Ekkehard Nuissl die_logo1a.gif (1181 Byte) November 1997


Vortrag auf der Tagung "Eine Zukunft für Frauen und Männer", 12.-14. November 1997. Vollständige Dokumentation der Tagung

Auf dem Weg zu einer Menschengesellschaft

Vision einer Menschengesellschaft

Wenn wir über Menschengesellschaft im hier bestehenden Kontext sprechen, dann ist zunächst die ideologische Überhöhung gemeint: eine Gesellschaft der Menschlichkeit. Das Konstrukt der Menschlichkeit zieht sich durch die gesamte menschliche Ideologiegeschichte. Es ist historisch differenziert, ideologisch differenziert, aber auch gesellschaftlich und in der gesellschaftlichen Realität differenziert. Wir wissen – etwa am Beispiel der „Menschenrechte" –, daß Menschlichkeit in unterschiedlichen Kulturkreisen durchaus unterschiedlich gesehen wird. Die dominante gesellschaftliche Kategorie der Menschlichkeit, die der westlich geprägten Industrienationen, hat sich in den Jahrhunderten durchgesetzt. Wir verbinden mit ihr Dinge, die für unser alltägliches Leben wichtig sind.

Zu diesen Elementen von Menschlichkeit gehören so zentrale Kategorien wie Mündigkeit, Gewaltfreiheit, Humanität, Offenheit, gleiche Chancen und gleiche Berechtigungen, Gewaltfreiheit, Menschenwürde, Akzeptanz und anderes mehr. Vieles von dem, was die Elemente von Menschlichkeit in der ideologischen Struktur der Gesellschaften darstellt, ist auch im vorherrschenden Menschenbild der Pädagogik und der Erziehungswissenschaften dominant. Es ist daher kein Zufall, daß gerade pädagogische Fragen immer auch Fragen an die gesellschaftliche Idee und Realität von Menschlichkeit sind. Pädagogik ohne Auseinandersetzung mit dem Menschenbild als dem Ziel, auf das hin Pädagogik arbeitet, ist wie ein Schiff ohne Steuer. Deshalb ist auch im Fragen der Frauen- und Männerbildung das Menschenbild insgesamt eine wichtige Kategorie.

Aus der Pädagogik wissen wir aber auch, daß Menschlichkeit ebenso wie die Gesellschaft, die sie praktiziert, schwerlich eschatologisch vorgegeben werden kann, sondern nur prozessual „angesteuert" zu werden vermag. Menschlichkeit ist eine hier und jetzt zu definierende, aber im Verlaufe eines Prozesses immer wieder neu zu bestätigende und neu zu findende Zielkategorie. Eine Menschengesellschaft, in der diese Zielkategorie zum Stillstand kommt, ist und wird in gewisser Weise „unmenschlich".

„Ich bin zwei Öltanks": Geschlechterbeziehung

Verschiedentlich kann man in Gärten von Einfamilienhäusern zwei nebeneinander stehende Fässer sehen, auf denen geschrieben steht: „Ich bin zwei Öltanks." Das Verwirrende und zugleich Befreiende dieser dialektischen Aussage ist vergleichbar mit der Kategorie „Mensch". Auch sie ist letztlich ein Konstrukt. Es gibt nicht den Menschen. Es gibt Mann und Frau, Frau und Mann. Dies sind zwei Arten von Menschen.

In den Sozialwissenschaften wurde lange der Unterschied zwischen den Geschlechtern als ein nebensächliches Moment betrachtet, das zu berücksichtigen nur eine Frage demographischer Auszählungen sei. Erst in jüngster Zeit zeichnet sich ab, daß das Geschlecht zu einem zentralen sozialwissenschaftlichen Paradigma wird, das zur Erklärung wie auch zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse unabdingbar ist. Womöglich ist Geschlecht nicht das einzige Paradigma, das hier von Bedeutung ist, es wächst jedoch – mit einiger Unterstützung – zunehmend in die Rolle eines künftigen Leitbegriffes.

Wenn man zwischen Mann und Frau unterscheidet, dann stellt sich rasch die Frage, wo und wie sie sich unterscheiden. Physisch und psychisch, im Denken, Fühlen und Handeln gibt es immer wieder Ansätze einer Bipolarität oder eines Kontinuums. Dabei ist jeweils die Frage, mit welchen Konsequenzen diese Beschreibungen vorgenommen werden. Bipolarität steht oft für Unvereinbarkeit, während Ansätze des Kontinuums nach den jeweils andersgeschlechtlichen Anteilen und ihrer wachsenden Bedeutung suchen. Dies mag durchweg seine Berechtigung haben, wichtig ist aber, wenn es um Ziele von Geschlechterbeziehung geht, darauf hinzuweisen, daß die Kategorie Mensch immer Mann und Frau zugleich enthält. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil über viele Jahrhunderte hinweg die Definitionen des „Humanen" im Kern Definitionen des Mannes waren (und noch sind). Humandefinitionen in einer Gesellschaft, die von einem Geschlecht beherrscht wird, verallgemeinern geschlechtsspezifische Elemente zu solchen der „Gattung".

Wenn es um Ziele geht, dann darum, Mann und Frau in eine gleichberechtigte Beziehung zu setzen, die weder ihre Unterschiede verwischt noch ihre Gemeinsamkeiten leugnet. Ziel einer Geschlechterbeziehung und einer Bildung zur Geschlechterbeziehung ist es, das Proprium des Geschlechts beizubehalten, zugleich aber Lebens- und Verhaltensspektren zu universalisieren und zu liberalisieren. Das bedeutet auch, Kompetenzen und Möglichkeiten zu erwerben und dabei zugleich auf Ansprüche zu verzichten. Dies ist vor allem an Männer gerichtet. Daß dies nicht ganz unmöglich ist, zeigen einige Zitate von Männern:

„Ich bin ich plus meine Lebensverhältnisse." (Ortega, Y Gasset).

„Manchmal sitze ich da und denke; und manchmal sitze ich einfach nur so da." (Satchel Paige)

„Ziel des Lebens ist ein Leben im Einklang mit der Natur." (Szenon von Kition)

„Willst Du glücklich sein, dann sei es." (Leo Tolstoi)

„Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar." (Antoine de Saint-Exupéry)

Mann – Sex – Gender

Wenn man über die Unterschiede von Mann und Frau spricht, gibt es in der Regel in der Diskussion ein heilloses Durcheinander. Es gilt als konservativ, auf physische Unterschiede zu verweisen, andererseits auch wieder als modern. Es gibt die Ebenen der Psyche, der Wahrnehmung, des Denkens, des Sprechens, des Handelns, der Emotionalität, der Kompetenzen und Begabungen, der gesellschaftlichen und der individuellen Interessen, der Beziehungsfähigkeit und Beziehungsunfähigkeit. Wohin man auch sieht: Männer und Frauen unterscheiden sich überall, man weiß nur nicht so genau warum, ob es unveränderlich ist und welche Bedeutung es für gesellschaftliche und persönliche Herrschaftsverhältnisse hat.

Mir scheint es wichtig einfach einmal festzustellen, auf welchen Ebenen Unterschiede zwischen Männern und Frauen behauptet oder belegt sind und welche von ihnen möglicherweise veränderlich oder beeinflußbar sein könnten. Auch ist die Frage interessant, wo Entwicklungspotentiale liegen und wo das eigentlich Menschliche liegt. Dabei wird es sich – bei unvoreingenommener Betrachtung – möglicherweise ergeben, daß scheinbare „Gewißheiten" weder in der einen noch in der anderen Richtung sich bestätigen. Die wichtigsten Punkte sind:

die Natur, der „Sex": Hier geht es darum, was genetisch festgelegt und vererbbar ist, es geht um das Physische, den Körper, um die Instinkte und um die Gewaltbereitschaft. Früher hätte man gesagt, all dieses sei unveränderlich. In Zeiten der Gentechnologie ist man sich da nicht mehr so sicher.

Mit dem kollektiven Erbe und dem kollektiven Bewußtsein von Männern ist man noch eng bei der Natur und den Genen, aber bereits bei etwas, was rudimentär vererbt ist. So sind zum Beispiel Verhaltensweisen von Jägern und Sammlern auch heute noch wirksam. Und sie lassen sich geschlechtsspezifisch feststellen. Vor kurzem gab es dazu ein amüsantes Scharmützel in der Presse. Ein amerikanischer Forscher hatte herausgefunden, daß Männer deshalb so schnell beim Geschlechtsverkehr sind, weil sie in Urzeiten eine archaische Gefahrenvermeidung vor wilden Tieren verinnerlicht hatten. Ein weiblicher Leserbrief auf die entsprechende Zeitungsnotiz wies darauf hin, daß dies zwar möglich sei, daß es aber „in meinem Schlafzimmer keine wilden Tiere gibt".

Beschreibbar sind kollektive Strukturen; damit sind Funktionselemente männlicher Herrschaft gemeint, die als Steuerungspotential von Männern verinnerlicht sind. Sie treten erst dann ins Bewußtsein, wenn Männer gegen sie verstoßen. Wie wirksam sie sind, zeigt sich im ungebrochen existierenden System männlicher Herrschaft.

Die individuelle Sozialisation belegt, daß auch Frauen Männer zu Männern erziehen – funktionsgerecht, wie sich das gehört. Aber erst mit diesem Punkt sind wir beim Kernbereich der diskutierten Veränderbarkeit männlichen Denkens und Verhaltens – dies könnte zu spät sein.

Von besonderer Bedeutung sind auch die Zuschreibungen, die Geschlechter und insbesondere Männer erfahren. Sie haben nicht nur eine Wahrnehmung verhindernde oder wahrnehmungssteuernde Art, sondern durchaus auch eine sozialisierende Kraft. Getreu dem Motto: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s völlig ungeniert."

Schließlich ist die individuelle Lebenssituation zu benennen, die einen Mann zu einem Mann macht – in ihr liegen aber auch zugleich die Probleme der männlichen Geschlechtsidentität, zumindest in der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Hier geht es um Stabilisierung, Verunsicherung, Lernpotential – und es gibt zu denken, daß dies die oberste und letzte Ebene des Entstehens des Geschlechtstypus ist.

Verhaltensänderungen, Bildungsziele und Dialogfähigkeit sind änderbar – nach traditionellen Kategorien der Sozialisations- und Bildungsforschung – innerhalb der hier genannten Punkte. Es kann aber nur nützlich sein, zwischen diesen Ebenen fein säuberlich zu unterschieden.

4. Dialoge der Geschlechter

Auf dem Wege zu einer Menschengesellschaft, die von Mann und Frau gleichberechtigt getragen wird, sind Dialoge der Geschlechter unabdingbar. Sie sind notwendig, sonst gibt es keine Entwicklung. Sicherlich jedoch ist die Frage zu stellen, wann und unter welchen Bedingungen sie zu führen sind. Es sind Regeln nötig, um einen solchen Dialog vernünftig zu führen und damit nicht Gräben zu vertiefen und Probleme erst zu schaffen.

Eine wichtige Regel scheint mir zu sein, daß ein Dialog nur gelingen kann, wenn er von gleichberechtigten Partnern geführt wird. Von einer solchen Gleichberechtigung sind Männer und Frauen aktuell noch weit entfernt. Frauen bedürfen – als Geschlecht – einer verstärkten gesellschaftlichen Gleichberechtigung und Befähigung, dies umzusetzen; Männer bedürfen eines entwickelteren Bewußtseins der eigenen Identität und Interessen. Im Zusammenhang mit Dialogen und im Vorfeld von Dialogen sind daher diese beiden Bewegungen, politischen Prozesse und Bildungsansätze unerläßlich.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, daß es für den Dialog einen geeigneten Ort gibt. Männerbildung und Frauenbildung sind nur dann politische Bildung, wenn dieser Ort auch ein öffentlicher Ort ist. Die Geschlechterbeziehung, der Dialog der Geschlechter, ist nichts Privates und schon gar nicht etwas ausschließlich Privates. Es ist die Verständigung über das Zusammenleben der beiden Hälften der menschlichen Gesellschaft, eine zutiefst politische Aufgabe.

Ein Dialog muß auch über geeignete Verständigungsmittel verfügen. Immer wieder zeigt sich, daß gänzlich unterschiedliche Sprachen verwendet werden, daß vielfach das Instrument der mentalen und rationalen Sprache auch gar nicht geeignet ist, das Gemeinte auszudrücken. Körpersprache (Tanz, Bewegung, Haltung) sind ebenso Verständigungsmittel im Dialog der Geschlechter wie künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen – sie werden nur zu selten und zu wenig gezielt eingesetzt.

Schließlich ist ein wichtiges Element bei Geschlechterdialogen die Verbindlichkeit. Es sind verbindlich Ziele und vor allem Teilziele festzulegen, wozu der Dialog geführt wird, was mit ihm erreicht werden soll und was die möglichen Ergebnisse sein könnten. Die Absichtslosigkeit der Kommunikation zwischen den Geschlechtern ebenso wie die Erotik sind sowohl ent- als auch spannender! Aber sie sind nicht im Sinne einer politischen Bildung zielgerichtete Bearbeitungen des gemeinsamen Verhältnisses in der Gesellschaft. Von daher ist an einen Dialog der Geschlechter die Forderung zu richten, Verbindlichkeiten einzuklagen und festzulegen.

5. Probleme eines Dialogs

Die wichtigsten Probleme eines Dialogs sind bereits in den Regeln angesprochen worden, die für einen funktionierenden Dialog aufzustellen sind. Noch einmal hervorzuheben ist, daß ein Dialog der Geschlechter kein politikfreier Raum ist und auch nicht sein darf. Darüber hinaus gibt es aber noch weitere, in Regeln nicht aufgehobene Probleme.

Das wichtigste von ihnen ist die Unklarheit der Antriebskräfte für einen solchen Dialog bei den Geschlechtern und der zu erwartende Nutzen. Es ist erkennbar, daß Männer, die als oberstes Ziel das Erhalten der patriarchalen Herrschaft definieren, nur geringe Antriebskräfte für einen Dialog haben. Es ist auch erkennbar, daß die Vorstellung von Frauen, über Dialoge ließen sich gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse automatisch abbauen, illusionär ist. Es ist daher der jeweils spezifische Nutzen mit Blick auf die Antriebskräfte für den Dialog zu definieren und zu analysieren.

Damit hängt eine gewisse Zieldivergenz der Dialogpartner zusammen. Die Menschengesellschaft ist noch nicht das dominante Ziel der Gesellschaft, sondern technischer Fortschritt, Kapitalakkumulation und Naturbeherrschung. Es gibt daher gesamtgesellschaftlich betrachtet eine gewisse Ziellosigkeit, in der Probleme des wissenschaftlich-rationalen Fortschritts ihre eigene Dynamik bekommen. Ich halte die aktuelle Verbindung von privaten Zielen und politischen Zielen in ihrer teilweise unreflektierten Identifikation für gefährlich und falsch. Das Private ist nicht per se politisch, das Politische nicht per se privat. Beides muß erst zum anderen gemacht werden.

Schließlich ist eine Ambivalenz der Individualisierung festzustellen. Mit der zunehmenden Individualisierung werden Normen schwächer, auch solche Normen, die etwa die männliche Geschlechtsidentität als formalen Panzer aufrechterhalten, auch wenn es „innendrin" ganz anders aussieht. Wenn jedoch Normen schwächer werden oder verschwinden, müssen Regeln entstehen, die an ihre Stelle treten. Sonst besteht eine Angst gegenüber der nicht-normierten und unregulierten Zukunft, die ich für gar nicht unberechtigt halte. Denormierung ist immer komplementär mit Regulation zu sehen, zusammen mit Deregulation führt sie ins Chaos – dies ist zumindest zu befürchten.

Ein wesentliches Problem des gleichberechtigten Dialogs ist die Unklarheit der Bewertungskompetenz. Bei einem gleichberechtigten Dialog fehlt der „Schiedsrichter"; das gesellschaftlich herrschende Geschlecht kann hier nicht Schiedsrichter sein. Es muß daher eine Klarheit der Bewertungskompetenz geschaffen werden – am besten über regulierte Interaktion, gemeinsame Verfahren, partizipative Strategien.

Und das ist bereits wieder sehr politisch und führt in das Vorfeld des Dialogen.


Ekkehard Nuissl: Auf dem Weg zu einer Menschengesellschaft. Vision einer Menschengesellschaft – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2000/nuissl00_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid