Theo W. Länge, Arbeit und Leben
Serge Noel Domenico, Cesep Ceseos
Paprella Laurent Assathiany, Culture et Liberté
Juni 2000


Bildungsfreistellung in Europa – eine Empfehlung

In der folgenden Empfehlung verstehen die Verfasser den Begriff Weiterbildung sowohl als allgemeine Weiterbildung, die die kulturelle und soziale Entfaltung des Individuums zum Ziel hat, wie auch als berufliche Weiterbildung.

Vorwort

Lebensbegleitendes Lernen ist zur Bewältigung der umfassenden Wandlungsprozesse in Europa und weltweit dringlicher denn je. Im Mittelpunkt des aus der Aktion Sokrates – Erwachsenenbildung geförderten Projektes ‚Bildungsfreistellung in Europa‘ steht deshalb die Frage, ob Bildungsfreistellung eine Strategie zur Förderung lebenslangen Lernens sein kann.

Die nachstehende Empfehlung ist ein Ergebnis dieses Projektes, das der Bundesarbeitskreis ARBEIT UND LEBEN gemeinsam mit den Partnern Centre Socialiste d’Education Permanente – CESEP (Belgien), Culture et Liberté (Frankreich) und Centro Studi Economici Sociali e Sindacali - CESOS (Italien) durchführt und das am 31.08.2000 nach zweijähriger Laufzeit endet.

Der Weg zu dieser Empfehlung führte über

Adressaten der Empfehlung sind die europäischen Institutionen, die Mitgliedsstaaten, regionale und lokale Körperschaften, die Sozialpartner und nicht zuletzt die Weiterbildungsanbieter. Alle Angesprochenen sind aufgefordert, einen Beitrag zur Verwirklichung eines individuellen Rechtsanspruchs aller Bürgerinnen und Bürger auf selbstbestimmte Lernzeiten zu leisten.


Präambel

Im Übereinkommen 140 der ‚International Labour Organisation‘ (ILO) vom 24.06.1974 wird u.a. ausgeführt, dass "die wissenschaftliche und technische Entwicklung und der Wandel der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen angemessene Vorkehrungen für einen Urlaub zu Bildungs- und Berufsbildungszwecken erfordert" (Präambel). Mit Verweis auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die das Recht jedes Menschen auf Bildung einschließt, hat sich damit Anfang der Siebzigerjahre die ILO als erste transnationale Institution mit Fragen der Bildungsfreistellung befasst. Bildungsfreistellung wird in der Folge definiert als Urlaub, "der einem Arbeitnehmer zu Bildungszwecken für eine bestimmte Dauer während der Arbeitszeit und bei Zahlung angemessener finanzieller Leistungen gewährt wird" (Artikel 1). Bildungsurlaub soll gewährt werden für die Berufsbildung sowie die allgemeine und politische Bildung (Artikel 2).

Bis heute haben acht Länder dieses Übereinkommen ratifiziert.

Am 23./24. März 2000, also etwa 25 Jahre später, befasste sich der Europäische Rat der Regierungen in Lissabon im Kontext neuer strategischer Ziele mit Fragen der Bildung und Weiterbildung. Dafür müsse "höhere Priorität für ein lebenslanges Lernen als Grundbestandteil des europäischen Gesellschaftsmodells (erreicht werden)". Zur Realisierung sollte eine Strategie entwickelt werden, die einen stetigen Wechsel zwischen Beschäftigung und Bildung fördert.

Das lebenslange Lernen hat nicht nur für die Verwirklichung sozialer Le-benschancen der Bürgerinnen und Bürger eine Schlüsselfunktion, sondern auch für die Umsetzung europäischer Entwicklungsperspektiven ist ein ständiger Lernprozess der Einzelnen notwendig. Das politische und kulturelle Zusammenwachsen Europas, der wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturwandel in Zusammenhang mit der Verwirklichung des Binnenmarktes und die Erweiterung und die Reformen der Institutionen der Union eröffnen neue Entwicklungschancen für Europa. Dazu ist es notwendig, deren demokratischen Gestaltungsprozess zu aktivieren und ständig zu vertiefen. Die Geschwindigkeit, mit der sich der politische, soziale und technologische Wandel vollzieht, erfordert eine kontinuierliche Aneignung neuer Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Die permanente und gleichgewichtige Weiterentwicklung nicht nur der beruflich-fachlichen sondern auch politischer, sozialer, kultureller und sprachlicher Kompetenzen erfordert eine Vielfalt lebenslanger Lernprozesse.

Bildungsfreistellung für das lebenslange Lernen in Europa

Die Beteiligung an Weiterbildung ist jedoch in starkem Maße abhängig vom bisherigen schulischen und beruflichen Werdegang. Nach wie vor ist eine Reproduktion sozio-ökonomischer, geschlechtsspezifischer und ethnischer Benachteiligungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen festzustellen.

Wenn politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklungschancen in Europa nicht vertan werden sollen, muss lebenslanges Lernen aller Bürgerinnen und Bürger durch die Verbesserung der Grundlagenbildung einerseits und der Rahmenbedingungen für die Weiterbildung andererseits gefördert und verstärkt werden.

Dafür sind verstärkte Anstrengungen in Hinblick auf die Weiterbildungsbemühungen der Einzelnen und der Weiterbildungsförderung durch die Institutionen und Sozialpartner notwendig. Teil dieser Anstrengungen muss es sein, eine Vielfalt unterschiedlichster Inhalte, Konzepte, Lernorte und Zeitarrangements weiterzuentwickeln und zu fördern.

Bildungsfreistellungsregelungen als individuelles, persönliches Recht für alle Bürgerinnen und Bürger können die notwendigen Zeitressourcen für die Weiterbildung schaffen. Sie sind als unabdingbarer Bestandteil eines Konzeptes lebenslangen Lernens in Europa zu betrachten.

Mit Bildungsfreistellung ist die Chance verbunden, sich außerhalb des täglichen Arbeitsdrucks persönliche, berufliche und gesellschaftliche Perspektiven in einem Lernprozess zu eröffnen, der über Anpassungsqualifizierungen am Arbeitsplatz hinausgeht. So sollte Bildungsfreistellung nicht in erster Linie betrieblich-ökonomischen Qualifizierungsinteressen dienen, sondern im Rahmen eines umfassenden Weiterbildungsbegriffes Inhalte aller Weiterbildungsbereiche ansprechen, wozu ausdrücklich auch Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens einschließlich der ungleichen Partizipationschancen der Geschlechter gehören.

Bildungsbenachteiligte und in der Weiterbildung unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppen können mit diesem Instrument verstärkt für die Teilnahme an Weiterbildung angesprochen werden. Eine sozial- und bildungspolitische Herausforderung, die aufgrund struktureller Ungleichheit in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auch heute noch ihre Aktualität nicht verloren hat.

Prinzipien für Bildungsfreistellungsregelungen in Europa

Bildungsfreistellungsregelungen gibt es bislang nur in acht EU-Mitgliedsstaaten. Aufgrund der bestehenden Mängel und der zu geringen Beteiligung ist der Bildungsurlaub in Europa nicht zu einem seinen Möglichkeiten entsprechenden Instrument der Weiterbildung geworden. Gründe dafür sind mangelnde Öffentlichkeit, Transparenz und Beratung, Widerstände in den Unternehmen gegen individuelle Bildungsansprüche und Angst um den Arbeitsplatz bei den Anspruchsberechtigten. Vielfach mangelt es auch am Willen der politischen Institutionen, Bildungsfreistellung für lebenslanges Lernen wirksamer werden zu lassen. Nicht zuletzt ist zu bedenken, ob die gegenwärtige Angebotsstruktur und –palette in notwendigem Maße Interesse und Akzeptanz potentieller TeilnehmerInnen findet.

Die notwendigen Prinzipien für Bildungsfreistellungensregelungen in Europa sind deshalb:

Handlungsebenen und Anforderungen

Europäische Institutionen

Die Kommission wird aufgefordert, ihre Bemühungen zur Förderung von Projekten, die die Erprobung und Entwicklung von Weiterbildung im Kontext von Bildungsfreistellung zum Inhalt haben (best practice) zu verstärken. Darüber hinaus wird die Kommission aufgefordert, eine Direktive zur Bildungsfreistellung zu entwickeln. Dies sollte im Rahmen des Dialogs der Sozialpartner geschehen.

Das Europäische Parlament sollte das ILO-Übereinkommen 140 ratifizieren und damit die weiterbildungspolitische Bedeutung von Bildungsfreistellung dokumentieren. Lebenslanges Lernen und die Notwendigkeit entsprechender Rahmenbedingungen sollte in die Charta europäischer Grundrechte aufgenommen werden.

Mitgliedsstaaten

Die EU-Mitgliedsstaaten sind aufgefordert, gesetzliche Regelungen zur Bildungsfreistellung für alle Bürgerinnen und Bürger zu schaffen bzw. im Sinne der formulierten Prinzipien weiterzuentwickeln. Darüber hinaus sollten sie ihr Engagement zur Schaffung bzw. Weiterentwicklung von Förderprogrammen für eine umfassende individuelle Weiterbildung verstärken.

Es wird empfohlen, die indiviuelle Weiterbildung in der Bildungsfreistellung anderen Formen der Weiterbildung in der Förderung gleichzustellen. Weiterhin wird empfohlen, den Unternehmen steuerliche Vorteile und eine Absenkung der Sozialversicherungsbeitrage bei der Gewährung von Bildungsfreistellung einzuräumen. Dies gilt auch für Betriebe, die Vertretungen für Bildungsfreigestellte vornehmen.

Regionale und lokale Körperschaften

Sie sind aufgefordert, ihr Engagement für die Förderung der Weiterbildung durch spezifische Förderprogramme zu verstärken. Ein besonderer Akzent ist auf den Aufbau lokaler Lernzentren und eines umfassenden Weiterbildungsberatungssystems zu legen (Evaluation von individuellen Bedarfen, Beratung für individuelle Bildungspläne, Evaluation und Zertifizierung erworbener Fertigkeiten und Fähigkeiten, etc.). Die Pluralität von Trägerstruktur und Angebot ist zu gewährleisten.

Die Schaffung von Bildungsnetzwerken ist zu fördern. Sie müssen bei der Entwicklung von spezifischen Angeboten für individuelle Bildungsplanungen im Rahmen der Bildungsfreistellung unterstützt werden.

Unternehmen

Unternehmen sollten Interesse nicht nur an fachlich qualifiziertem, sondern auch sozial kompetentem Personal haben. Deshalb sollten sie die Bildungsfreistellung dadurch unterstützen und fördern, indem die Rahmenbedingungen jegliche Diskriminierung und negative Konsequenzen für Bildungsfreigestellte verhindern.

Sozialpartner

Die Sozialpartner sind aufgefordert, die Bildungsfreistellung zu fördern. Dies kann geschehen durch eigene Weiterbildungsangebote, Öffentlichkeitsarbeit und Vereinbarungen über die Weiterbildungsförderung der Beschäftigten. Adressaten der Öffentlichkeitsarbeit sind die lokalen, regionalen, nationalen und europäische Institutionen. Die Sozialpartner werden aufgefordert, die konkreten Zugangs- und Teilnahmemöglichkeiten an der Bildungsfreistellung (Dauer, Finanzierung, Kosten, Anerkennung, etc.) auf den verschiedenen Ebenen zu verhandeln.

Weiterbildungsanbieter

Einrichtungen und Träger der Weiterbildung sollten ihre Tätigkeit am öffentlichen Interesse am lebenslangen Lernen in Europa orientieren. Insofern geht ihr Engagement über kurzfristiges Angebotsverhalten am Weiterbildungsmarkt hinaus. Sie sind darüber hinaus aufgefordert, Weiterbildungs- und Beratungsangebote auf der Grundlage von Bildungsfreistellung zu entwickeln, die die Bedürfnisse der Menschen einbeziehen (z. B. Beratung bei der Feststellung der Kompetenzen, Hilfe bei der individuellen Bildungs- und Berufsplanung). Dies gilt besonders für bildungsbenachteiligte Gruppen in der Bevölkerung.


Theo W. Länge/Serge Noel Domenico/Paprella Laurent Assathiany: Bildungsfreistellung in Europa - eine Empfehlung – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2000/laenge00_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid