Gerhard Reutter die_logo1a.gif (1181 Byte) März 1998


Thesen zur Zukunft des Lernens

  1. Je schneller sich Gesellschaft und Ökonomie sich verändern, desto weniger reicht einmal erworbene Bildung zur Bewältigung der Lebensanforderungen aus. Schule und berufliche Ausbildung bieten keine lebenslang tragfähige Basis mehr, umso weniger als das klassische berufsbiographische Modell Schule-Ausbildung-Beruf-Rente abgelöst wird durch ein Modell der Diskontinuitäten und des
    Sich-immer-wieder-auf-Neues-einlassen-müssen.
  2. Eine Verkürzung des Bildungsgedankens auf einen instrumentellen, nur auf Arbeitsplatzerfordernisse ausgerichteten Qualifizierungsbegriff wird der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gerecht. Eine Gesellschaft, die kaum noch verbindliche Wert- und Normenorientierungen kennt, gibt dem Einzelnen die Freiheit, seine eigene Norm zu definieren und sie verpflichtet ihn dazu. Sie als Freiheit im eigenlichen Sinne aufzufassen, kann nur von den Individuen geleistet werden, die sich ihrer Selbst und ihrer für sie orientierungsgebenden Normen und Werte bewußt sind. Eine Erwachsenenbildung, die sich vorrangig an den Bedarfen des Arbeitsmarktes orientiert, vergibt die Chance, Lernen als Lebensbereicherung zu erfahren. Sie transformiert Bildung zur lebenslangen Anpassungszumutung an ökonomische Prozesse. Lebenslanges Lernen wird zum lebenslänglichen Lernen.
  3. "Die Herausforderungen der beruflichen Weiterbildung liegen nicht in der technischen Entwicklung, sondern im Verlust an normativer Orientierung" (Wittwer). Der Wandel der Anforderungen weg vom Umgang mit Sachen hin zum Umgang mit Symbolen und zum Umgang mit Menschen verlangt eine berufliche Handlungskompetenz, die weit über das Beherrschen der fachlichen Anforderungen hinausgeht. Soziale und personale Kompetenzen werden wesentlicher Teil beruflicher Kompetenzen.
  4. Das Lernen der Zukunft wird sich in den Lernanlässen, -orten und Kontexten differenzieren. Lernen im Prozeß der Arbeit und Lernen mit neuen Medien gewinnen an Bedeutung, verschärfen gleichzeitig die Gefahr gesellschaftlicher Segmentierung. 4,8 Millionen sind ohne Möglichkeit, im Prozeß der Arbeit zu lernen. Der Zugang zu neuen Lernmedien hängt ab vom Alter, von der sozialen Lage, von den Bildungsvoraussetzungen, etc.
  5. Die Institutionen öffentlich verantworteter Erwachsenenbildung werden sich ebenfalls ausdifferenzieren müssen. Der Wandel von der Lehr- zur Lernkultur erfordert Konsequenzen auf der Ebene der Inhalte, des Funktionsverständnisses, der Organisation und der Personalentwicklung.

Inhaltlich bedeutet dies:

Wir brauchen die Ergänzung des Funktionswissens um Lebenswissen, des Qualifikationslernens um Identitätslernen. Das ist nicht nur Ausdruck eines demokratischen Bildungsverständnisses, sondern auch Ergebnis veränderter Arbeitsmarktsituation. Wenn fachliche Qualifikationen im Überschuß vorhanden sind, erhalten in der Konkurrenz personale und soziale Kompetenzen einen Entscheidungswert. Öffentlich verantwortete Erwachsenenbildung hat den gesellschaftlichen Auftrag, den Zugang zur Bildung auch für die zu sichern, die von Ausgrenzung bedroht und betroffen sind.

Bezogen auf das Funktionsverständnis bedeutet dies:

Wir müssen uns von dem Lernverständnis lösen, der Lehrende sei der Experte, dessen vermitteltes Wissen vom Lerner aufgenommen wird. "Erwachsene sind unbelehrbar - aber lernfähig" weist als Leitsatz in die zu gehende Richtung. Der Lehrende wird zum Lernberater, zum Moderator von Lernprozessen, zum Einrichter von Lernarrangements. Die Befähigung zum Selbstlernen, die Entwicklung einer Selbstlernmanagementkompetenz wird zentrale Aufgabe.


Gerhard Reutter: Thesen zur Zukunft des Lernens. Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-1999/reutter99_02.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid