Sylvia Koch-Weser,  November 1997


Vortrag auf der Tagung "Eine Zukunft für Frauen und Männer", 12.-14. November 1997. Vollständige Dokumentation der Tagung

„Wolfsfrau" trifft „Green man"

Über Natur – Weiblichkeit und Männlichkeit

Um zu erklären, warum ich die Figuren „Wolfsfrau" und „Green man" zu einem Treffen ermuntere und um den größeren Zusammenhang zu zeigen, in dem ich die beiden sehe, greife ich auf ein geläufiges Beziehungsmodell zurück:

In diesem Modell von Partnerschaft (1) wird jeder Teil gestärkt und gefördert, wenn er die anderen Teile stärkt und fördert. Das Übergreifende „Wir" kann nur gelingen, wenn jeder Teil sich selbst und die beiden anderen Teile wahrnimmt, würdigt und stärkt.

In Analogie dazu stelle ich die Wolfsfrau und den Green man nebeneinander (2) und in die sie umgebende Natur. Die Idee – in der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft von Männern und Frauen in dieser Welt – ist, daß Frauen, die ihre Wolfsfrau, und Männer, die ihren Green man jeweils wahrnehmen, würdigen und stärken, auch besser in der Lage sind, ihr jeweiliges Gegenüber zu würdigen und zu stärken. Gleichzeitig können sie durch die Verbindung mit der Natur, die in ihnen wirkt und die sie umgibt, die Kraft und die Ideen gewinnen, um auch diese zu achten und zu schützen.

Wenn ich von Wolfsfrau und Green man rede, dann sind dies Metaphern: Die Wolfsfrau steht für die „Wildnatur" der Frau, ihr ungezähmtes, ungezwungenes Wesen, für die „wilde Frau", die Urfrau. „Wild" könnte in diesem Zusammenhang ein Geschöpf heißen, wenn es sich eine möglichst natürliche Lebensweise, die ihm innewohnende Integrität und klare, gesunde Grenzvorstellungen bewahrt oder diese wiedergefunden hat.

Die Wolfsfrau ist ein Wesen mit hellwachen Sinnen, sie agiert aus dem Bauch heraus, sie hält die Verbindung zu ihrem Körper und seinen Rhythmen; sie hat Zugang zu dem kollektiven Erbe aller Frauen.

Der „Grüne Mann" ist eine Figur, die erstmals im 5. Jahrhundert v. Chr. in Form eines Laubkopfes, wohl einer Gottheit, die in eine Steinsäule gehauen wurde, auftaucht und die bis heute immer wieder in Mythen, Märchen, Bildhauerei, Kunst und Brauchtum erscheint. Er begegnet uns als Blattmaske oder als Vegetationsspeier, in jedem Fall als innige Verbindung zwischen dem Gesicht eines Mannes und der Natur in Gestalt von grünen Blättern und Ranken. Der Grüne Mann könnte uns ein inneres Bild sein für ein tiefes Verständnis von natürlicher Männlichkeit. Er hat das Wissen um die Gesetze der Natur und sorgt sich um ihre Einhaltung, er ist mit dem zyklischen Auf und Ab des Lebens, dem Rhythmus von Leben und Tod vertraut und hat Verbindung mit der Vegetation und ihren Lebewesen. Er kann Fühlung aufnehmen mit den tief im Innern liegenden Wahrheiten und Kraftquellen. So hat er Zugang zur Energie des Magiers.

Meine Fragestellung für unsere Arbeitsgruppe ist: Was könnte es für das Geschlechterverhältnis bedeuten, wenn die Frauen sich mit ihrer Wolfsfrau und die Männer sich mit ihrem Grünen Mann verbinden und so in den Dialog miteinander treten?

Und: Könnte dies ein Weg sein, ein neues ökologisches Verständnis von sich selbst, von anderen und im Umgang mit der Natur zu finden?

Aufgrund dieser Ankündigung wollte ein Drittel der Tagungsteilnehmer in der Arbeitsgruppe „‘Wolfsfrau’ trifft ‘Green man’" mitarbeiten. Dies sprengte zwar die rechnerisch gleichmäßige Aufteilung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Arbeitsgruppen, unterstrich aber die „Power", mit der das Thema bearbeitet werden sollte.

Die Arbeitsgruppe „‘Wolfsfrau’ trifft ‘Green man’"

Sieben Frauen und sechs Männer sitzen im Kreis. Eine „Rose von Jericho", eine Trockenpflanze, wird während der Vorstellungsrunde herumgereicht. Jede/r gibt ihr Wasser, während die Gruppenmitglieder mitteilen, welches ihr Interesse an gerade diesem Thema ist. Im Laufe der Zeit öffnet sich die Pflanze und offenbart ihre verborgene Schönheit, ein Symbol für die Zyklen von Werden und Vergehen, ein schönes Symbol auch für Aktivität und Ruhe, für Geben und Nehmen, für Tun und Lassen und die Balance zwischen diesen Polen. Wolfsfrau und Green man sind damit vertraut.

Begegnung mit der Wolfsfrau

Wir treffen die Vereinbarung, daß die Männer erst zuhören, beobachten, erleben und darauf achten, was bei ihnen von den Frauen ankommt.

Zehn Minuten Wolfsgeheul aus den Weiten Alaskas, wohin die letzten Wölfe von der Zivilisation zurückgedrängt worden sind. Ein Wolf heult, das Rudel antwortet, und es antwortet in einer Sinfonie von Klängen, die sich mischen, verweben und aufeinander abstimmen in immer neuen Klangfarben. Ein Wolf oder eine Wölfin ruft: Hier bin ich – wo seid ihr? Das Rudel antwortet: Wir sind hier, wir hören dich, hier sind wir. Und alle ringsum hören: Hier ist das Land der Wölfe. Das ist ihr Revier.

Betroffenheit bei den Frauen. Auch Tränen in den Augen. Was ergreift uns da, was berührt so stark, was läßt die Gefühle aufwallen, was umklammert das Herz?

Was haben Frauen und wilde, in den äußersten Winkeln der Erde lebende Wölfe gemeinsam?

In dem Maße, wie ursprüngliche Naturgebiete zerstört und die Natur und ihre Geschöpfe von der Zivilisation unterworfen, ausgebeutet und einverleibt werden, in dem Maße schwindet auch unsere Erinnerung an unser eigenes Wildwesen.

Dies trifft Frauen besonders, da sie durch zwei- bis dreitausendjährige patriarchale Herrschaft zu Fremden in ihrer eigenen Kultur geworden sind und die Verbindung zu ihrer Wildnatur unter einem Gebirge von überzivilisierten, angepaßten Verhaltensweisen erstickt wird. Dieses Ersticken äußert sich dann als Kleinmut, Ängstlichkeit, oder Feigheit. Es kann sich in dauernden Schuldgefühlen, Überempfindlichkeit und dem Gefühl, schwach, ausgelaugt, überflüssig und häßlich zu sein, ausdrücken. Und wenn frau wieder einmal das Gefühl hat, viel zu nett, freundlich und höflich gewesen zu sein, wieder ihr Anliegen dem „Gemeinwohl" untergeordnet zu haben anstatt die eigenen Ideen zu verfolgen oder ihre Argumente mit Überzeugungskraft und Vehemenz vorzubringen, dann sehnt sie sich mit ihrem ganzen Körper danach, die Knebel herauszuspucken, die Krallen zu zeigen und wie die Wölfe mit ihrem Geheul zu zeigen: Hier bin ich!

Um sich „ungezähmt" und „wild" verhalten zu können, um der eigenen Instinktnatur folgen zu können, das heißt auch die Dinge zu tun, die einem selbst wirklich wichtig sind, ist es zwingend nötig, daß Frauen erst eine Art „Psycho-Archäologie" (Estés 1993) betreiben, um die weiblichen Urinstinkte freizuschaufeln. Dabei müssen nicht nur gesellschaftlich vorgegebene frauenspezifische Regeln und Zuschreibungen überwunden, sondern auch innere, zum Teil selbstauferlegte Einschränkungen erkannt und aufgegeben werden. Was dann zutage tritt, nennt Estés „die Wolfsfrau", die „weibliche Ursprünglichkeit schlechthin".

„Freilebende Wölfe und ungekünstelte Frauen haben vieles gemeinsam: die Akkuratheit ihres instinktiven Feingefühls, eine Vorliebe für alles Spielerische und eine schier unverrückbare Loyalität. Beide Gattungen sind von Natur aus beziehungsorientiert, sie schnüffeln gern neugierig herum, sie sind wißbegierig, spitzfindig, zäh, ausdauernd und seelenvoll. Was ihre Jungen und den Rest des Rudels angeht, so legen sie ein untrügliches intuitives Gespür an den Tag. Sie sind anpassungsfähig, standhaft, und in Krisensituationen beweisen beide Gattungen einen todesmutigen Heroismus." (Estés 1993, S. 14)

Voraussetzung, diese Wolfsfrau in sich zu entdecken und freizulegen und ihr ein Territorium zu schaffen, ist die Bereitschaft, die tiefen Geheimnisse der eigenen Seele zu ergründen. Ein Weg dazu kann ein tiefes Erlebnis sein, das Wunden geschlagen und Narben hinterlassen hat. Oder ein Erlebnis, das das Herz aufreißt, so daß der Atem stockt und Freude alles überschwemmt. Auf dem Gipfel eines Berges zu stehen und von der Schönheit der Natur überwältigt zu werden oder ein neugeborenes Kind in den Armen zu halten, könnte so ein Erlebnis sein.

Glücklicherweise gibt es unzählige Wege, zu sich selbst zu finden. In meinen Kursen „Begegnung mit der Wolfsfrau" biete ich in einem geschützten Rahmen den Frauen die Möglichkeit, neue oder verschüttet geglaubte Zugänge zu ihrer Mitte zu entdecken. Das kann das Eintauchen in die Natur bewirken, zum Beispiel in einer Vollmondnacht gemeinsam über eine weite, in mildes Licht getauchte, von Wald eingesäumte Wiese zu gehen und zu spüren, daß man ein Teil eines großen Ganzen ist. Es kann durch das Erleben der eigenen Kreativität beim Tanzen, Trommeln oder Töpfern ausgelöst werden. Es kann geschehen, während wir ein Feuer entfachen, in einer Höhle zusammensitzen, uns mit Kräutern und Düften verwöhnen, uralte Handgriffe ausführen oder die Gelegenheit wahrnehmen, den Emotionen freien Lauf zu lassen und laut und lustvoll aufzuheulen.

Auf der Suche nach der eigenen Wolfsfrau

Welche Gefühle löst dies bei den Frauen aus?

Ich frage sie: Was wünscht ihr euch von eurer eigenen Wolfsfrau? Ihr kennt sie – sonst wäret ihr nicht hier. Welche Eigenschaften, welche Qualitäten, welche Fähigkeiten möchte eure Wolfsfrau leben?

Nach kurzem Zögern, auch Ringen um Fassung, Suchen nach Worten, kommt die Antwort: der Wunsch, auf die Intuition zu hören und ihr zu folgen. Intuition? Dahinter verbirgt sich sehr viel Verschiedenes. Denn für jede Frau bedeutet es in einer bestimmten Situation oder Phase ihres Lebens etwas sehr Unterschiedliches, der eigenen Intuition zu folgen. So versuchen wir die Möglichkeiten zu fassen, die dann gelebt werden können, wenn intuitiv richtig gehandelt wird. Mut, Mut zum eigenen Selbst, Mut, die Zähne zu fletschen, Mut, Entscheidungen zu fällen und sie durchzuführen. Der Wunsch, die Kraft dazu zu finden, der eigenen Spur zu folgen und darauf zu vertrauen. Die eigene innere Stimme zu erkennen und ihr zu folgen; den eigenen Körper wahrzunehmen, auf seine Rhythmen zu hören, nicht gegen ihn zu leben, Raum für sich allein zu nehmen und zu gestalten, Raum, der nicht gerechtfertigt oder begründet werden muß, Raum, der es ermöglicht, das zu pflegen, was gerade für die eigene Entwicklung wichtig ist...

Bei der Formulierung dieser Wünsche an die eigene Wolfsfrau wurden die Schranken und Schwierigkeiten deutlich, die der Verwirklichung dieser Wünsche und Fähigkeiten entgegenstehen. Verunsicherung darüber, was das innere Selbst wirklich will und braucht, Überlagerung der eigenen Stimme durch zahllose von außen aufgenommene oder aufgezwungene andere Stimmen. Hilflosigkeit bei der Bewältigung des Alltags, Kraftlosigkeit, Resignation, ja Verzweiflung, weil die Orientierung immer wieder verloren geht oder der Mut nicht ausreicht, um Änderungen umzusetzen, den Widerstand aufzunehmen, den Gegebenheiten entgegenzutreten. Verzweiflung darüber, daß ein anderes Wesen in mir eingesperrt ist und heraus will statt dem, das ich nach außen hin lebe und darstelle. Manche Frauen spüren diese als Trauer beim Heulen der Wölfe, es rührt sie so tief an, daß sie weinen mögen. Oder es fehlt – auf diese Themen gestoßen – ihnen erst einmal die Sprache, um diese Gefühle auszudrücken.

Weitere wichtige Fragen sind: Wie gehe ich mit meinen Ressourcen um, wo setze ich die Grenzen, wo lege ich die Schwerpunkte, wo ringe ich mich zum klaren Nein durch und erkläre deutlich, was ich will und was nicht? Viele Frauen halten diese Fähigkeit für eine ganz elementare Voraussetzung, um kreativ sein und sich rund und wohl fühlen zu können. „Ein rundes, warmes Gefühl im Bauch", dann weiß ich, daß ich bei mir bin und mir folge. Dazu gehört, den Rhythmen des eigenen Körpers zu folgen, sein zyklisches Auf und Ab wahrzunehmen und zu würdigen und dies in Zusammenhang mit den Zyklen der Natur zu setzen. Als Teil der Natur kann ich meinem Körper näher sein, meine Verbindung mit der Natur pflegen und leben, auch Kraft schöpfen aus dem engen Kontakt zu Bäumen, Kräutern, Blumen und Tieren. Hilfe und Unterstützung finden wir bei anderen Frauen. So können wir das gemeinsame kollektive Erbe nicht nur wahrnehmen, sondern uns auch darauf beziehen und es gemeinsam pflegen.

Wie reagierten die Männer auf die Wolfsfrau?

Die Männer hörten zu und ließen das Geschehen auf sich wirken. Was kam bei ihnen an, welche Gefühle wurden ausgelöst?

Keiner der Männer empfand beim Wolfsgeheul Angst, sie hatten eher ein „Jack-London-Gefühl". Die Symphonie der Stimmen beeindruckte. Man war angerührt von der Suche der Frauen nach ihrem eigentlichen Selbst und spürte, daß ihnen sehr starke Mächte entgegenstanden. Einer meinte, seine Frau würde bei ihm offene Türen einrennen, wenn sie ihre Wolfsfrau leben würde, im Gegenteil, er hätte nichts dagegen, wenn sie zielstrebiger, handlungsfähiger, emotionaler und wilder oder spontaner handeln und leben würde. Daraufhin fragte ein anderer Mann, ob nicht doch Ängste bei den Männern vorhanden seien. Es sei doch etwas ungewohnt, daß die Wolfsfrau eine ganze Reihe von männlichen Zuschreibungen für sich reklamiere: die Zähne zeigen, den eigenen Willen durchsetzen, wild, mutig, kraftvoll sein. Sind Männer so einfach bereit, den Frauen das zuzugestehen? Zweifel.

Zwischenfrage an die Frauen: Wie reagierten Eure Männer, Liebhaber, Freunde auf die Wolfsfrau? Schon das Wort reizte dazu, sich darüber lustig zu machen. War das eine Abwehr durch Angriff aus Angst, daß die Wolfsfrau sich auf Kosten der Männer verwirklichen könnte? Aber es kamen auch Unterstützung, Hilfsangebote oder wohlwollend angebotener Freiraum, daneben jedoch auch Hilflosigkeit und Verunsicherung. Also scheint es nicht ganz so einfach für die Männer zu sein, damit umzugehen.

Wir ließen das so stehen und nahmen zum Abschluß noch einen Impuls zur weiblichen Kraft auf: afrikanischer Tanz, im Kreis stampfend mit festem Kontakt zu Erde, rhythmisch ins Becken hineinschwingen, ein symbolisches Geben und Nehmen, bei sich sein und nach außen treten. Den Frauen tat die Gleichförmigkeit der rhythmischen Bewegungen sichtlich gut, die Männer lösten sich bald heraus und „tänzelten aus der Reihe". Spaß schien es allen gemacht zu haben.

Der Grüne Mann wird vorgestellt

Bevor ich den Green man vorstellte, machte ich auf die Einschränkung aufmerksam, daß ich als Frau den anwesenden Männern eine mögliche männliche Identifikationsfigur vorstelle. Es ist also mein weiblicher Zugang zu einer Figur, die für mich die Verbindung von Natur und Männlichkeit symbolisiert. So war ich gespannt, was die Männer damit anfangen konnten. Die Frauen waren aufgefordert, die Reaktionen der Männer zu beobachten und nachzuspüren, wie der Grüne Mann auf sie wirkte.

Wir sahen uns Bilder von Grünen Männern an: Das erste zeigt ein Gesicht eines Mannes, das aus Akanthus-Blättern gebildet ist. Die Augen, die aus den Blättern hervorlugen, können uns überallhin verfolgen. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, daß dieses in Stein gehauene Gesicht über unzählige Augen zu verfügen scheint, die durch die Lücken in den Blattachseln gebildet werden. „Nicht ganz freundlich!" lautete ein Kommentar aus der Gruppe. Die Information, daß dieser Kopf einen Teil des Sockels bildet, auf dem der Bamberger Reiter – das Standbild für mittelalterliche männliche Tugenden – steht, sorgte für Erstaunen. Die unauflösliche Verbindung des menschlichen Kopfes mit einer Pflanze könnte zeigen, daß der Grüne Mann ein Mischwesen ist. Ein Mischwesen, wie es zum Beispiel auch das Einhorn ist, ein Pferd mit dem Spiralhorn eines Narwals als Symbol für spirituelles Wissen, oder wie der Zentaur, ein Mischwesen aus Mensch und Pferd, der Erzieher von Helden. Der Grüne Mann als Symbol für einen, der die Naturgesetze kennt und sie zum Ausdruck bringt?

Ein weiteres Bild: Ein ernstes, männliches Gesicht; aus dem Mund des Mannes quellen Weinblätter, die gleichen Blätter, die auch sein Gesicht umranken. Seine Augen sind in die Ferne gerichtet und strahlen innere Sammlung und Würde aus. Der Grüne Mann als Fruchtbarkeitsgott? Als Vegetationsspeier? Grüne Männer finden sich gehäuft in Kirchen als Schlußsteine von Deckengewölben, auf Kapitellen und Säulen, also in tragender Funktion. Mehre Beispiele finden wir in der Elisabethkirche von Marburg, entstanden um 1340. Dort quellen goldene Eichenblätter aus dem Mund, umkränzen die Stirn und bilden Bart und Haare. Grüne Männer dürfen die Mutter Gottes tragen oder im heiligsten Bereich der Kirche residieren, rechts neben dem Altar, wie in der Frauenkirche in Nürnberg. Zwei von ihnen bewachen gar den Eingang der Kirche des Zisterzienserklosterns in Ebrach. Welche Kräfte werden hier beschworen? Sollen hier die Baumgeister, die über dieses Männer mit den Menschen sprechen, gebannt werden? Oder naturverhaftete Schutzgeister in die Kirche eingebunden werden? Vielleicht gegen die so gefürchteten Kräfte der mit der Natur eng in Bunde stehenden Hexen?

Lassen wir uns von weiteren Erscheinungsformen des Grünen Mannes inspirieren: Sehr schön sind in Holz geschnitzte und sorgfältig bemalte Männergesichter, aus deren Stirn und Wangen verschieden gestaltete Blätter herauswachsen. Aber nicht das hält den Blick des Betrachters gefangen, sondern die nach innen gerichteten, ja fast schon schielenden Augen. Dieses Schielen vermittelt den Eindruck, als blicken diese Gesichter durch die Dinge hindurch. Als fixieren sie gerade nicht das Vordergründige, sondern das hinter den Dingen Liegende, gleich einem 3-D-Blick, der auch erst durch eine bestimmte Stellung der Augen das eigentliche Geheimnis eines Bildes zu enthüllen vermag. Für mich ist das ein deutlicher Hinweis auf die Fähigkeiten des Magiers im Grünen Mann. Der Magier ist der Archetyp der Wahrnehmungskraft, der Besinnung und Reflexion, der Verbindung mit tief im Innern liegenden Wahrheiten und Kraftquellen und der Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit heiligen Räumen und „übersinnlichen" Wesenheiten. „Was wir als Alltagswirklichkeit erfahren über uns selbst und über die Natur ist nur die Spitze eines Eisberges, der aus unergründlichen Tiefen aufsteigt. Das Wissen um dieses verborgene Reich ist die Domäne des Magiers." (Moore/Gilette 1992, S. 141)

Faszinierend, wo dieser Grüne Mann, ist man erst einmal auf ihn aufmerksam geworden, überall auftaucht. Er begegnete mir an der Stuckdecke des Tassilosaales in Wessobrunn in Bayern, genauso wie auf den wenigen noch vorhandenen Schlußsteinen der Kirche eines Benediktinerklosters auf dem Disibodenberg in Rheinland-Pfalz. Seine Ursprünge sind sicherlich sehr alt und liegen weit vor unserem christlichen Zeitalter. Eine der ältesten bekannten Abbildungen ist eine Säule von St. Goar aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., die den Laubkopf einer Gottheit zeigt (vgl. Anderson 1993, S. 53). In den gleichen Zeitraum gehören Abbildungen des Dionysos, die Assoziationen zum Grünen Mann zulassen. „Dionysos als Gott der Vegetation, Verursacher des heiligen Wahnsinns und des Rausches, oder aber als Enthüller der Mysterien der kreativen Lebenskräfte und der Unterwelt, war eine der universellen Manifestationen der archetypischen gemeinsamen Quelle des Grünen Mannes (...)." (Anderson 1993, S. 45 f.)

Heutige „lebendige" Bezüge zum Grünen Mann finden wir in der Tradition des „Grünen Georgs", bei der in Kärnten an Pfingsten, also in der Zeit des Frühlingserwachens, ein in Birkenzweige gehüllter junger Mann in den Dorfteich gestoßen wird. Im Taunus zieht das „Laubmännchen" durch die Ortschaft, und in der bayerischen Version wird der „Pfingstl" oder „Wasservogel" – ebenfalls ein mit Blättern geschmückter junger Bursche – durchs Dorf geführt, von den Frauen mit Wasser übergossen und zum Schluß im Dorfweiher untergetaucht. Bei einem ähnlichen Ritual in England wird „Jack in the Green", ein 2,40 Meter hoher wandelnder Blätterturm, mit Holzschwertern niedergestochen.

Es handelt sich hier um Fruchtbarkeitskulte. Das Übergießen mit Wasser dient der Anrufung der Wassergeister. Der „Grüne Georg" ist die Verkörperung der Fruchtbarkeit. Er muß seinen rituellen Tod sterben, nachdem er die Erde befruchtet hat, um den Reigen der Vegetation von Leben, Tod und Wiederauferstehen in Gang zu halten. Dies erinnert an das uralte Herosmuster: „Die Große Mutter, die Verkörperung der Fruchtbarkeit der Erde, hat einen männlichen Begleiter, ihren Heros und Sohngeliebten. Während sie selber aber jenseits aller Tode die Unwandelbare, Ewige bleibt, stirbt ihr Sohn, die Verkörperung des grünen Lebens, jedes Jahr den Herbsttod und wird im nächsten Frühjahr von ihr wieder im Triumph aus der Unterwelt heraufgeführt." (Kufner 1992, S. 24) Der Grüne Mann ist in die Rhythmen des Werdens und Vergehens fest eingebunden.

Alle diese Erscheinungsformen des Grünen Mannes scheinen uns auf eine innige Verbindung zwischen Mann und Natur hinzuweisen, die weitgehend in Vergessenheit geraten ist, jetzt aber wieder in unser Bewußtsein dringt.

Wie reagierten die Männer auf den Grünen Mann?

Die Männer der Arbeitsgruppe waren nun am Zug. Die ersten Stellungnahmen zum Grünen Mann lauteten: eine sehr spannende Figur, ein „schaurig schönes Underground-Gefühl" beim Betrachten der Bilder, ein „toller Impuls" und das Gefühl, auf etwas gestoßen zu sein, was völlig verschüttet war. Einer führte aus, daß er sich wohl erinnere, solche Laubköpfe schon einmal gesehen zu haben, er habe sie bisher als Symbole einer doppelten Unterdrückung, nämlich der Natur und der Frauen, durch die Kirche empfunden, was ja auch durchaus so gemeint sein könnte, habe sie aber damit für sich selbst abgelehnt. Das neue Licht, das jetzt auf diese Skulpturen gefallen sei, berühre einen Bereich, nach dem er immer wieder suche. Jahrelange Politik bei den GRÜNEN habe ihn nicht damit in Verbindung gebracht, im Gegenteil. Er spüre jetzt, daß sich die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Qualitäten des Grünen Mannes für ihn lohne. Ein anderer Mann hob die positive Macht des Grünen Mannes, die auf die Regeneration gerichtet ist, hervor.

In mehreren Beiträgen wurde über den männlichen Anteil am Leben nachgedacht. Assoziationen mit perversen männlichen Phantasien dazu, wie die auf den Tod ausgerichtete „Cruise Missile", die analog den männlichen Samenzellen ihr Ziel aufsucht und findet, oder das Telegramm der Amerikaner mit dem Wortlaut „It’s a boy!" beim Zünden der ersten Atombombe gehören ebenso dazu wie der Hinweis darauf, daß der männliche Anteil an der Schaffung von Leben verdeckt sei und die Gebärfähigkeit der Frau immer im Vordergrund stünde. „Ohne die Hilfe eines Mannes hat noch keine Frau ein Kind zur Welt gebracht!" Dieser Satz aus dem Munde eines Arztes rief spontane Proteste der Frauen hervor und machte deutlich, daß hier Empfindlichkeiten bei beiden Geschlechtern merkbar waren. Die Frauen dachten an die Geburt, der Mann an die Zeugung, und hinter diesem Mißverständnis brach unverhohlen die Frage nach dem Anteil an Macht hervor.

Die Auseinandersetzung mit den Rhythmen und Kreisläufen der Natur schien ein fremdes Territorium für die Männer zu sein, dennoch wurde der Wunsch formuliert, damit vertrauter zu werden.

Die Frauen mischten sich ein

Je besser ein Partner sich der zyklischen Veränderungen des seelischen und körperlichen Befindens einer Frau bewußt ist, um so besser kann er adäquat damit umgehen; zum Beispiel entfallen „hausgemachte" Schuldgefühle seitens des Mannes, die damit zusammenhängen, daß er sich für die Stimmungsschwankungen seiner Partnerin verantwortlich fühlt, und die Frau fühlt sich besser verstanden.

Was den Grünen Mann betraf, so empfanden die Frauen einerseits „etwas Unheimliches", auf der anderen Seite auch eine durchaus attraktive sexuelle Ausstrahlung: „ Ist euch aufgefallen, daß alle diese Grünen Männer sehr sinnliche Lippen haben?" Sehr entgegen kam den Frauen die Sorge des Grünen Mannes um die Natur und sein Bemühen um ihren Schutz. Die Absichten der Männer, sich deutlicher zum Leben zu bekennen, wurden wahrgenommen. Und doch, die Gefühle waren gemischt, diffuses Unbehagen kam hier und da zum Vorschein. Ich fragte die Frauen: „Habt ihr Angst, daß der Grüne Mann euch etwas wegnimmt?" Nachdenken. Schweigen. Und dann: „Ja, ich empfinde, daß er in die Domäne der Frauen einbricht, daß er Dinge für sich reklamiert, die uns Frauen gehören. Solche Dinge wie Fruchtbarkeit und Leben hervorzubringen." Sofort ist deutlich, daß wir hier wieder an einem Punkt angelangt waren, wo der Dialog zwischen Männern und Frauen wirklich geführt werden mußte.

Welche Gesichtspunkte bringen Wolfsfrau und Grüner Mann in den Dialog der Geschlechter ein?

In verschiedenen Beiträgen wurden Assoziationen mitgeteilt. Zum Beispiel wurde die These aufgestellt, daß der pankulturelle Status der Frau als zweitklassig damit zusammenhänge, daß die Frau eher mit Natur identifiziert werde, der Mann dagegen eher mit Kultur. Könnte die Kraft der Wolfsfrau, die der Frau hilft, in Übereinstimmung mit ihrer Natur auch ihre eigene Kultur zu formen, und die Kraft des Grünen Mannes, die den Mann darin unterstützt, sich auch als Teil der Natur zu begreifen, ein Weg sein, aufeinander zuzukommen und besser miteinander umzugehen?

Am Puls der Wolfsfrau oder des Grünen Mannes zu leben bringt uns sicher aus dem Takt der „Zeit ist Geld"-Uhr. Denn in der sich aufgeklärt wähnenden Industriegesellschaft gilt es als Fortschritt, sich möglichst weit von den Rhythmen der Natur abzukoppeln, „non-stop" als Fetisch der Moderne (vgl. Geißler 1995, S. 9 ff.). Kinder-, ja lebensfeindliche Bedingungen sind die Folge, unter denen Frauen und Männer in spezifischer Form leiden und darüber nur allzuoft in unfruchtbaren Streit geraten. Wolfsfrau und Grüner Mann ziehen da an einem Strang.

Führt die Absicht, daß Frauen sogenannte männliche Eigenschaften für sich reklamieren und Männer Zuschreibungen für sich neu wahrnehmen, wie Sorge für das Leben zu tragen, sich fruchtbar zu fühlen, die Naturrhythmen zu beachten, nicht dazu, daß sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern verwischt und alles langweilig werden läßt? Andererseits sind die Eigenschaften und Fähigkeiten, die die „Hexe" als naturkundige Heilerin und Seherin hat, doch andere als die, die der „Magier" verkörpert. Beide „arbeiten" zwar im gleichen Bereich, doch das bedeutet noch lange nicht, daß sie das Gleiche tun.

Das Ergebnis der Arbeitsgruppe wird getanzt

Eine verbale Zusammenfassung unserer gemeinsamen Erfahrungen an diesem Vormittag für das nachmittägliche Plenum wurde abgelehnt. Dieser angestoßene Prozeß sei so dicht und so intensiv, das Fassen in Worte mache ihn platt und zerstöre ihn.

Viel Persönliches und auch Intimes war von den einzelnen Teilnehmern eingebracht worden. Wir spürten die Veränderung, sie entzog sich aber unseren Worten, jedenfalls in der Form, daß wir kein sprachliches Ergebnis produzieren konnten.

Da kam uns der Zufall zu Hilfe. Ein Teilnehmer wollte noch einmal unterstreichen, daß Frauen und Männer jeweils in gleichgeschlechtlichen Gruppen ihre Identität finden sollten, um dann immer wieder mit neuen Impulsen in den Dialog der Geschlechter zu treten. Ihm fiel dazu ein schönes Bild ein, das er im Fernsehen in einem Bericht über afrikanische Tänze gesehen hatte: Die Männer tanzten in einer Reihe nebeneinander, und ihnen gegenüber tanzte eine Reihe von Frauen. Die Reihen kamen im Rhythmus der Musik aufeinander zu und gingen wieder auseinander, und so immer wieder, eine wellenförmige Bewegung. Er habe jetzt das Gefühl, daß dies ausdrücke, wie die Geschlechter in Zukunft miteinander umgehen sollten.

Mein Vorschlag, in Form eines Tanzes unsere Erfahrungen und unsere Diskussion in der Arbeitsgruppe dem Plenum mitzuteilen und damit trotz der sprachlichen Schranken unseren Prozeß in der Gruppe zu verdeutlichen, wurde sofort akzeptiert und ohne weitere Absprache nachmittags in die Tat umgesetzt.

Es war eine sehr intensive, schweißtreibende und außerordentlich spannende Erfahrung. Die laute, rhythmisch klare und durchschlagende afrikanische Trommelmusik war der gemeinsame Rahmen. Die Reihe der Frauen tanzte sehr einheitlich – wir hatten schließlich auch schon eine Wolfsfrau-Erfahrung am Vormittag darüber gemacht –, die Männer tanzten gegenüber, eine Verständigung fand über Blickkontakt statt. Die Gruppen tanzten aufeinander zu und wieder voneinander weg, eine Treffen in der Mitte brauchte seine Zeit, mehrere Anläufe – ähnlich wie in unseren Diskussionen –, dann entstand ein intensiver gemeinsamer Tanz. Nach einer halben Minute gingen wir wieder auseinander, die Frauen schlossen sich zum eigenen Kreis zusammen – aha, Frauengruppe! –, die Männer waren zuerst irritiert, verwirrt, beobachteten die Frauen, die sich in ihrem Kreis gegenseitig stärkten, und formierten sich dann auch zur Männergruppe. Beide Seiten öffneten sich, um wieder aufeinander zuzugehen, die Begegnung wurde intensiver. Und wieder folgte eine Welle des Auseinandergehens, der Rückkehr in die „eigene" Reihe. Die Frauen hatten erneut das Bedürfnis, einen eigenen Kreis zu formen. Diesmal verständigten sich die Männer schnell, den Dialog mit der Frauengruppe aufzunehmen, und kreisten die Frauen von außen ein. Spannend, wie sich das Gefühl der Frauen und ihre Art, zusammen in ihrem Kreis zu tanzen, durch diese Aktion der Männer veränderte. Nach einer Weile fühlten sich die Frauen zu sehr bedrängt und „brachen" aus der „Umkreisung" der Männer aus. Alles fand wieder seine Ordnung in den zwei sich gegenüber tanzenden Reihen. Nach fünf Minuten waren alle Tänzer und Tänzerinnen völlig außer Atem.

Erstaunlich, wie sich Kommunikation auf einer anderen Ebene intensivieren kann.

Die Begegnung von Wolfsfrau und Green man hat für beide Geschlechter neue Impulse ergeben. Diese Impulse betreffen die Verbindung mit der Natur und das Sich-Finden als Teil dieser Natur. Beide Figuren versprechen eine Anknüpfung an archaische und oft verschüttete Fähigkeiten und Qualitäten. Und beide formen ein inneres Bild, das die Integration bisher ausgeklammerter Fähigkeiten vorzeichnet. Die Einbindung der „Wildnatur" von Wolfsfrau und Green man fördert bei Frauen und Männern „natürlich" ganz unterschiedliche Veränderungen. Und es ist sicherlich sinnvoll, daß Männer und Frauen dieser Spur in gleichgeschlechtlichen Gruppen nachgehen. Der gegenseitige achtsame Umgang kann dann gelingen, wenn Wolfsfrau und Green man sich treffen und sich an ihren Entdeckungen und Entwicklungen teilhaben lassen. Auf einen spannenden Dialog dürfen wir uns freuen.

Literatur

Anderson, William: Der Grüne Mann, Walter Verlag 1993

Estés, Clarissa P.: Die Wolfsfrau, Heyne 1993

Held, Martin/Geißler, Karlheinz: Von Rhythmen und Eigenzeiten, Hirzel 1995

Kufner, Lore: Getaufte Götter, Pfeiffer Verlag 1992

Moore/Gilette: König, Krieger, Magier und Liebhaber, Kösel Verlag 1992


Sylvia Koch-Weser: „Wolfsfrau" trifft „Green man" Über Natur – Weiblichkeit und Männlichkeit – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2000/koch-weser00_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid