Gerhard Reutter Februar 1999
"Zweiter Arbeitsmarkt – Brückenfunktion für welche Ufer?"
Vorbemerkung
Der Beitrag basiert sich auf den Erfahrungen des BMBF-geförderten Projekts REGIO am DIE, das mit der Fortbildung und Beratung des Leitungspersonals in Qualifizierungs- und Beschäftigungseinrichtungen beauftragt war und die Aufgabe hatte, regionale Kooperationen zwischen den arbeitsmarktrelevanten Akteuren in der Region zu initiieren und zu moderieren, mit dem Ziel, beschäftigungswirksame Projekte im ersten Arbeitsmarkt zu etablieren.
Gliederung
Der Beitrag problematisiert den Begriff des zweiten Arbeitsmarktes, geht kurz auf die unterschiedlichen Voraussetzungen und Entwicklungen des zweiten Markts in Ost- und Westdeutschland ein und konzentriert sich dann auf die Situation und Funktion des zweiten Arbeitsmarktes in peripheren Regionen Ostdeutschlands. Ziel der Ausführungen ist es, aufzuzeigen, welche Potentiale der zweite Markt beinhaltet und welche Veränderungen in den Rahmenbedingungen notwendig sind, um diese Potentiale zur Entfaltung zu bringen, kurz: unter welchen Voraussetzungen kann der zweite Markt eine Brückenfunktion übernehmen?
Zum Begriff des zweiten Arbeitsmarkts
Unter dem zweiten Arbeitsmarkt wird gemeinhin der Arbeitsmarkt gefaßt, in dem Beschäftigung staatlich gefördert wird, sei es auf ABM-Basis oder in BSHG-Maßnahmen. Dabei wird häufig übersehen, daß der Sektor staatlich geförderter Beschäftigung weit mehr umfaßt als den klassischen zweiten Arbeitsmarkt, in dem Arbeitslose bzw. SozialhilfeempfängerInnen beschäftigt und qualifiziert werden.
Der Bergbau, die Landwirtschaft oder die Werftindustrie - um nur einige zu nennen - stellen ebenfalls Sektoren staatlich geförderter Beschäftigung dar, bei denen nicht ersichtlich ist, daß ihre Subventionierung langfristig zu stabilen, nicht mehr subventionsbedürftigen Arbeitsplätzen führen wird, was gewöhnlich als Begründung für Subventionierung gilt.
Wir haben es also einerseits mit einem politisch gewollten, gesellschaftlich akzeptierten, nicht diskriminierten und andererseits mit einem legitimierungsbedürftigen, auf Zeit angelegten und gesellschaftlich negativ konnotierten zweiten Markt für Arbeitslose als Arbeitsmarkt zweiter Wahl zu tun. Für Beschäftigte in beiden Bereichen gilt: Sie sind "produktiv, zahlen Steuern und Sozialabgaben, gewinnen Stabilität und Perspektive". (Spiegel 13/93)
Die Subventionshöhe je Beschäftigten ist allerdings im "akzeptierten" zweiten Markt i.d.R. höher (Bergbau ~ 140 TDM jährlich, ABM ~ 42 TDM jährlich). Die Differenzierung der subventionierten Arbeitsmärkte hat auch mit der Entstehungsgeschichte der Beschäftigungsgesellschaften im Westen Deutschlands zu tun. Diese Geschichte wirkt als Erblast auf die Beschäftigungsgesellschaften im Osten die unter völlig anderen Vorzeichen und mit anderen Zielsetzungen entstanden sind.
Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften in Westdeutschland
"In den westlichen Bundesländern haben Beschäftigungsgesellschaften stark arbeitsmarktpolitischen Charakter. Es geht im wesentlichen darum, Langzeitarbeitslose und sonstige schwer vermittelbare Arbeitslose zu qualifizieren und, wenn nötig sozial zu begleiten, um sie an den allgemeinen Arbeitsmarkt heranzuführen und in stabiles Beschäftigungsverhältnis einzugliedern." (Wilk 1996, 108) Der zweite Markt im Westen stellt also den Auffangmarkt für diejenigen dar, die mit der Entwicklung zu olympiareifen Belegschaften in den Betrieben nicht mehr mithalten können, es ist der Markt für die Verlierer im Prozeß der gesellschaftlichen Versportlichung. Neben den unqualifizierten Langzeitarbeitslosen und den gesundheitlich Beeinträchtigten sind in den letzten Jahren zunehmend SozialhilfeempfängerInnen in Maßnahmen des zweiten Marktes zugewiesen worden ("Arbeit statt Sozialhilfe", "Hilfe zur Arbeit") Aufgrund der relativ günstigen Arbeitsmarktlage im Westen könnte man davon ausgehen, daß hier der zweite Markt seiner Brückenfunktion zum ersten Markt gerecht wird, weil die individuellen Ursachen der fehlenden Qualifikation bzw. der gesundheitlichen Einschränkung durch entsprechende Qualifizierung bzw. Maßnahmen der Rehabilitation veränderungsfähig sind. Trotzdem gehen auch im Westen die Reintegrationsquoten zurück. Dies hat arbeitsmarktpolitische Ursachen, aber auch eine Reihe von Gründen, die in den Beschäftigungsgesellschaften liegen, allerdings nicht von ihnen zu verantworten sind. Die wesentlichen seien hier genannt:
- Die Arbeitslosenforschung hat eindrücklich nachgewiesen, wie mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit das Vertrauen in die eigene Lern- und Leistungsfähigkeit verloren geht, das bei vielen unqualifizierten Arbeitslosen schon aufgrund ihrer Lernerfahrungen in der Schule nur gering ausgeprägt war. Der Erwerb neuer berufsrelevanter Qualifikationen ist daher einerseits zeit- und personalaufwendiger als bei üblichen Umschulungen, er erfordert andererseits auch Strukturen, die ein Lernen im Prozeß der Arbeit ermöglichen, d.h. die Arbeitsanforderungen müssen so gestaltet sein, daß sie Lernanlässe und -anreize bieten. In den letzten Jahren ist die materielle und personelle Ausstattung der westdeutschen Beschäftigungsgesellschaften trotz schwieriger werdender Beschäftigtengruppen zurückgefahren worden.
- Gleichzeitig steigt der Druck auf die Einrichtungen, die Erlöse aus Arbeit zu steigern, also die Refinanzierungsquote zu erhöhen. Darüber hinaus führt die Vorgabe, nur Arbeiten "gemeinnützigen und zusätzlichen Charakters" auszuführen, zu einer Konzentration auf Erwerbsbereiche, die aufgrund ihrer bescheidenen Gewinnaussichten für Konkurrenten aus dem ersten Markt uninteressant sind. In der Praxis wirken sich diese Zwänge unmittelbar aus.
- Die Qualifizierung für anspruchsvolle Tätigkeiten im ersten Arbeitsmarkt wird mangels Zeit, Geld und Personal nachrangig und findet - wenn überhaupt - häufig nurr dann statt, wenn Beschäftigungslücken zu füllen sind. Die Beschäftigung konzentriert sich i.d.R. auf qualifikatorisch anspruchsarme Bereiche des Garten- und Landschaftsbaus, der Rekultivierung von Industriebrachen, dem Betreiben von Second-hand-Kaufhäusern und dem Unterhalten von Fahrrad-Reparaturwerkstätten. Diese Arbeiten haben ihre Berechtigung und Notwendigkeit. So, wie sie aber derzeit ausgestaltet sind, stellen sie keine Vorbereitung auf Tätigkeiten im ersten Arbeitsmarkt dar. Der zweite Arbeitsmarkt in Westdeutschland dient zunehmend weniger als Brücke zum ersten Markt, er wird - insbesondere für frühere Sozialhilfeempfänger - zur Brücke zu anderen Alimentierungskassen, von der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld.
Der zweite Arbeitsmarkt in Ostdeutschland
Um die Dimension des zweiten Arbeitsmarktes in Ostdeutschland einordnen zu können, scheint ein Blick zurück angebracht. In der Zeit von Januar 1991 bis Oktober 1992 hat die Industrie im Osten 59% ihrer Beschäftigten verloren, insgesamt kostete der Prozeß der Deindustrialisierung mehr als 40% aller Arbeitsplätze. Die damaligen "Verschlankungsprozesse" wirken bis heute nach, ein wesentlicher Beschäftigungszuwachs ist seit dieser Zeit nicht erreicht worden. Massenarbeitslosigkeit ist nach wie vor das zentrale Problem aller neuen Bundesländer. "Das Phänomen Arbeitslosigkeit verhält sich wie Feuer. Es ernährt sich selbst. Je höher die Arbeitslosenquote, desto höher die Dauer der Arbeitslosigkeit und desto schwieriger, sie zu bekämpfen. OECD-Länder, die schon vor 10 Jahren eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit hatten, haben auch heute eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, freilich auf noch höherem Niveau." (Schmid 1994, 40)
Entsprechend konzentriert sich der zweite Arbeitsmarkt auf Ostdeutschland. Von den 302 136 Beschäftigten in ABM (Stand Nov. 1998) waren nur 23% in Westdeutschland (80% der Bevölkerung), 77% in Ostdeutschland (20% der Bevölkerung). Die überdurchschnittliche Betroffenheit der Frauen von Arbeitslosigkeit, zeigt sich u.a. auch daran, daß im Westen unter den ABM-Beschäftigten der Frauenanteil bei 18% liegt, während er im Osten bei 84% liegt. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen in ABM liegt im Westen bei 82%, im Osten inzwischen bei knapp 90%. (vgl. ANBA 1/1999) Soweit zur quantitativen Dimension.
Bleiben wir noch beim Blick zurück in die Anfänge der Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften im Osten, die dort im allgemeinen als Gesellschaften zur Arbeitsförderung, Beschäftigungs- und Strukturentwicklung, kurz: ABS firmieren. Das Etikett gibt bereits einen Hinweis auf die Erwartungen, die mit der Etablierung dieser Gesellschaften verbunden waren. Hild (1997, 67) spricht zu Recht davon, daß hier eine "multikonfessionelle Taufe mit interessenintegrierender Namensgebung" stattgefunden hat und "ABS" suggeriert, daß hier Hybridgesellschaften kreiert wurden. Die zugeschriebene Funktionsfülle der ABS, die sowohl branchenbezogen (bei der Auflösung von Großbetrieben)als auch regional orientiert etabliert wurden, ist Ausdruck der unterschiedlichen Interessenlagen, der an ihrer Geburt Beteiligten. Die Treuhandanstalt, deren politische Vorgabe die rasche Privatisierung war, hatte ein primäres Interesse an einer Reduzierung der Beschäftigtenzahl, "möglichst friktionslos, undramatisch und ohne weitergehende Verpflichtungen, sowie der Entledigung von Sozialplanaufgaben als Voraussetzungen für die Veräußerbarkeit der Treuhandunternehmen an Private." (Hild 1997, 30) Landes- und teils Bundesregierung wollten industrielle Kerne erhalten und möglichst rasch neue Beschäftigungsfelder im ersten Markt schaffen. Die Gewerkschaften drängten sowohl auf soziale Abfederung als auch auf ausreichende materielle Mittel zur Ausstattung von Existenzgründungen und Ausgründungen. Kommunen und Landkreise hofften auf den Aufbau regionaler Entwicklungsagenturen, auf die Vermeidung von Massenarbeitslosigkeit und damit den Erhalt von Steueraufkommen und auf den Verbleib der Arbeitskräfte in der Region. So ergeben sich für die ABS bis heute multifunktionale Aufgabenzuschreibungen: Sie sollen
- Brücken- und Abfederungsfunktion wahrnehmen, also Beschäftigungseinbrüche überbrücken und für eine soziale und politische Abfederung sorgen,
- Anpassungsfunktion leisten, indem sie ihre Beschäftigten für neue Anforderungen qualifizieren,
- Zielgruppenfunktion übernehmen, indem sie Problemgruppen des Arbeitsmarktes integrieren,
- strukturpolitische Funktionen übernehmen, indem sie die Qualität ihres Standortes erhöhen, Ausgründungen vorbereiten und regionale Strukturkonzepte entwickeln.
Diese Zielsetzungen sollen sie aber unter bestimmten Vorgaben erreichen:
- Sie dürfen keine Konkurrenz für Betriebe des ersten Arbeitsmarktes darstellen. (Konkurrenz- und Marktverbot)
- Sie dürfen nicht zu ertragsorientierten Unternehmen werden.(Ertragsverbot)
- Sie sollen möglichst hohe Qualität liefern, dabei aber gleichzeitig möglichst rasch auf ihre Selbstauflösung hinarbeiten (auf Zeit angelegt).
- Sie sollen nach betriebswirtschaftlichen Kriterien ihre Arbeit organisieren, dabei aber gleichzeitig möglichst viele Menschen bei geringer Maschinenausstattung beschäftigen, also Arbeit nach der chinesischen Methode extensivieren statt intensivieren. (Extensivierung der Arbeit)
Diese partielle Inkompatibilität der zugeschriebenen Aufgaben führt dazu, daß "selbst wenn man keine strengen Maßstäbe anlegt, ABS-Gesellschaften bisher keines ihrer Ziele erreichen konnten. Sie waren keinesfalls potente Träger oder Agenturen des Strukturwandels, Sprungbretter vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt oder relevante Ausgründer in selbständige Existenzen, sondern allenfalls Auffangbecken von Massenarbeitslosen". (Hild 1997, 67) Dabei soll letzteres nicht gering geachtet werden.
Ich will aus der praktischen Erfahrung in der Beratung von ABS einige dieser inkompatiblen Aufgabenzuschreibungen in ihrer Wirkung auf die ABS-Praxis näher beschreiben:
- ABS wurde selbst in extremen Krisenregionen politisch als transitorisches Phänomen behandelt. Entsprechend bescheiden war die Ausstattung mit dauerhaft beschäftigtem Personal, fast ausschließlich auf der Leitungsebene. Eine von uns beratene ABS im Erzgebirge mußte mit einem Minimum an Dauerbeschäftigten (ca. 20) in einem Jahr Projekte für 1200 Beschäftigte konzipieren, realisieren und abrechnen, im darauffolgenden Jahr für 1800 Beschäftigte, dann einen Einbruch auf 1000 Beschäftigte verkraften und im Zuge der Massenausschüttung von ABM im Wahlkampf 1998 innerhalb weniger Wochen die Beschäftigtenzahl von 1400 auf 2400 erhöhen und sie in entsprechenden Projekten beschäftigen, vom Anspruch her auch noch qualifizieren. Jedes normale Unternehmen wäre mit derartigen Integrationsanforderungen überfordert.
Sinnvolle Brückenprojekte zum ersten Arbeitsmarkt zu entwickeln, scheitert schon an der Tatsache, daß der erste Markt weiter erodiert (das größte Unternehmen des ersten Marktes in der Region hat 350 Beschäftigte), sogar in Teilen von zweiten Arbeitsmarkt abhängig geworden ist. (Die ABS Erzgebirge vergibt jährlich Aufträge an den ersten Markt in Höhe von 6 Mio. DM.) Ordnungspolitisch aberwitzig ist derzeit die Diskussion um das Lohnabstandsgebot in dieser Region. Da fast keiner der dortigen Betriebe tarifgebunden ist (im Osten nur 40% aller Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben), sind die Facharbeiterlöhne im freien Fall auf unter 10,-- DM/brutto gesunken. Viele der regulär Beschäftigten hätten Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe, wenn sie nur davon wüßten. Die ABM-Beschäftigten im Erzgebirge gehören also zu den "Besserverdienenden", was wiederum die Kooperation mit den Industrie- und Handelskammern (IHK) und Handwerkskammern (HwK) nicht sonderlich fördert.
- ABS können ihrem Anspruch, Ausgründungen und Existenzgründungen vorzubereiten und zu unterstützen, nicht gerecht werden, weil sie weder Wirtschaftsbetriebe noch rein gemeinnützige Einrichtungen sein dürfen. Für Ausgründungen stellen sie "förderpolitisches Niemandsland" dar. (Spies 1994, 190) ABS konnten [ lange nicht] in den Genuß der Wirtschaftsförderung kommen, weil die Wirtschaftsministerien der Länder den Status der Gemeinnützigkeit unterstellten. Das Bundesfinanzministerium erkannte aber eben nicht auf die steuerliche Gemeinnützigkeit, und brachte damit die Gesellschaften wiederum in die Bredouille, von den Arbeitsministerien der Länder Programme in Anspruch zu nehmen, die für sie unter der Voraussetzung der Gemeinnützigkeit geschaffen waren." (Hild 1997, 47) Entsprechend gering ist die Zahl der erfolgten Ausgründungen. Sie liegt - bezogen auf die Beschäftigtenzahl der ABS zwischen 0,2 und 3%. Dies hat seine Ursache natürlich auch in dem Konkurrenzverbot, das dazu führt, daß Projekte mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der wirtschaftlichen Verwertbarkeit nicht realisiert werden dürfen und Ausgründungen dort am ehesten realisierbar sind, wo ein gewerblicher Anbieter kein Interesse hat, weil entsprechende Gewinne als Voraussetzung ihrer Überlebensfähigkeit nicht zu erwarten sind.
- Ähnlich wie im Westen ist die Verbindung von Qualifizierung und Beschäftigung unzureichend. Die Anforderungen an die ABM-Arbeit sind in der Regel gering und eher mit Prozessen der Dequalifizierung verbunden, so daß sich aus der Arbeit kaum Lernanlässe ergeben. Qualifizierungsinhalte, die isoliert von den konkreten Arbeitsanforderungen vermittelt werden, sind nur schwer zu definieren. Für was soll sich der 45jährige langzeitarbeitslose ABM qualifizieren, der nach der Wende bereits eine, nicht selten zwei Umschulungen erfolgreich absolviert hat, ohne daß dieser Erfolg mit einem Erwerbsarbeitsplatz gratifiziert worden wäre? Trier (1996, 63) hat drei Inhaltsebenen der beruflichen Qualifizierung skizziert: "... selbstverständlich die Anpassung an neue berufsfachliche Kenntnisstandards oder den Erwerb eines neuen Berufs, aber genauso selbstverständlich ... sich auf einen Arbeitsmarkt einzustellen, die ungeteilte Eigenverantwortung für die Weiterführung der Berufsbiographie unter äußerst risikohaften Bedingungen zu übernehmen, Brüche in der Erwerbsarbeit zu verkraften bis hin zur Möglichkeit des längerfristigen oder dauerhaften Verlusts der Erwerbstätigkeit". In den ABS der peripheren Regionen ist keine der drei Ebenen hinreichend realisierbar, die ersten beiden nicht wegen des nicht aufnahmefähigen Arbeitsmarktes und wegen der fehlenden Kenntnisse der Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes durch das Lehrpersonal. (Bei einer Fortbildung für Anleiter im Erzgebirge merkten die Beteiligten bei einer Diskussion um die Anforderungen des ersten Arbeitsmarktes an, daß keiner der zwanzig Teilnehmer nach der Wende eine Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt gefunden hatte und sie seit 1990 zwischen Arbeitslosigkeit und ABM pendelten.) Die dritte, von Trier angesprochene Ebene, die Vorbereitung auf Diskontinuitäten in der Erwerbsbiographie ist bisher in der beruflichen und in der allgemeinen Weiterbildung weder hinreichend diskutiert noch didaktisch-methodisch umgesetzt worden, obwohl genau diese Ebene angesichts der Berufs- und Lebensperspektiven der Einzelnen das zentrale Thema sein müßte. Die Negt’sche Schlüsselqualifikation "Umgang mit bedrohter Identität" ist zum Schlüsselthema in den peripheren Regionen geworden, das aber von der Andragogik nicht aufgegriffen wurde, nicht aus Unverständnis, sondern aus Hilflosigkeit. "Die notwendige Diskussion von curricularer Entwicklung, die verbesserte Gestaltung der Lernprozesse ... laufen ins Leere, wenn das Grundanliegen Lernen für eine neue sinnerfüllte und anspruchsvolle Tätigkeit verfehlt wird ." (Trier 1996, 63) Genau hier liegt der Schlüssel für eine Neudefinition der Brückenfunktion des zweiten Arbeitsmarkts.
ABM - Brücke zu neuen Ufern
Wenn der zweite Arbeitsmarkt in den peripheren Regionen für die Beschäftigten sinnvoll sein soll, brauchen wir nicht nur eine Veränderung der Rahmenbedingungen, d.h.
- Bestandssicherung für Zeitspannen, die eine Planungssicherheit ermöglichen,
- Kontinuität und Sicherheit in der Finanzierung, insbesondere kompatible Förderungslogiken der verschiedenen Finanzierungsinstrumente,
- Mut zu ordnungspolitisch neuem Denken,
- politische Akzeptanz,
damit ABS ihr Image verändern können "erfolgreich scheiternde Organisationen zu sein, die ... an ihrem Auftrag und der eigenen Zielsetzung scheitern, aber dennoch gesellschaftlichen Nutzen stiften". (Hild 1997, 66) Ihr Erfolg darf sich nicht darauf beschränken, "symbolische Problemlösungen" bereitzustellen und so "Gesellschaft und Staat ... vom Druck wirksamer Problemlösungsanstrengungen entlasten". (Hild, 1997, 67)
Ein Weg scheint mit in der Neuorientierung der Ziele zu liegen. Eine Richtung könnte der "alte" Schlüsselqualifikationsansatz beschreiben, der die Aufgaben beruflicher Weiterbildung und hier erweitert auf Beschäftigung) auf drei Zielebenen beschreibt.
Mertens wollte eine Weiterbildung
- zur Bewältigung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit (subjektorientiert)
- zur Fundierung der beruflichen Existenz (arbeitsorientiert)
- zu gesellschaftlichem Verhalten (gesellschaftsorientiert).
Wenn wir diese Trias als Orientierungspunkt nehmen, könnte es nicht nur gelingen, ABM-Zeit zur wertvollen Orientierungszeit auch für diejenigen zu machen, die mittelfristig keine Reintegrationsperspektive haben, indem neben die Vermittlung von Fachwissen die Auseinandersetzung um Lebenswissen tritt, Funktionslernen um Identitätslernen erweitert wird (Tietgens), und dies innerhalb von Beschäftigungsprojekten, die sinnvoll sind, weil sie für die regionale Entwicklung wichtig sind.
Phantasievolle, anspruchsvolle Projekte sind am ehesten dort entstanden, wo mit einem erweiterten Verständnis von Region gearbeitet wurde. Wenn Region nicht nur als Wirtschaftsstandort sondern auch als sozio-kultureller Raum, als Heimat (im Sinne des Ortes meiner sozialen Bezüge, nicht als Herkunftsnachweis) (vgl. Wilkiewiec 1982, 56) begriffen wird, sind ABS eher in der Lage, auch ihren Beitrag zur regionalen Strukturentwicklung zu leisten. (Bsp. Chronistinnen-Qualifizierung, Landfrauen als Dorfentwicklerinnen, LisU-Projekte, vgl. Brüning 1998, Reutter 1996)
Dabei ist unbestritten, daß in derartigen Projekten unmittelbar berufsrelevante Kompetenzen vermittelt werden. Gerade die neueren Anforderungen, die berufliche Handlungskompetenz als Kombination von Fach-, Methoden-, sozialer und personaler Kompetenz beschreiben, werden hier besser erfüllt als dies in klassischen, erwerbsarbeitsbezogenen Projekten der Fall ist.
Sie setzen allerdings voraus, daß von seiten der Geldgeber und der Einrichtungen ein hohes Maß an Vertrauensvorschuß in die Kompetenz der Beteiligten gewährt wird. Sinnvolle Projekte können in der Regel nicht en detail curricular geplant werden, es sind Versuche mit offenen Ausgang. Es hat sich aber gezeigt, daß das Vertrauen in die Kompetenz der Beteiligten im Projektverlauf zur Kompetenzerweiterung beiträgt. Ein traditionalistischer Ansatz, der an der Behebung vermeintlicher oder tatsächlicher Defizite der ABM-TeilnehmerInnen ansetzt, greift hier ins Leere.
Lassen Sie mich zum Schluß noch auf andere Brückenfunktionen eingehen, die der zweite Arbeitsmarkt übernehmen könnte, wenn wir uns gesamtgesellschaftlich darauf verständigen könnten, daß das klassische Modell der Vollerwerbsgesellschaft ein Auslaufmodell darstellt. Dann wäre die Konstruktion von Brücken vorstellbar, die einen fließenden Verkehr in beide Richtungen ermöglichen.
Wenn "die Brücken dauerhaft institutionalisiert sind, stellen sie für einzelne und Betriebe befristete Optionen dar, die bedingt durch lebensbiographische Phasen oder wirtschaftliche Umstände genutzt werden". (Schmid 1994, 46)
Schmid unterscheidet fünf Brücken oder Übergänge:
- Übergänge zwischen verkürzter und vollzeitiger Beschäftigung oder zwischen Lernen und Produzieren am Arbeitsplatz,
Übergänge zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, Übergänge zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem, Übergänge zwischen privater Tätigkeit und Berufstätigkeit Übergänge zwischen Arbeit und Rente." (Schmid 1994, 47) Einige dieser Brücken sind ansatzweise schon konstruiert, andere noch außerhalb unseres Denkens. Diese Brücken zu konstruieren ist allerdings eine Aufgabe, die nicht von den ABS zu leisten ist. Sie ist Aufgabe der anerkannten Akteure unserer Gesellschaft, also derjenigen, die über Entscheidungsmacht und Gestaltungsmöglichkeiten verfügen. Eine Neudefinition des Arbeitsbegriffs von denen zu erwarten, die gewaltsam aus Erwerbsarbeit ausgegrenzt sind, wäre zynisch.
Lassen Sie mich schließen mit einem Zitat des alten Lichtenberg:
"Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Ich weiß nur, daß es anders werden muß, wenn es gut werden soll."
Literatur
G. Brüning (Hrsg.): Innovative Modelle beruflicher Weiterbildung, Frankfurt/Main 1998
P. Hild: Netzwerke der lokalen Arbeitsmarktpolitik, Steuerungsprobleme in theoretischer und empirischer Sicht, Berlin 1997
G. Reutter: Regionale Vernetzungen beruflicher Erwachsenenbildung - eine langfristige Aufgabe, in: Report 38/1996, S. 71-84
G. Schmid: Übergangsmärkte: Eine neue Strategie kommunaler und gewerkschaftlicher Bildungspolitik, in: ÖTV (Hrsg.): Kommunale Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik und gewerkschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten, Dokumentation der Arbeitstagung in Berlin vom 9. Bis 11. März 1994
B.-G. Spies: Trägerstrukturen im ökonomischen Strukturbruch Ostdeutschlands, in: H. Meinelt u.a. (Hrsg.): Arbeitsmarktpolitik nach der Vereinigung, Berlin 1994
M. Trier: Erwachsenenlernen im zweiten Arbeitsmarkt, in Report 38/1996, S. 59-70
Ch. Wilke: Perspektiven und Entwicklungsmöglchkeiten von Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften, in: BAG Arbeit (Hrsg.): Forum Arbeit 1/1996
L. A. Wilkiewiec: Heimat als Lebenswelt, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Politische Bildung mit Spätaussiedlern, Bonn 1982, S. 53-73
Gerhard
Reutter: "Zweiter
Arbeitsmarkt – Brückenfunktion für welche Ufer?" Online im Internet –
URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-1999/reutter99_04.htm
Dokument aus dem Internet-Service
des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid