Christine Schumann Juni 1999


Sprachenlernen in einer veränderten Gesellschaft
DIE-Kolloquium 1999 in Mainz

Die Notwendigkeit, mehr als die eigene Muttersprache zu lernen, wird von niemandem mehr ernsthaft bezweifelt - Sprachenlernen hat also Konjunktur, gerade im Hinblick auf die Internationalisierung fast aller Lebensbereiche. In seinem DIE-Kolloquium 1999 hat das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung (DIE), Frankfurt/M., dieses Thema aufgegriffen. Drei Tage lang, vom 14. -16. Juni 1999, beschäftigten sich in Mainz 50 Expert/innen aus Universitäten, Bildungseinrichtungen, Sprachschulen und Verlagen intensiv mit dem "Sprachenlernen in einer veränderten Gesellschaft". Das DIE-Kolloquium findet seit 1995 jährlich zu wechselnden fachlichen Themen der Erwachsenenbildung statt.

Das diesjährige DIE-Kolloquium zum Thema Sprachenlernen war umfassend angelegt: In zahlreichen Kurzreferaten wurden Thesen und Aspekte vorgestellt, die die derzeitige Diskussion um das Sprachenlernen und -lehren widerspiegeln. Diskutiert wurde über die Themenkomplexe aktuelle Tendenzen im Fremdsprachenlernen, den Paradigmenwechsel in der Lerntheorie und über die Bildungslandschaft der Zukunft. Eine Publikation zu diesem Kolloquium ist in Vorbereitung.

Aktuelle Tendenzen im Fremdsprachenlernen

Grenzüberschreitendes Lernen, Selbstlernen/Multilingualität, Multimedia sind zentrale Themen, die derzeit die Auseinandersetzung um das sinnvolle Lehren und Lernen von Sprache prägen. Sie wurden, wie auch die beiden im folgenden dargestellten Themenkomplexe - Qualitätssicherung und -entwicklung und Beruf und Sprache, beim DIE-Kolloquium diskutiert.

Beruf und Fremdsprachen

Betrachtet man den Fremdsprachenbedarf aus Sicht der Betriebe, zeigt sich, daß nicht nur Großunternehmen, sondern in zunehmendem Maße auch kleine und mittlere Betriebe Mitarbeiter mit soliden Fremdsprachen- bzw. Englischkenntnissen benötigen. Und das nicht nur auf der Managementebene, sondern bis hin zu den unteren Hierarchieebenen. Allein - sie reklamieren zwar Bedarf, investierten aber selten in die Fremdsprachenqualifikationen, so fand Dr. Angela Paul-Kohlhoff, TU Darmstadt, in einer im Auftrag des Bundesinstituts für Berufliche Bildung (BIBB) erarbeiteten Studie heraus. Entsprechend fortgebildet würde lediglich das höhere Management - die Vorstandsebene verfüge in der Regel über Dolmetscher - in die sprachliche Qualifikation der Fach-, Montage- und Sachbearbeiter/innen werde so gut wie gar nicht investiert. Für die meisten ist das Sprachenlernen also eine persönliche Bringschuld. Angesichts der Tatsache, daß Sprachenkenntnisse in Englisch ein Auslesekriterium für den Erwerb eines Arbeitsplatzes sei, ist für sie "der Fremdsprachenunterricht an Berufsschulen ein absolutes Muß, um die Chancengleichheit innerhalb der EU zu gewährleisten".

Beim "language auditing", beschreibt Prof. Dr. Albert Raasch, Universität des Saarlandes, das Verfahren, werden Fremdsprachenkenntnisse der Mitarbeitenden in Betrieben und der entsprechende betriebliche Bedarf ermittelt. In Frankreich und Großbritannien schon gang und gebe, ist dieses Verfahren, das im Bereich der Qualitätsentwicklung angesiedelt ist, in Deutschland noch weitgehend unbekannt. Die bei "language audits" zu Tage tretenden Sprachkenntnisse und Motivationen gilt es mit Hilfe einer entsprechenden Beratung durch Auditeure zu entwickeln, um so zu einer Optimierung der Arbeitsprozesse beizutragen.

Dagmar Paleit, Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer, plädierte, in ihrem Referat "Deutsch im Beruf" dafür, dass allgemein akzeptierte didaktische Vorgehensweisen im Sprachunterricht wie das Einführen und Üben des von den Lernenden benötigten sprachlichen Wissens dann geschehen müsse, wenn es aktuell gebraucht würde. Nur wenn von den Beteiligten Inhalt und Abfolge des Unterrichts gemeinsam festgelegt werde, erklärte Paleit, können die für den Arbeitsplatz notwendigen sprachlichen Qualifikationen angemessen vermittelt werden.

Qualitätssicherung und -entwicklung im Fremdsprachenlernen

Qualitätssicherung im Sprachenbereich ist ein komplexes Unterfangen. Doris van de Sand von der Interessengemeinschaft Qualität Deutsch als Fremdsprache stellte sechs Faktoren vor, die für die Entwicklung eines Qualitätssicherungssystems notwendig sind: Kundenorientierung, interne Kommunikation und Entwicklungsfähigkeit beziehen sich dabei auf die Institution bzw. auf das Verhältnis zwischen Institution und Mitarbeitenden; Qualität des Unterrichts, Feedback-Sicherung und Aussagekraft von Zeugnissen sind Faktoren, die sich auf das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden beziehen. Ausgehend von diesen Faktoren müssen konkrete Instrumente entwickelt werden. Grundsätzlich kann Qualitätssicherung nicht bedeuten, an einem einmal definierten Status Quo festzuhalten, denn Qualität, so van de Sand, muß ständig weiterentwickelt werden.

Paradigmenwechsel in der Lerntheorie

Neben der Auseinandersetzung mit einzelnen, fachspezifischen Themen ist die Diskussion um ein sinnvolles Lehren und Lernen von Fremdsprachen immer auch von theoretischen Denkansätzen beherrscht. In der Wissenschaft aktuell diskutierte Theorien finden über kurz oder lang immer Eingang in die praktische Arbeit. Nachdem im Sprachenbereich lange Zeit über kognitive Modelle des Spracherwerbs diskutiert wurde, ist derzeit der Konstruktivismus "en vogue".

Konstruktivismus

Übertragen auf die Pädagogik führt der ursprünglich aus der Biologie stammende wissenschaftliche Ansatz des Konstruktivismus zu folgenden "Annahmen": ‘Lernen erfolgt ausschließlich selbst organisiert und selbst gesteuert; Lehren (=Belehren) ist sinnlos, ja undemokratisch; organisierte Lernprozesse können nur die Relativität allen Wissens deutlich machen’. Dies war eine von Prof. Dr. Erhard Schlutz, Universität Bremen, in seinem Referat vorgetragene These über die Hintergründe dieser Theorie. In genau dieser - zugegeben überspitzten - Formulierung sieht er die Funktion der aktuellen Debatte um den Konstruktivismus, der bislang noch keine eigene Pädagogik und Didaktik hervorgebracht habe: "Er soll uns daran erinnern, daß Lerner grundsätzlich selbst lernen, ihnen aber eine zum Lernen anreizliefernde Umgebung geschaffen werden soll." Schlutz’ Warnung galt einer unkritischen Übernahme der von den einzelnen Wissenschaftlern z. T sehr unterschiedlich interpretierten Ausgangshypothesen

Sprachenlernen aus biographischer Sicht

Welche Anreize im wirklichen Leben, also nicht nur in Unterrichtssituationen, dazu führen, dass Sprachen gelernt werden, dazu können die Lernenden selbst einiges sagen. Diese Auffassung vertritt Prof. Dr. Katarina Meng, Institut für Deutsche Sprache, Mannheim. In Sprachlernbiografien von Rußlanddeutschen untersuchte sie, unter welchen Bedingungen die Befragten das Russische und das Deutsche erworben haben, und im Falle des Deutschen erst verlernt und dann wieder erlernt haben. Grundlage sind dabei die Aussagen der Lernenden, die Auskunft darüber geben, welche Ziele und Ergebnisse ihnen beim Lernen wichtig waren, was ihnen ihrer Meinung nach geglückt ist und was nicht. Das Lernen einer neuen Sprache wird, so eine These von Meng, in hohem Maße durch die vorgängigen Sprachlernerfahrungen bestimmt. Von besonderer Bedeutung sind insbesondere ihre bereits vorhandenen Kenntnisse anderer Sprachen, ihre Erfahrungen mit Methoden des Sprachenlernens sowie ihre Bevorzugung oder Ablehnung bestimmter Lernmethoden. Wen es gelänge, diese Vielfalt individueller Lebensläufe und Lernerfahrungen in den Sprachunterricht zu integrieren, könnten viele vergebliche Mühen vermieden werden, erklärte Meng die Bedeutung des sprachbiografischen Ansatzes für die praktische Arbeit.

Was ändert sich für wen beim Sprachenlernen

Aus einem erweiterten Verständnis von Sprache, neuen lerntheoretischen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ergeben sich konkrete Konsequenzen: für Unterrichtende insofern, als ihre Fortbildungsmöglichkeiten und -bereitschaft intensiviert werden müßten. Denn nur mit einer guten sprachdidaktischen Ausbildung können neue lerntheoretische Konzepte auch in der praktischen Arbeit umgesetzt werden. Ein weiteres Hemmnis ist die eher schlechte Bezahlung von Sprachenlehrern: Sie führt zum einen zu einer hohen Fluktuation, die einer kontinuierlichen Arbeit hinderlich ist, zum anderen muß der Aufwand der Kursleitenden für die Unterrichtsvorbereitung in angemessenem Verhältnis zur Bezahlung stehen. Entsprechend wichtig ist es für Institutionen deshalb, ihre Einrichtung für Kursleitende attraktiver zu machen, ein einheitliches Marketing-Konzept zu entwickeln und Qualitätsstandards, z.B. für Kurstypen, Kursleitende sowie Materialien zu formulieren und einzuhalten. Für den Sprachenlerner wird die Zukunft einen hohen Anteil von selbstorganisiertem Lernen bringen - anders lässt sich die erforderliche Nähe zur authentischen Anwendungssituation zu den individuellen Interessen und Lernervoraussetzungen sowie die erforderliche Flexibilität der Lernorganisation nicht erreichen.

Bildungslandschaft der Zukunft

Die Bildungslandschaft hat sich in den vergangenen Jahren verändert: Traditionelle Bindungen der Einrichtungen an bestimmte Ziele und Zielgruppen werden zunehmend lockerer und auch der Sprachenbereich erhält dadurch ein neues Gesicht. Wie können Bildungseinrichtungen bei der Vermittlung von Fremdsprachen miteinander arbeiten, wenn gewachsene Zuständigkeiten nicht mehr gelten? Das Prinzip des Knüpfens neuer Netzwerke könnte auch hier Wege aus der Unübersichtlichkeit aufweisen: Fachverbände, interdisziplinäre Vorhaben und Qualitätsvereine müssten sich mehr als bislang auf einer fachlichen Ebene auseinandersetzen; Einrichtungen mit sich ergänzenden Schwerpunkten könnten auf institutioneller Ebene Verbünde bilden. Und unter bildungspolitischen Gesichtspunkten müsste geklärt werden, ob die Politik als Partner oder als Vorgebende eines regulierenden Rahmens agiert, oder aber einer weitgehenden Selbstregulierung den Vorzug gibt. In wirtschaftlicher Hinsicht ist das Schaffen von Netzwerken jedoch begrenzt: Ob kooperiert oder konkurriert wird, das können Einrichtungen, die u.U. am gleichen Fördertopf sitzen nur auf lokaler Ebene entscheiden. Eines scheint jedoch klar: "Alle am Lernprozess Beteiligten: die Lerner selbst, Unterrichtende und Institutionen werden sich auf beträchtliche Änderungen einstellen müssen", so Gerhard von der Handt (DIE), der das Kolloquium leitete.

Weitere Informationen:
Deutsches Institut für Erwachsenenbildung (DIE)
Hansaallee 150
60320 Frankfurt/Main
Fon 069/95626-0, Fax -174

Öffentlichkeitsarbeit:
Christine Schumann
Fon -177

Planung und Entwicklung:
Gerhard von der Handt
Fon -150


Christine Schumann: Sprachenlernen in einer veränderten Gesellschaft. DIE-Kolloquium 1999 in Mainz. Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2000/schumann00_01.htm. Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid