeit als moralisches Grundrecht anerkannt. Außerdem wird seit Mitte unseres Jahrhunderts die Bildung als wichtigste Hilfe zur Selbstentfaltung betrachtet" – so heißt es etwa in der Veröffentlichung der OECD zu "Begabung und Bildungschancen" aus dem Jahre 1969 (S. 156). Bildung als Element der Entfaltung der Persönlichkeit wird damit nicht nur Ziel von Aktivitäten, sondern allgemeiner Bestandteil der Menschenrechte. Dies ist ein einfaches Prinzip, eine verläßliche Regel, welche uns als humanitäre Grundlage in unserer Arbeit verpflichtet und untereinander verbindet.

Entfaltung der PersönlichkeitUnter dem Stichwort "Person" geben Lexika in der Regel zahlreiche Varianten an. Sieht man einmal von fachspezifischen (etwa theologischen, grammatikalischen oder zoologischen Begriffen) ab, ergeben sich zwei wesentliche Begriffsvarianten:

Mowgli wird Mensch, indem er seine tierischen Freunde vermenschlicht (wer kennt nicht Balu und Baghira, Ka und Shir Khan), Robinson bleibt Mensch, indem er Freitag findet.

Schon bei der Frage, welche Idee von Persönlichkeit wir entfalten wollen und sollen, beginnen wir uns auf unserer humanitären Grundlage zu entzweien. Vielfach erlaubt uns nur die Klammer, die in der Unschärfe der Sprache liegt, weiter einen Konsens zu postulieren, wo er in der Praxis längst abhanden gekommen ist. Eine Rolle gut zu spielen, in definierten Kontexten als Person agieren zu können, kann vom wirklichen Selbst entfernen. Und eine Person, die zu diesem gefunden hat, kann durchaus untauglich werden, in sozialen Kontexten zu agieren. Wir wissen um dieses Spannungsverhältnis aus der Diskussion um die Grenze von Norm und Abnormität, aber auch aus dem dauerhaften Gegenüber von Bildungsansätzen, für die Erwachsenenbildung bekannt ist: Dem Selbsterfahrungslernen einerseits und der Qualifikationsvermittlung andererseits, deren Protagonisten übereinander die Nase rümpfen und die sich gegenseitig weitgehend mißachten. Wir finden dieses Gegenüber bereits in einzelnen Bildungsfeldern wie etwa der politischen Bildung; hier stehen sich Ansätze einer handlungs- und wissensorientierten Richtung solchen einer erfahrungs- und alltagsorientierten Richtung vielleicht nicht unversöhnlich, aber außerordentlich unverbunden gegenüber.

Es gehört zu den tragischen Elementen der Ethikdiskussion in Bildung und Erziehung, daß sie zu keinem Ende kommen kann. Und es gehört zu ihrer Komik (Komik als Gegenpol von Tragik), daß sie zu keinem Ende kommen muß. Je mehr sich der ethische Blick auf seine Urheber, die Menschen, richtet, desto diffuser wird er. Es gibt kein richtig oder falsch, wenn es um menschliche Interessen, Bedürfnisse und Erfahrungen geht. Es gibt kein Richtig oder Falsch, solange es um die Entfaltung von Personen geht. Niemand kann des anderen Erfahrung erfahren, jeder und jede entfaltet sich selbst. Bildung ist ein Medium, Didaktik wird, um es mit Rolf Arnold zu formulieren, zur "Ermöglichungsdidaktik". Das ist übrigens ganz real: Praktisch alle wissenschaftlichen Analysen der Lernvorgänge Erwachsener in organisierten Lernprozessen belegen, daß unsere Bildungsangebote wirklich nur "Angebote" sind, welche die Lernenden aufgreifen, umwandeln, abwehren und mißachten. Die konstruktivistische Betrachtung erwachsenenpädagogischer Bemühungen, wie sie insbesondere Horst Siebert in den letzten Jahren forciert vorgetragen hat, war – zumindest als Korrektur unseres Blicks – längst überfällig. Nur die Lernenden entscheiden, was sie lernen.

Die Frage nach richtig und falsch stellt sich aber, wenn und soweit die Lernenden sich in gesellschaftlichen Kontexten entfalten. Und sie tun dies immer, der Mensch ist ein soziales Wesen, nur mit anderen zusammen wird er sich selbst. Die Frage nach Richtig und Falsch führt hier zu der Frage danach, ob die Entfaltung des oder der einen diejenige des oder der anderen einschränkt und behindert. Wir wissen, daß Bildung sich dieser Frage nicht verschließen kann. Sie hat dies auch – zumindest in Teilbereichen – bislang nicht getan. Vor allem dann nicht, wenn sie sich als Bestandteil einer gesellschaftlichen Entwicklung verstand. Die soziale Topik etwa, an die Oskar Negt mit seiner "soziologischen Phantasie und exemplarischen Lernen" anknüpfte, verortet implizit individuelle Interessen und Erfahrungen in gesellschaftlichen und kollektiven Kontexten. Die politische Dimension von Bildung entsteht eben dadurch, daß sie die Sozialität der Erfahrungen und Interessen der Individuen immer mit thematisiert. Das eingangs bereits erwähnte Beispiel des Verhältnisses der Geschlechter zueinander, der männlichen und weiblichen Wahrnehmungsweisen, Lernverhalten und Interessen ist dafür ein gutes Beispiel. Die Geschlechterfrage ist keine Frage von Selbsterfahrungsgruppen, sondern eine eminent gesellschaftspolitische Frage, der sich Bildung – explizit oder nicht – immer zugleich auch widmet.

Nun ist aber spätestens dann, wenn es um gesellschaftliche Zusammenhänge und Kontexte geht, die Bildung nicht alleine. Sie findet nicht im luftleeren Raum statt. Wir wissen, daß hier diejenigen Werte und Ziele zum Tragen kommen, die gesellschaftlich definiert und gesetzt sind. Es ist nicht die Bildung, welche festlegt, wann die Entfaltung der einen den Spielraum der anderen Person verletzt. Es sind soziale, kulturelle, ökonomische und politische Entscheidungen einer Gesellschaft, vielfach nicht bewußt getroffen, sondern historisch, biographisch, ethnisch und ökologisch induziert. Es ist Sache von Bildung, sich hier nicht unkritisch instrumentalisieren zu lassen, Werte und Prinzipien nicht zu vermitteln, ohne sie auf ihre Passung mit dem obersten Prinzip des Rechts der Entfaltung der Person zu überprüfen.

Aber machen wir uns auch hier nichts vor: Der Sündenfall der Bildung oder besser: Des Bildungs- und Erziehungssystems ist allfällig. Selektion ist die gesellschaftliche Funktion des Systems, aus ihr bezieht es seine Berechtigung. Und Qualifikation und Kompetenz, den einen beigebracht, kann in der zunehmend weltweiten Konkurrenz auch immer die Hilfe zur Unterdrückung und Ausbeutung anderer bedeuten. Der zitierte Konsens der "westlichen Welt" kann nicht von der Tatsache ablenken, daß die Funktionalität von Bildung und Erziehung in definierten gesellschaftlichen Kontexten steht und immer ein äußeres Gegenüber hat. Dies gilt bezogen auf einzelne Menschen und zugleich – auch bei global größer werdenden Dimensionen – auf andere Gesellschaften.

Wir haben heute in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern eine verstärkte Diskussion dieser systemischen Funktion von Bildung und insbesondere Erwachsenenbildung. Über die Rolle von Institutionen, die Finanzierung des Staates, die Regelung von Abschlüssen und Zugängen wird nicht nur gesprochen, sondern dazu wird auch in vielfältiger Weise gehandelt. In Deutschland orientieren sich beispielsweise viele Volkshochschulen immer stärker am Markt, bauen ihr Programm und ihre innere Struktur um, entwickeln eigene Marketing- und Managementkonzepte und profilieren sich als Konkurrenzunternehmen auf dem "Weiterbildungsmarkt". Dies sind schwerwiegende, meist konfliktreiche und weitgehende Prozesse mit Konsequenzen. Vielfach beklagen dabei die pädagogischen Akteure, daß immer häufiger über ökonomische und Unternehmensziele anstatt über Bildung und Bildungsziele diskutiert wird.

Diese Klage ist einerseits berechtigt: Das am Humanitätsideal orientierte Bildungsziel wird dem allgemein gültigen gesellschaftlichen Wertsystem untergeordnet. Andererseits ist die Klage nicht berechtigt: Auch dann, wenn Bildungsinstitutionen scheinbar ihre eigenen Ziele definieren können, stehen sie im systemischen Kontext, der diesen eine je spezifische Funktion zuweist. Der institutionelle Sündenfall der Erwachsenenbildung im bezug auf die Übernahme des gesellschaftlichen Wertsystems fand bereits in jener "Wende" statt, der die Volkshochschulen ihren materiellen Aufwuchs und ihren gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs verdanken: Der sogenannten realistischen Wende der sechziger Jahre, wie sie uns Hans Tietgens so eindringlich dargelegt hat. In einer Welt, in der nicht mehr Utopien und Ideologien konkurrieren, sondern nur noch Kapitale, haben eigenständige Bildungsziele kaum mehr eine systemische Funktion. Dies gilt auch für diejenigen institutionellen Bereiche, die sich – wie Peter Faulstich und Ulrich Teichler dies konstatiert haben – durch eine mittlere Systematisierung auszeichnen.

Hinzu kommt hier ein anderes Phänomen, das sich gerade in der auf Personen bezogenen Sichtweise und Handlungsform in Bildungsbereichen bezieht. Phylogenetisch und historisch gesehen entstand das Institutionelle viel später als die archetypische Struktur von Personen. Institutionelle Strukturen der heutigen Reichweite, die ja nicht nur Staat, Klerus und Militär umfaßt, entstand erst vor etwa dreihundert Jahren. Eine tiefergehende Diskussion darüber, inwieweit sich institutionelle Strukturen gewissermaßen als Mittelding zwischen Personen und Gesellschaft schieben, eigenen Zielen folgen und besonderen ethischen Prinzipien unterliegen, ist vom Bildungsbereich, insbesondere auch der Erwachsenenbildung, noch gar nicht ausreichend erfaßt und reflektiert worden. Eine gewisse Suchbewegung läßt sich hinter den Begriffen der "lernenden Organisation" oder der "Corporate Identity" erkennen, dies befindet sich jedoch erst in den Anfängen. Zweifellos werden wir uns noch weiter anstrengen müssen, den humanitätsorientierten Konsens von Bildungszielen angemessen auf institutionelle Strukturen auch im Bildungsbereich zu übertragen.

Doch noch einmal zurück zur persönlichen Seite der Entfaltung. Die UNESCO-Weltkonferenz über Erwachsenenbildung (CONFINTEA) hat 1997 in Hamburg lebenslanges Lernen als Schlüssel zum 21. Jahrhundert bezeichnet und Maßnahmen dafür benannt. Sie ordnet sich damit in eine europäische und internationale Tradition ein, in welcher das Lernen der Menschen als ökonomischer und demokratischer Weg in die Zukunft bezeichnet wird. Auch der Begriff des lebenslangen Lernens war und ist nicht neu; wir kennen ihn seit den 60er Jahren in der angloamerikanischen Version des "life long learning" und in der französischen Version der "Education permanente". Globalisierung, Informationsgesellschaft, Anwachsen von Wissen, Diskontinuität von Berufsbiographien, Individualisierung – dies alles sind Stichworte, die wir jetzt schon oft gehört haben und die auch großteils mit eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen übereinstimmen.

Berufliches Können, eine intakte Familie und eine gute Integration in das soziale Umfeld machten bisher Stolz und Identität von Menschen aus. All diese Dinge, die wir heute hören und sehen können, stellen das in Frage. Was heißt "Entfaltung der Persönlichkeit" über "lebenslanges Lernen" unter diesen Umständen?

Die Antworten, welche heute gegeben werden, lauten weitgehend ähnlich. Es geht darum, die Urteilskraft der Menschen zu schärfen, ihnen Orientierung zu bieten, ihre Kritikfähigkeit zu schulen, Grundkompetenzen zu vermitteln und die Fähigkeit, zu lernen. Die Vision davon ist ein Mensch, der sich auch dann, wenn er alleine in der Welt ist, selbstbewußt verhalten kann.

So, wie heute von lebenslangen Lernen immer gesprochen wird, halte ich es für ein Problem. Lebenslanges Lernen wird immer formuliert wie ein Appell an die Menschen, sie mögen doch bitte sich auf die neue Situation einstellen, in der es für sie keine Sicherheiten mehr gibt, keine Sicherheit einer kontinuierlichen Berufsbiographie, keine Sicherheit eines lebenslangen familiären Glücks, keine Sicherheit einer sozialen und regionalen Einbettung. Lebenslanges Lernen gewissermaßen als Appell an die Opfer der selbsterzeugten Dynamik. Es ist, als wäre der nationalen Sicherheit im wesentlichen Europa, die durch die Europäische Union Kriege ausschließt, die individuelle Unsicherheit kompensiert, die mit den rapiden gesellschaftlichen Veränderungen verbunden ist. Gewiß war es immer eine Illusion zu glauben, Bildung könne die Menschen befähigen, die Gestaltung ihrer eigenen Welt zielgerichtet zu bestimmen. Wir haben ausreichende Mißerfolgserlebnisse gehabt bei der Rolle der Bildung in Fragen der Technikfolgenabschätzung, der Einführung von Datenverarbeitung an Arbeitsplätzen und vielem anderen mehr. Wir müssen aber gerade heute aufpassen, das Prinzip des lebenslangen Lernens als Appell an die Individuen abwehren oder zumindest hinterfragen. Lebenslanges Lernen sollte ein Strukturprinzip politischen Handelns sein, das Menschen dabei unterstützt, den schwierigen Anforderungen der gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden, in dem Institutionen, Strukturen und Supportsysteme zum Nutzen der Menschen umgestaltet und entwickelt werden. Gerade bei den materiellen Aspekten des lebenslangen Lernens ist ja die Tücke des Objekts unübersehbar: Die Kosten des lebenslangen Lernens hätten danach natürlich die Individuen zu tragen, die auch den Nutzen davon haben. Ich kann daher nur zur Vorsicht raten, wenn der so positiv besetzte Begriff des lebenslangen Lernens gebraucht wird.

Ich kann auch aus einem anderen Grunde nur zur Vorsicht raten, wenn es um das mittlerweile dominante Paradigma des Lernens geht. Wir haben früher in der Dialektik von Lehr-Lern-Prozessen immer beide Seiten gesehen, das Lehren und das Lernen, und haben Lehrziele und Lernziele fein säuberlich unterschieden. Dies hatte seinen pädagogischen und auch seinen gesellschaftspolitischen Sinn. Heute, wo Lehre scheinbar verschwunden ist (de facto aber anonymisiert in Medien aufgegangen), scheint es nur noch um Lernziele zu gehen. Dies ist aber eine unzutreffende und geradezu zynische Betrachtungsweise. Auch wenn uns dies Konzepte des selbstgesteuerten und selbstorganisierten Lernens glauben machen wollen, Lernziele entstehen nicht aus den Lernenden heraus. Sie entstehen immer in der Auseinandersetzung von Lerninteressen mit Gegenständen und Lehrintentionen. Ökologisches Bewußtsein, breite berufliche Qualifikation, Gender mainstreaming oder Friedensfähigkeit können als Lernziele nicht entstehen, wenn sie nicht auch als Lehrziele Bestand haben. Es ist die Auseinandersetzung individueller Interessen mit gesellschaftlichen Vorgaben und Zielen, welche Lernziele entstehen läßt und auch hinterfragbar macht.

Nehmen wir das Beispiel der Friedensfähigkeit. Die Deutschen sind heute zum ersten Mal seit über fünfzig Jahren wieder in einen Krieg verwickelt. Es ist ein historischer Einschnitt, der vielen gar nicht so bewußt ist. Vielleicht deshalb nicht, weil es ein "gerechter" Krieg ist. Es ist immer "gerecht", gegen Menschen vorzugehen, die gegen Menschenrechte verstoßen. Es verstößt gegen das Menschenrecht, Personen aus einem Lande zu vertreiben, in dem sie leben. Aber: Es geht hier nicht um individuelle (Lern-)Interessen, sondern um übergeordnete Fragen und Prinzipien. Es geht um den konkreten Wert der Abstraktion "Menschenrecht". Otto Hondrich hat einen wunderbaren Essay geschrieben zum Thema "Lehrmeister Krieg" und als Soziologe über die vor allem gesellschaftliche und weniger individuelle Lernrelevanz von kriegerischen Auseinandersetzungen reflektiert. Das hat, wenn man es auf die Personen bezieht, auch etwas zynisches. Ich erinnere mich an die Frage an Kriegsdienstverweigerer, ob sie denn untätig zusehen würden, wenn ihre Freundin im Park von anderen Männern vergewaltigt würde. Diese Frage ist ebenso unzulässig wie die Annahme, Kriegsziele seien bruchlos in Lernziele zu übersetzen. Es ist die Aufgabe der Erwachsenenbildung, die moralische und tatsächliche Aufgabe der Erwachsenenbildung, in der Ambiguität gesellschaftlicher und äußerer Ziele einerseits und individueller Interessen und Ziele andererseits das Bewußtsein über Möglichkeiten, Grenzen und Konflikte zu schaffen, nicht aber, es zu verhindern. Hier kann übrigens, dies ist durchaus auch in den Informationssystemen der vergangenen Kriegsberichtserstattungen (in bezug auf Kosovo oder Golfkrieg) festzustellen, die systemische Funktion, welche der Bildung zugewiesen wird, in Konflikt geraten mit ihrer moralischen und an den Menschen orientierten humanen Aufgabe. Der potentielle Konflikt, der zwischen dem Recht des einzelnen auf die größtmögliche Entfaltung seiner oder ihrer Persönlichkeit einerseits und gesellschaftlichen Zielen und Aufgaben andererseits besteht, ist immer zugleich auch ein potentieller Zielkonflikt von Bildungsarbeit. Bildung muß ihn aushalten und bearbeiten, im günstigsten Falle steht sie zu ihm.

Wir lehren und lernen im Medium der Sprache – zumindest als Erwachsene hauptsächlich. Hinzugetreten ist immer mehr das Medium der auditiven, visuellen und audiovisuellen Informationen. Bilder sind als Medien der Informationsvermittlung und der Lehre nicht neu; bis zum Beginn der Aufklärung fand die Belehrung Erwachsener Menschen – neben Erzählern und Theaterstücken – in Bildprogrammen der Kirchen statt. Die Kompetenz, damit umzugehen, war zugunsten von Sprache und Schrift zwischenzeitlich verschwunden. Heute wird sie wieder gefordert und belebt als "Medienkompetenz", notwendig, um sich orientieren und selbständig ein Urteil bilden zu können.

Die Musik kennt das Wort "Feind" nicht (la musica non conosce la parola "nemica!), Sprache und Bildersprache aber wohl. Ich halte Bildungsarbeit, die sich als Prinzip auf Moderation beschränkt, für verkürzt. Ich halte sie für verkürzt, wenn sie sich auf individuelle Erfahrung beschränkt. Aber ich halte sie auch dann für verkürzt, wenn sie sich auf die Explikation gesellschaftlicher Strukturen und Themen beschränkt.

Bildung hat, auch wenn dies noch nicht gesellschaftlich "systematisiert" war, viel zur Eroberung der Welt beigetragen. Das Zeichnen und Entziffern von Seekarten, das Schreiben und Lesen von Reiseberichten und das Vermitteln von Erfahrungen waren Elemente von Bildungsarbeit, welche die Voraussage von Seneca erst Realität werden ließen. In dieser Weise ist Bildung sicherlich immer systemischer Bestandteil gesellschaftlicher Ziele und Werte, die ober- und außerhalb von Bildung liegen. Bildung kann hier in einer Nische existieren. Auch diese jedoch hat ihre systemische Funktion. Bildung kann vor allem dann zur Entfaltung der Persönlichkeit beitragen, wenn sie die gesellschaftlichen Werte und Ziele thematisiert und hinterfragt, welche diese Entfaltung bestimmen und begrenzen. Und wenn sie die Menschen dazu befähigt, sich selbst entfalten zu wollen und zu können.

Es ist aber auch die Aufgabe von Bildung, zu ermöglichen, die Legitimation und Rolle der gesellschaftlichen Werte und Ziele zu hinterfragen. Wie, wenn Seneca doch recht gehabt hätte und der Ozean selbst die Fesseln der Dinge gelöst hat? Da ich Atheist bin, will ich hier nicht von Gott sprechen. Aber kann es nicht sein, daß sich die Natur eines ihrer Teile, der Menschen, bedient, um sich ihrer selbst bewußter zu werden? Das hätte ja eine gewisse Plausibilität ebenso wie einen gewissen Hintersinn: Dann wären es die Männer, welche diese Aufgabe der Natur bislang hauptsächlich erfüllt haben, obwohl sie ihren eigenen individuellen und kollektiven Anteil an Natur und sich selbst als Teil der Natur nicht wahrnehmen. Auch hier kann es Aufgabe von Bildung, von Männerbildung sein, die männlichen Menschen dazu zu bringen, sich selbst als zu eroberndes Land der Zukunft zu betrachten, in dem es Abenteuer zu bestehen gilt. Dem neuen Thema des Gender mainstreaming und dem Dialog der Geschlechter wie auch der Gleichberechtigung in der Gesellschaft würde es allemal gut tun.


Ekkehard Nuissl von Rein: Die eigentliche Aufgabe der Erwachsenenbildung. Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-1999/nuissl99_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid