Marion Meier, November 1997


Vortrag auf der Tagung "Eine Zukunft für Frauen und Männer", 12.-14. November 1997. Vollständige Dokumentation der Tagung

Die Zukunft der (heterosexuellen) Lebens- und Liebesformen

Wenn wir teilen, werden wir beide gewinnen

Bei meinen folgenden Überlegungen zu gegenwärtigen, zukünftigen und vergangenen Lebens- und Liebesformen habe ich vor allem die derzeit überwiegend üblichen im Blick: Sie werden gelebt von Frauen und Männern als aufeinander bezogene, sich begehrende und behindernde Gestalter von Lebens- und Liebesformen. Die Bedeutung dieses heterosexuellen Geschlechterverhältnisses für die Gegenwart und die Zukunft schwuler und lesbischer Lebens- und Liebesformen ist eine spannende Frage, über die ich nicht genug weiß.

„Männer und Frauen", sagt mein Freund Joachim, „sind eben nicht kompatibel." Über diese Sicht auf das Geschlechterverhältnis ist viel geschrieben und gesagt worden: daß Männer und Frauen unterschiedliche Kommunikationsstile hätten, daß Senderin und Empfänger auf unterschiedlichen Wellen lägen und daß deshalb Mißverständnisse und Konflikte ohnehin nicht zu vermeiden seien.

Wenn wir uns mit den heterosexuellen Lebens- und Liebesformen befassen wollen, dann bezieht sich das auf keinen Fall nur auf Themen wie Kommunikation, Sexualität, Ehe, Elternschaft etc., sondern auch auf Arbeit, Beruf, Politik und Wirtschaft. Das Thema Ehe ist nicht denkbar ohne die Themen Arbeit, Beruf, Ausbildung, Mobilität; das Thema Familie nicht ohne die Themen Arbeit und Geld.

Wer also sich dem Thema Liebe und Beziehung widmet, muß all diese Lebensbereiche miteinbeziehen.

Ich werde das Thema unter drei Aspekten beleuchten:

Arbeit und die Verknüpfung von Arbeit und Liebe

Wir leben in einer aufregenden Zeit.

In bezug auf gesellschaftliche Veränderungen hinsichtlich Ungleichheit bzw. Gleichheit der Geschlechter haben wir Fakten erstritten, die sich in Bewußtsein und Gesetzen niederschlagen; andererseits erleben wir zum Beispiel Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und in der sozialen Absicherung, die Ungleichheiten verschärfen. Junge Frauen fordern heute mehr Gleichheit und Teilung in Beruf und Familie. Junge Männer finden diese Forderung eigentlich auch richtig, aber das konkrete Handeln dieser Männergeneration widerspricht ihren Einsichten. Die Widersprüche zwischen den Forderungen der Frauen nach Gleichheit und Teilung und dem, was ihnen real den Weg versperrt, werden in den kommenden Jahrzehnten das Geschlechterverhältnis bestimmen. Es sieht nach einem langen Konflikt aus. Ein Konflikt, in dem das Wort teilen eine zentrale Rolle spielen wird, zum Beispiel Teilung von Arbeit, Teilung von Verantwortung: Erwerbsarbeit und Hausarbeit, Teilung der Verantwortung für eine menschenwürdige Zukunft.

Frauen haben also viel zu gewinnen. Männer auch?

Warum sollten sie von ihren Privilegien, von ihrer Macht abgeben? Was habe ich davon, werden sie sich fragen, was kriege ich dafür?

Männer, sagt der Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann, kennen im Unterschied zu Frauen in ihrem Leben nur eine Orientierung, die berufliche, und nicht noch eine zweite, zum Beispiel die Familie. Mädchen wollen alles: einen gut bezahlten Beruf, der Spaß macht, und Familie. Sie werden immer auch als zukünftige Mütter sozialisiert, Jungen jedoch nicht als zukünftige Väter. Diese einseitige Orientierung entfremdet sie von ihrem Körper, den sie als Besitz begreifen mit den bekannten gesundheitlichen Folgen; es entfremdet sie von einer Liebeskultur, in der Leistung und Erfolg unwichtige Variablen sind; es entfremdet sie von der Natur, von Kindern, vom Lebendigen.

Eine sozialökologisch verträgliche Zukunft verlangt nach neuen Formen und Prinzipien des Wirtschaftens: Vorsorge statt Nachsorge, Kooperation statt Konkurrenz und Orientierung am Lebendigen. Diese Prinzipien setzen an bei den Erfahrungen und Sichtweisen von Frauen, erworben in privaten und professionellen Versorgungszusammenhängen, in denen zum Beispiel Fürsorge, Sorge (nicht Aufopferung!) für andere zentrale Kategorie ist.

Beide Geschlechter haben viel zu gewinnen.

Die Zukunft der Lebens- und Liebesformen wird unter anderem abhängig sein von der Zukunft der Arbeit, vor allem von der Zukunft der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern: Wie lange noch wird die Privatheit der Frau und die Öffentlichkeit dem Mann zugeordnet bleiben? Wie lange noch wird gelten, daß alles Private und scheinbar Private (zum Beispiel sich zuständig fühlen für die Atmosphäre, die Stimmung in der Familie oder in der Beziehung) weniger wert ist als das Öffentliche? Wie lange noch werden die Hausarbeit und die Kinderversorgung diskriminierte unbezahlte Arbeit des einen, des weiblichen Geschlechtes, bleiben? Wie lange noch gilt diese weibliche, eigentlich lebenserhaltende Arbeit so wenig, daß kein Mann sich daran beteiligen möchte?

In den siebziger Jahren war Hausarbeit eine zentrale Kategorie zur Verallgemeinerung und Verdeutlichung der gesellschaftlichen Stellung der Frau im Kapitalismus sowie zentraler Begriff für eine feministische Gesellschaftsanalyse. Bis heute hat sich an dem, was wir damals geschlechtsspezifische (heute passender: geschlechtshierarchische) Arbeitsteilung nannten, nichts geändert. Immer noch versorgen verantwortlich die Frauen, ob erwerbstätig oder nicht, den Haushalt, die Kinder und den (Ehe-)Mann, und dies tun sie unentgeltlich, weil sie gelernt haben, daß Hausarbeit keine Arbeit, sondern Liebe sei. Männer lassen privat Frauen weiterhin für sich putzen, einkaufen, die Kinder versorgen sowie am Arbeitsplatz Beziehungsarbeit machen, Kaffee kochen und vieles mehr, und Frauen lassen es mit sich machen (vgl. Meier/Oubaid 1987).

Die Lebens- und Liebesformen werden sich in der Zukunft für beide Geschlechter fundamental verändern, wenn Männer und Frauen lernen, Arbeit und Liebe voneinander zu unterscheiden, und wenn sie in der Folge beginnen, sich die Arbeit, die es dann noch gibt, bezahlt oder unbezahlt, privat oder professionell, zu teilen.

Die Zukunft ist immer nur vorstellbar im Hinblick auf Gegenwart oder Vergangenheit.

Wenn ich Zukunft phantasiere, dann halte ich es für legitim (wenn sich unsere heutige als so fatal menschenfeindlich präsentiert), mich an Arbeits-, Lebens- und Liebesweisen anderer Kulturen zu orientieren, die noch nicht an den Werten und Praktiken einer industriellen Gesellschaft ausgerichtet waren. Darum lade ich Sie ein zu einem kurzen Trip in die Vergangenheit, in die Zeit zwischen 1250 und 1500 in die Region, die wir heute Bundesrepublik Deutschland nennen.

Bis zum 15. Jahrhundert gab es zwar geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die aber mit unserem heutigen Verständnis nichts zu tun hatte. Frauen finden wir zu dieser Zeit in allen Berufen, die heute Männern zugeordnet werden. Es gab keine Arbeitsteilung, die der Frau den Haushalt zuwies und dem Mann die außerhäusliche Arbeit, und Mutterschaft war lange nicht das einzige Frauenideal.

Stellen Sie sich den Alltag auf einem kleinen Hof des 12./13. Jahrhunderts vor. Das, was für uns heute typische Hausfrauenarbeit ist – Essen kochen, einkaufen, Putzen und Waschen –, gab es nicht oder spielte eine untergeordnete Rolle. Die Menschen aßen vor allem Kaltspeisen, die Böden waren aus gestampfter Erde oder Lehm, später aus Holz. Wäschewaschen war nicht so umfangreich, weil die Menschen nur wenig Kleidungsstücke und Bettwäsche besaßen und diese selten wechselten. Die Vorratswirtschaft wurde von beiden Geschlechtern betrieben, wobei das Einstampfen des geschnittenen Kohls in Fässer die Aufgabe des Mannes war, das milchsaure Einlegen besorgte die Frau. Ähnlich arbeitsteilig war das Brotbacken: Meistens übernahmen Männer das Zerstampfen oder Mahlen des Korns (Frauen taten es dann, wenn sie auf den Fronhöfen als Magd beschäftigt waren), Frauen besorgten den Rest. Gemeinsam erledigten sie die Schafschur; die Verarbeitung von Flachs und Wolle war Frauenarbeit, ebenso Melken, Butter- und Käseherstellung oder Wäschewaschen. Säen, Kornschneiden, Garbenbinden gehörte zu den gemeinsamen Arbeiten, auch die Weinlese. Fischen und Imkerei wurde ebenfalls von beiden Geschlechtern verrichtet; das Bierbrauen gehörte bis weit ins Mittelalter hinein zu den Tätigkeiten, die ausschließlich von Frauen ausgeübt wurden.

Später entwickelten sich die traditionellen Frauentätigkeiten der einstigen Bäuerinnen in der Stadt zu eigenen Berufen. Im frühen Mittelalter, zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert, arbeiteten Frauen als Unternehmerinnen, Meisterinnen, Gesellinnen und Lehrlinge der Zunftbetriebe. Sie waren in fast jedem Handwerk, Gewerbe oder Handelsbereich vertreten.

Alte Abbildungen zeigen Pastetenbäckerinnen, Bierbrauerinnen, Verkäuferinnen, Händlerinnen (Wein, Textilien, Gewürze, Metallwaren, Wolle, Seide), Zinsmeisterinnen, Geldwechslerinnen, Maklerinnen, Schreiberinnen, Buchhalterinnen, Lehrerinnen, Übersetzerinnen usw. Waffenschmiede und Verkauf von Kriegswerkzeug oder Rüstungen gehört zu den wenigen Bereichen, in denen Frauen nicht tätig waren. Aus einer Quelle der Stadt Frankfurt am Main für den Zeitraum 1320 bis 1500 geht hervor, daß es 65 verschiedene Berufe nur für Frauen gab, 17, in denen Frauen überwogen, und 38, in denen sowohl Frauen als auch Männer vertreten waren. In 81 Berufsarten war der Anteil der Frauen geringer als der der Männer. Wichtig allerdings ist zu betonen, daß Frauen zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert rechtlich nicht gleichberechtigt waren. Sie hatten keine politischen Rechte (wie die Zunft nach außen politisch zu vertreten), was fatale Folgen hatte, beispielsweise die Verdrängung aus all diesen Berufen durch Männer in den folgenden Jahrhunderten. Mit Ende des 17. Jahrhunderts waren die Frauen endgültig aus Handwerk und anderen qualifizierten Berufen verschwunden. Diese Tatsache sollte uns daran erinnern, daß wir Verbesserungen unserer wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Situation wieder verlieren können, wenn die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse sich verschlechtern.

Das katholische Frauenbild des asexuellen, mütterlichen, sich aufopfernden und demütigen Weibes – ein Ideal, das uns Frauen bis heute verfolgt, auch hinsichtlich geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung – war lange Zeit ganz und gar nicht das Ideal des Alltags. Erst mit Luther und einer Wirtschaftskrise, gekennzeichnet durch Hunger, Pest, Mißernten und Armut, konnte sich dieses Ideal breiter etablieren. Der Kampf ums Überleben, der Kampf um Arbeit, machte aus Männern und Frauen die Konkurrenten, die sie heute immer noch sind, wobei fehlende Rechte und fehlende politische Macht die Frauen zum zweitwichtigeren Geschlecht machten. Am Ende dieser Auseinandersetzungen finden wir sie in unqualifizierten, schlecht bezahlten Arbeitsbereichen und in großer Armut. Die Unruhen der unteren städtischen Schichten und die der armen Bäuerinnen und Bauern des 16. Jahrhunderts wurden von den Herrschenden blutig niedergeschlagen. In dieser Situation konnten Luthers Vorstellungen von der Frau, einzig zum Kinderkriegen und zur Hausarbeit für Kind und Mann da zu sein, großen Raum einnehmen. Was zunächst Privileg der bürgerlichen Familie war – die patriarchale Familie mit Hausherrn und seiner Hausfrau –, wurde zum Ideal für alle, sobald sie es sich leisten konnten.

„Denn eyn weibs bild ist nicht geschaffen jungfrau tzu syn, sondern kinder zu tragen. ... Ob sie sich aber auch müde und zuletzt (daran) todt tragen, das schadt nicht, laß nur todt tragen, sie sind darum da." (Wolf-Graaf 1994)

Wie lange noch wird das Prinzip geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung, im privaten Bereich und am Erwerbsarbeitsplatz, fortleben? Wie lange noch wird das dem Männlichen zugeordnete Öffentliche höher bewertet als das den Frauen zugeordnete Private?

Die Zukunft der Erwerbsarbeit wird bestimmt sein von Rationalisierung, Automatisierung und Globalisierung. Die Rentabilität der meisten Großunternehmen verbessert sich ständig, gleichzeitig aber steigt die Arbeitslosigkeit. Das Wachstum der Unternehmen führt offensichtlich nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze oder gar zur besseren Verteilung des Reichtums.

Immer mehr Güter können von immer weniger Menschen produziert werden. Erwerbstätigkeit wird zum Privileg. Es wird in nächster Zukunft nicht mehr, sondern weniger Arbeit geben, damit auch mehr Arbeitslose und damit auch mehr Konkurrenz zwischen Frauen und Männern um die raren Arbeitsplätze.

Für die Sektoren der Zukunft – Gesundheit, Erziehung, Beratung, Planung, Umwelt und Multimedia – wird vor allem Flexibilität gefragt sein. Bis zum Jahr 2000 soll es europaweit 10 000 000 Heimarbeitsplätze am PC geben. Das erscheint produktiv und rentabel. Steigen wird der Anteil der Arbeit auf Zeit und Arbeit auf Abruf und damit ein hohes Maß an Selbstausbeutung.

1950 hatten in den USA die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen im Laufe ihrer Berufskarriere durchschnittlich vier Mal den Arbeitgeber gewechselt, 1997 zehn Mal sein.

Diese Praxis wird sich auch bei uns durchsetzen. Der lebenslange Arbeitsplatz wird eine Ausnahme bleiben. Gefragt sein wird zum Beispiel Mehrfachqualifikation. Höchstqualifizierte und höchstflexible Menschen: das ist der Megatrend.

Was bedeutet das für die Geschlechter?

Einerseits sind es vor allem Frauen, die aus der Arbeitswelt herausfallen, andererseits werden zukünftig soziale und emotionale Kompetenzen gefragt sein: Da haben die Frauen Vorteile, die Männer extreme Lücken. Frauen, die heute 50 Jahre und älter sind, werden allerdings in diesem neuen Zukunftszug Erwerbsarbeit kein Abteil mehr finden.

Zukünftig werden Phasen von Erwerbsarbeit sich abwechseln mit Phasen von Weiterqualifizierung, die mit Sicherheit privat zu finanzieren sind. Bildung und Wissen werden die Rohstoffe der Zukunft sein. Flexibilität kommt den Frauen entgegen, die schon immer ein hohes Maß an Flexibilität zur Koordination von Erwerbsarbeit, Hausarbeit, Kinderversorgung haben beweisen müssen, um zu überleben.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Teilung der Arbeit zwischen den Geschlechtern?

Was bedeutet das für das Zusammenleben, für die Liebesformen?

In Zukunft werden auch Männer durch den fortschreitenden Zusammenbruch des Vollzeitarbeitsmarktes sich an Brüche in der Berufsbiographie gewöhnen müssen. Frauen kennen diese Brüche schon länger, weil es für sie immer mehr Gründe gegeben hat, für eine Zeit aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, weil sie zum Beispiel Kinder und Haushalt versorgt haben oder die kranken Schwiegereltern usw.

Was werden die Männer dann tun in ihrer freien Zeit? Freizeit, Sportverein und Auto oder Kinder und Hausarbeit?

Vielleicht geht der Weg zur gerechteren Verteilung der Arbeit, die uns noch bleibt, nur über eine Verkürzung der Arbeitszeit für alle. Dann haben Frauen oder Männer mehr Zeit, wirklich beides miteinander zu verbinden, und vielleicht mehr Kraft, sich mit ihren Partnern oder Partnerinnen über die Verteilung der Versorgungsarbeit zu streiten.

Oder vielleicht sollte in Zukunft der Zugang zur Rente gekoppelt werden an die geleistete Reproduktionsarbeit. Wer Rente haben will, muß nachweisen, daß er/sie mehrere Jahre Kinder, Alte und andere Bedürftige versorgt hat. Oder...

Formen des Zusammenlebens

Die Lebensform der Zukunft wird nicht mehr selbstverständlich die bekannte Kleinfamilie Mutter-Vater-Kind sein.

Ein Blick in die Vergangenheit: Es gab für den Alltag dieser Zeit (12./13. Jahrhundert) noch kein eindeutig negatives Bild der Frau, wie wir es aus späteren Jahrhunderten bis heute kenne. Auch war nicht das ambivalente Bild der Frau als Mutter oder Hure, Maria oder Maria-Magdalena, vorherrschend. Negativbilder der Geschlechter gab es in jenen Zeiten von beiden Geschlechtern und dann in der Form der kollektiven gegenseitigen Verhöhnung von bestimmten für überwiegend männlich oder weiblich gehaltenen Eigenschaften. „Der Umgang zwischen Frauen und Männern ist offen und recht derb" schreibt Anke Wolf-Graaf (1994). Es gibt eine Reihe von Abbildungen, in denen sich prügelnde Eheleute dargestellt werden. Diese zeigen auch, daß Frauen und Männer etwa gleich groß und kräftig waren. Die sexuellen Beziehungen schienen frei und nicht an die Ehe gebunden zu sein. Städtische Badestuben waren Treffpunkte für sexuelle Vergnügungen. Die Tatsache, daß Frauen dieser Zeit selten mehr als drei Kinder hatten, ist nicht nur auf die hohe Säuglingssterblichkeit zurückzuführen, sondern läßt ebenso auf effektive Verhütung schließen. Die Hebammen sollen mehr als 100 Mittel und Methoden für Verhütung und Abtreibung gekannt haben. Diese Tatsache erlaubte den Frauen eine recht freizügige Sexualität und ein gewisses Maß an Selbstbestimmung über ihren Körper. Männer hatten zu den Bereichen Verhütung und Frauenheilkunde lange keinen Zugang. Es blieb zunächst Frauenwissen.

In den beiden letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts begannen die ersten großen Hexenverfolgungen. Der „Hexenhammer" von 1487, Grundlagenwerk der Inquisitoren über die „Schädlichkeit der Natur des Weibes" und ihren Hang zur Hexerei sowie die beste Art der Folter gibt Aufschluß über klerikale Frauenfeindlichkeit, „hochneurotische männliche Angst vor dem Weiblichen, insbesondere vor der sexuellen Kraft der Frau". Die Befragungen spiegeln Impotenzängste und ausschweifende sexuelle Phantasie der Befrager, Angst vor den magischen Kräften der Frauen und ihrem Wissen hinsichtlich Verhütung, Schwangerschaft, Abtreibung, Geburt sowie vor der „Unzucht mit dem eigenen Geschlecht" (Wolf-Graaf 1994).

Die Ehe war nicht das höchste Lebensziel und -ideal. Gerade Frauen hatten großes Interesse an Arbeits-, Denk- und Lebensgemeinschaften zusammen mit anderen gleichgesinnten Frauen. Das mittelalterliche Klosterleben war für viele eine interessante Alternative, durchaus nicht immer nur Notlösung für „Übriggebliebene". Viele Frauen konnten so einem tyrannischen Ehemann oder einer erzwungenen Heirat entfliehen. Sie konnten theologische und wissenschaftliche Studien treiben, Heilmethoden erforschen, aufschreiben und anwenden. Sie konnten sich zur Miniaturmalerin oder Illustratorin ausbilden lassen. Der Kontakt zur Außenwelt war zu dieser Zeit noch wenig eingeschränkt, auch der zu einem benachbarten Mönchskloster.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Beginenbewegung, eine Bewegung mit dem Ziel geistiger und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, die den Ideen der aktuellen Frauenbewegung durchaus ähnlich ist. Die Beginenschwestern gehörten keinem Orden an. Sie waren religiöse Laien und führten in ihren Gemeinschaften, in den Beginenkonventen (um 1250 gab es in Köln mehr als 2000 davon), ein relativ freies und eigenständiges Leben. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie unter anderem mit Bierbrauen, Brotbacken, Wäschewaschen für andere, aber auch durch Pachtzinsen und Geldverleih.

„Jede Schwester soll zum Lebensunterhalt Rente oder Vermögen besitzen oder eine Kunst verstehen, um sich die Existenzmittel zu erwerben. Keine Schwester wird ohne Genehmigung vor der Stunde des Morgengebetes das Haus verlassen, und ohne Erlaubnis wird kein Mann vor dieser Zeit das Haus betreten oder dort nach dem Abendgebet verweilen. Entzweiungen zwischen Schwestern des Hauses, die der Vermittlung bedürfen, müssen vor dem Schlafengehen geschlichtet werden. Wenn eine Schwester der Fleischessünde zwei- oder dreimal von 2 oder 3 Mitschwestern überführt werden kann, soll sie vom Haus ausgeschlossen sein." (Wolf-Graaf 1994)

Auch hier gab es sexuelle Handlungen.

Die Beginenschwestern konnten jederzeit aus der Gemeinschaft austreten, beispielsweise wenn sie heiraten wollten. Die Meisterin oder Mutter, die „Chefin", wurde gewählt. Sie verwaltete das Geld und vertrat die Gemeinschaft nach außen, das heißt gegenüber der Kirche und der weltlichen Obrigkeit. Sie wohnte in einem besonderen Haus, in dem auch die die wöchentlichen Versammlungen stattfanden, auf denen Streitigkeiten geschlichtet, Strafen wegen Verstöße gegen die Hausordnung verhängt und religiöse Fragen erörtert wurden. Der Haushalt wurde reihum geführt. Die Beginer verfaßten und verbreiteten Kirchenschriften in der Volkssprache (nicht in Latein, wie es üblich war); sie lehnten starre kirchliche Regeln ab und vertraten die Ansicht, daß jeder Mensch ein individuelles Verhältnis zu Gott haben könne. Bald stellten sie auch eine wesentliche ökonomische Macht in der Stadt dar. Inquisition und Reformation verfolgten die Beginen später als Ketzerinnen oder als zu freie Frauen: „Es ist der Mehrheit Dirnen in den Klöstern, die frisch und gesund sind, und von Gott geschaffen, daß sie Weiber sind und Kinder tragen sollen." (Wolf-Graaf 1994)

Und zukünftig? Wie werden die Lebensform der Zukunft aussehen?

Es sind viele Trends in verschiedene Richtungen zu beobachten: Ende der 80er Jahre wurde bereits jede 3. Ehe geschieden; 1984 entschieden sich immer weniger Geschiedene für eine Neuverheiratung, die Scheidungsrate für wiederverheiratete Paare und die Scheidungsrate für Eltern mit Kindern steigt.

1989 lebten in der Bundesrepublik 2,5 bis 3 Millionen Personen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften zusammen. Entsprechend stieg der Anteil an unehelich geborenen Kindern, der 1967 bei 4,6% lag, 1988 bei 10% (in Schweden bei 46%). Die „Scheidungen" dieser Lebensgemeinschaften werden nicht statistisch erfaßt.

Um 1900 lebten in 44% aller Privathaushalte fünf und mehr Personen. Heute leben immer mehr Menschen allein. Die Zahl der Ein-Personenhaushalte liegt bei 35% (in Städten wie Frankfurt/Main, Hamburg und München bei 50%): junge, ledige berufstätige Singles und ältere, verwitwete Menschen, überwiegend Frauen (vgl. Beck/Beck-Gernsheim 1990).

Viele Paare lassen sich zwar scheiden, scheinen aber dennoch den Wunsch nach Bindung zu haben. Eine zukünftige Form des Zusammenlebens wird die der Patchworkfamilie sein: eine Stieffamilie, in der in der Regel alleinerziehende Frauen und alleinerziehende Männer mit ihren jeweiligen Kindern zusammenleben. Die Kinder aus Patchworkfamilien haben mehrere Großeltern, Mütter und Väter, was, wenn die Familienmitglieder ihre Rolle verantwortungsvoll ausfüllen, auch eine Chance sein kann.

Viele Paare praktizieren eine Form des Zusammenseins, in der die Individualität wichtiger wiegt als die Anpassung oder auch die Entlastung: Frauen leben allein mit ihren Kindern, und der Liebes- und Lebenspartner hat seine eigene Wohnung. Das Zusammensein muß inszeniert werden und ist vielleicht länger aufregend, weil der Alltag nicht so bestimmend ist. Die Frauen tragen allerdings die Last der Kinderversorgung allein. Scheinbar ziehen sie diese Lebensform dem alltäglichen Kampf um die private Arbeitsteilung vor.

Junge ebenso wie alte Menschen erproben Wohngemeinschaften. Vielleicht wird das nordrhein-westfälische, mit Landesmitteln finanzierte Espelkamper Wohnprojekt, in dem ältere Menschen mit alleinerziehenden Frauen und Kindern zusammenleben, ein Zukunftsmodell sein, vielleicht in noch fernerer Zukunft auch das der zwei (mir bekannten) Initiativen für eine Renaissance der Beginenhöfe (Bremen, Aachen).

Sexualität und sexuelle Orientierung

Von den Beginen zur Begierde: zum Geschlechterverhältnis gehört auch das Geschlechtliche.

Was wissen wir über die aktuelle Situation, und wohin steuern wir?

Viele Sexualwissenschaftler behaupten, daß die meisten heterosexuell orientierten Frauen und Männer keine Lust mehr auf Sex hätten. Die Studie eines Kondomherstellers, an der 5680 Frauen und Männer zwischen 16 und 45 Jahren in 14 Ländern der Welt teilnahmen, kommt zu gegenteiligen Erkenntnissen: Die Menschen tun es, nicht seltener als vor zehn Jahren, aber sie tun es zu schnell und zu oft ohne Kondom (die Franzosen tun es nach wie vor am häufigsten und am besten, die Amerikaner nehmen sich mit durchschnittlich 25,3 Minuten die meiste Zeit für die Liebe, die Deutschen kommen nur auf 18,9 Minuten; Männer wünschen sich öfter Sex und Frauen mehr Qualität).

Zurück zur sexualwissenschaftlichen Debatte.

Susan Sonntag schreibt, daß die Sexualität eine Macht bleibe, die immer wieder verbotene und gefährliche Wünsche in uns wecke, jenseits von gut und böse. Gunter Schmidt, Sexualwissenschaftler, hält diese Ausführungen in seinem neuesten Buch „Das Verschwinden der Sexualmoral" für eine beunruhigende und deshalb schöne Utopie, die allerdings hoffnungslos nostalgisch sei. Die meisten Heterosexuellen haben angeblich keine Lust mehr auf Sex. Von „weit verbreiteter sexueller Langeweile" (Schleider 1997) ist die Rede unter den Sexualwissenschaftlern, von „keinen Bock mehr auf Sex", und dies in einer Welt, die uns ständig sexuellen Reizen aussetzt. Möglicherweise ist es so, wie Gunter Schmidt sagt, daß die „Pornografisierung des Alltags" dazu führt, daß uns sexuelle Reize eigentlich gar nicht mehr erreichen. Heute käme es nicht mehr darauf an, WAS gemacht würde. Eigentlich sei alles erlaubt. Entscheidend sei, WIE es zustande käme: WIE verläuft die Interaktion? Was ist zwischen den SexualpartnerInnen ausgehandelt worden?

Anhänger des Sadomasochismus können heute ganz selbstbewußt und selbstverständlich in TV-Talkshows über ihre Vorlieben sprechen, so lange sie bekunden, daß die Spielregeln vorher ausgemacht waren und daß es notwendig sei, sich daran zu halten. Sexualität wird verhandelt und ausgehandelt, was sie, vor allem für Frauen, sicherer und berechenbarer macht. Gunter Schmidt beklagt, daß dabei die Erotik, der spielerische Kampf, der spielerische Wunsch nach Verführung, auf der Strecke bleiben würde. Diese neue Konsensmoral gehe davon aus, daß sich zwei gleichberechtigte autonome Subjekte begegnen. Er hingegen gehe davon aus, daß es beim Sex auch um Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten gehe.

Ich nenne es einen Segen, das Geschlechterverhältnis auch als Gewaltverhältnis beim Namen nennen zu dürfen. Ich nenne diese neue Sexualmoral entlastend, wenn es selbstverständlich ist, Wünsche mitzuteilen und Grenzen zu setzen.

Mit der Neuen Frauenbewegung begann ein Prozeß, in dem wir lernten, daß auch Frauen sexuelle Bedürfnisse haben und daß diese nicht der Spiegel der männlichen sind. Wir haben uns darin geübt, diese Bedürfnisse kennenzulernen und sie unmißverständlich mitzuteilen, den anderen teilhaben zu lassen an unseren Gedanken, Empfindungen und Begierden, und wir hatten mehr von der Liebe, sowohl Frauen als auch Männer. War das der Anfang dessen, was Gunter Schmidt Verhandlungssexualität nennt?

Aber auch aus den eigenen Reihen der Sexualwissenschaftler kommt Kritik: Rüdiger Lautmann, Professor für Soziologie an der Universität Bremen, widerspricht der These, daß der zukünftige Sexualdiskurs ein repressiver sei. Die „Feldzüge" der Neuzeit gegen Onanie und gegen Homosexualität hätten gegenteilige Reaktionen zur Folge gehabt.

„Die neue Sexualmoral wird sich formieren, nachdem das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern neu abgestimmt ist. ... Diese Schlacht ... ist gegenwärtig in vollem Gange." (Lautmann 1997)

Schlacht, Feldzug...

Nach der Schlacht das Versöhnliche: Das gegenwärtige Null-Bock-Syndrom bei heterosexuellen Frauen und Männern ist für Lautmann Ausdruck von Verunsicherung auf beiden Seiten und wird nur eine „historische Schrecksekunde lang andauern. Danach werden die Geschlechter erneut Mut fassen und auch sexuell wieder zueinander finden" (Lautmann 1997). So einfach ist das!

Und wenn sie wieder zueinander gefunden haben, werden sie dann nicht nur Liebe, sondern auch noch Kinder zeugen und empfangen? Oder erledigt das dann eine extrakorporale Maschine? Werden die Menschen anders hergestellt – durch Klonen vielleicht? Und was bedeutet das dann für die langlebigste aller Lebensformen, die Familie, dies „zähe Luder", „ein materielles und soziales Nest für die nachwachsende Generation" (Sichtermann 1997)? Oder für die (heterosexuelle) Sexualität, die dann endgültig von der Fortpflanzung getrennt sein wird? Ist das dann ein „Segen"?

Homosexuelle Paare in Hamburg können sich in Zukunft beim Standesamt registrieren lassen und aus dieser sogenannten „Hamburger Ehe" Rechte ableiten, zum Beispiel das Recht auf eine gemeinsame Sozialwohnung. Eine richtige Ehe ist nach wie vor nur heterosexuellen Paaren vorbehalten, aber das Hamburger Signal ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung von homosexuellen und heterosexuellen Paaren, deren Lebens- und Liebesformen in Zukunft in der Gesellschaft und auf dem Papier akzeptiert sein werden. Knutschende Frauen- oder Männerpaare werden in 50 Jahren vielleicht endlich kein Aufsehen mehr erregen.

Bis dahin werden wir erkannt und erfahren haben, daß wir für ein paar Jahre eine Frau, für ein paar Jahre einen Mann lieben und für ein paar weitere Jahre ohne Sexualität (aber nicht ohne das Sexuelle, was für mich gleich Lebenskraft heißt) leben können. So wie ein kleines Kind seine Mama, seinen Papa, sein Spielzeug und seinen kleinen Zeh lieben kann, tragen wir als Erwachsene auch immer noch dieses multierotische Potential in uns (vgl. Gisserau 1997). Würde dieses gefördert und nicht unterdrückt, so könnten in einem Menschenleben viel mehr Lebens- und Liebesformen möglich werden. Wir sollten uns die Erlaubnis geben, mit unserer Liebesfähigkeit alles wahrzunehmen: männliche und weibliche Menschen, Tiere, Bäume und andere Pflanzen. Dies hätte enorme Konsequenzen für die Entwicklung von Identität und für das Verhältnis der Geschlechter zueinander: Identität formiert sich durch die Wahrnehmung meines Selbst durch andere. Sich in den anderen einfühlen kann ich, wenn ich auch mein Inneres kenne. Je mehr Frauen sich in Männer und Männer sich in Frauen einfühlen dürfen, um so lebbarer wird die Differenz, um so spannender und liebevoller der Umgang miteinander.

Zurück von der Reise in die Zukunft einiger Lebens- und Liebesformen ist der Koffer schwerer als vorher, schwer von Fragen ohne Antworten.

Was fehlt ist eine konkrete Vision: Was wollen wir? Welche Lebens- und Liebesformen wünschen wir uns? Was wünschen sich Frauen, was wünschen sich Männer im Umgang miteinander jenseits der gängigen weiblichen und männlichen Geschlechtsstereotypen, jenseits der Männer- und Frauenbilder, die wir in uns mitschleppen? Was wollen wir dazu beitragen? Was sind wir bereit zu teilen?

Literatur

Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990

Barbara Gisserau: Von der „kastrierten Frau" zur „Wolfsfrau". Vortrag im Rahmen der 4. Tagung des AKF, Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft, Bad Pyrmont, November 1997

Klaus Hurrelmann: Der Mann und seine Gesundheit. Vortrag anläßlich eines Prostatakongresses im Oktober 1996, Bielefeld

Rüdiger Lautmann: Welche Sexualmoral verschwindet, und welche neue wird kommen? In: ProFamilia Magazin, Heft 3/1997

Marion Meier/Monika Oubaid: Mütter, die besseren Frauen – über den Zusammenhang von § 218 und Hausarbeit, Braunschweig 1987

Tim Schleider: Alle sollen nur das Eine. Interview mit Gunter Schmidt, in: ProFamilia Magazin, Heft 3/1997

Barbara Sichtermann: Die Familie ist ein zähes Luder, in: taz vom 5.11.1997

Anke Wolf-Graaf: Die verborgene Geschichte der Frauenarbeit, München 1994


Marion Meier:Die Zukunft der (heterosexuellen) Lebens- und Liebesformen Wenn wir teilen, werden wir beide gewinnen – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2000/meier00_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid