Dorothea Bender-Szymanski, Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF), Dezember 2000


Interkulturelle Kompetenz im Bildungswesen - eine Herausforderung für Weiterbildung

Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung"

 

Die Kultusministerkonferenz (1996) fordert in ihrer Empfehlung zum Thema "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule" einen grundlegenden bildungspolitischen "Perspektivenwechsel": Es müsse im Schulwesen künftig zunehmend um die "Wahrnehmung und Akzeptanz von Differenz" gehen. "Interkulturelle Kompetenz" sei "eine Schlüsselqualifikation für alle Kinder und Jugendlichen" und ziele "auf ein konstruktives Miteinander" (a. a. O.). Auf der Ebene des Rhetorischen, so das Fazit einer jüngsten Untersuchung zum Thema "Schulbildung für Minderheiten", seien inzwischen zwar durchaus Veränderungen der traditionellen Parameter in Gang gekommen. Ob aber die monolingual-monokulturelle Grundüberzeugung des deutschen Bildungswesens, das sich am Bild des nichtgewanderten, einsprachig aufgewachsenen Kindes orientiert, dessen Sozialisation in einer als sprachlich und kulturell homogen gedachten Gesellschaft stattfindet, tatsächlich an Kraft verliert, werde erst die Zukunft zeigen (Gogolin, Neumann und Reuter 1998).

Ein Grund für diese eher ernüchternde Bilanz liegt meines Erachtens in der Vernachlässigung der Vorbereitung von Lehrerinnen und Lehrern auf ihre Funktion, die sie in einer "multikulturellen" Schule erfüllen sollen. Erst ein Lehrer, der selbst über die "Schlüsselqualifikation interkultureller Kompetenz" verfügt, ist in der Lage, diese allen Kindern und Jugendlichen zu vermitteln. Lehrveranstaltungen, die Lehramtsstudenten mit den Besonderheiten interkulturellen Lernens vertraut machen, finden sich hingegen an den Universitäten nur punktuell und sind meist nicht verpflichtender Bestandteil des Studiums. Dass sich die geforderte Fähigkeit bei allen Lehrerinnen und Lehrern durch langandauernde und kontinuierliche Erfahrungen im Umgang mit kultureller Differenz gleichsam von selbst einstellt, dem widersprechen Befunde einer eigenen, DFG-geförderten empirischen Längsschnittuntersuchung (Bender-Szymanski 1999):

Deutsche Studienreferendare (hier und im folgenden sind sowohl weibliche als auch männliche Referendare gemeint), die vor Beginn ihres Zweiten Ausbildungsabschnitts eine Weiterentwicklung ihrer interkulturellen Kompetenz als Fähigkeit zum konstruktiven Umgang mit kultureller Differenz erwarten, berichten nach dem Referendariat über vielfältige Konflikte mit Schülern anderer kultureller Herkunft, die eine starke Ich-Betroffenheit bei ihnen auslösten. Sie haben jedoch auf sehr unterschiedliche Weise durch diese kulturbezogenen Erfahrungen "gelernt", und zwar unabhängig von Geschlecht und Schulform.

Eine Gruppe der Referendare verarbeitet die aufgetretenen Kulturkonflikte synergieorientiert - um wechselseitige Verständigung und Annäherung an die Interaktionspartner und die Suche nach neuen, "dritten" Lösungen bemüht - und damit in der von diesen Referendaren selbst vor Beginn des Referendariats angestrebten Richtung. Die Referendare gehen konstruktiv mit der eigenen affektiven Betroffenheit um und erschließen sich die Handlungsgründe der Schüler, um ihr Handeln aus deren kulturellem Kontext heraus verstehen zu können. Das kulturbezogene bereichsspezifische Deutungs-, Bedeutungs- und Handlungswissen, das sie erwerben, führt zur Relativierung und Differenzierung ihrer eigenkulturellen Sichtweisen und zur Erkenntnis der Mitverursachung der Konflikte durch unreflektiertes, eigenkulturell übliches Handeln und dessen Konsequenzen für die Schüler. Auf der Basis der Achtung fremdkultureller Orientierungen beziehen die Referendare diese in ihre Konfliktlösungsüberlegungen ein und handeln, ihren – rechtlich geschützten – pädagogischen Freiraum nutzend, unter Umstrukturierung ihrer Zielvorstellungen so, dass ein schonender Ausgleich der Interessen aller an den Kulturkonflikten direkt oder indirekt Beteiligten erzielt wird. Ihre Erfahrungen werten diese Referendare als persönlichen Entwicklungsfortschritt.

Die Äußerungen der Referendare, deren Verarbeitungsprozesse der aufgetretenen kulturbezogenen Konflikte als ethnoorientierte interpretiert werden, belegen eine Zunahme der Schwierigkeit, derartige Konflikte in der von ihnen vor Beginn des Referendariats erwünschten Weise zu bewältigen. Sie bestehen auf der Achtung und Übernahme des – unreflektierten – eigenkulturellen Normen- und Regelsystems durch die Schüler anderskultureller Orientierungen. Die Begründungen für die Forderungen einseitiger Anpassung lassen sich als Rechtfertigungen zur Beibehaltung der eigenen moralischen Glaubwürdigkeit interpretieren.

Ihre Konfliktlösungsüberlegungen sind darauf gerichtet, die "Änderungsresistenz" der Schülerinnen und Schüler mit einem anderen kulturellen Hintergrund und damit die kognitiven, psychischen und sozialen "Defizite" zu beseitigen, die einen reibungslosen Ablauf des Unterrichts erschwerten. Selten wird von gelungenen Anpassungsbemühungen berichtet, mehrheitlich von einer sinkenden eigenen Selbstwirksamkeitserwartung. Die Entwicklung geeigneter Anpassungsmaßnahmen wird deshalb auf (schul)politischer Ebene erwartet. Für den Fall des Scheiterns solcher Maßnahmen wird auch der Ausschluss Anpassungsunfähiger oder -unwilliger aus der Residenzkultur erwogen. Es ist nicht erkennbar, dass der rechtlich gewährte pädagogische Freiraum, die Auslegungsnotwendigkeit sog. unbestimmter Rechtsbegriffe sowie die vom Gesetzgeber oft eingeräumten Ermessensspielräume von diesen Referendaren so genutzt werden, dass auch fremdkulturelle Orientierungsmuster berücksichtigt werden können. Bei wenigen Referendaren führt erst eine gezielte Intervention durch die Interviewer zur Reflexion eigen- und fremdkultureller Orientierungen und zur verständigungsorientierten Weiterverarbeitung kulturbezogener Konflikte. Bei der Mehrheit dieser Referendare bewirkt die Intervention eine Reflexion der Barrieren, die die eigene Änderungsresistenz begründen. Sie sehen es als - z. T. schwierig erlebte - längerfristige Entwicklungsaufgabe an, an den eigenen Barrieren zu arbeiten und ein größeres Selbstvertrauen aufzubauen. Die Bedingungen für eigene Lernfortschritte werden in sozialen Kontexten verankert, in denen einer fremdgestützten Intervention, z. B. durch Weiterbildungsmaßnahmen, eine wichtige reflexionsfördernde Funktion beigemessen wird.

Wenn die auch in anderen empirischen Untersuchungen belegte kulturelle Fremdheit als fundamentale Barriere von jenen Angehörigen der Aufnahmegesellschaft erlebt wird, die eine entscheidende Bindegliedfunktion für Integrationsbemühungen erfüllen sollen (Eberding und Schepker 1995), dann dürfte es für sie erst recht schwer sein, sich Zugang zu den Ressourcen zu verschaffen, über die Eltern und Kinder mit einem anderen kulturellen Hintergrund verfügen. Gerade diese gilt es zu nutzen, wenn Integration und nicht Assimilation das Ziel erzieherischen Handelns ist (vgl. Nauck, Diefenbach und Petri 1998). Die Ergebnisse nicht nur der genannten Untersuchungen unterstützen somit die Forderung der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen (2000): "Interkulturelle Pädagogik sollte als Bestandteil der Lehreraus- und Weiterbildung aufgenommen werden bzw. einen deutlich höheren Stellenwert erhalten." (a. a. O.129).

Solche weitgehend geteilten Forderungen sind allerdings auch der Kritik ausgesetzt. Durch die explizite Thematisierung von "Kultur" werde ein neues Konzept als Grenzmarkierung gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsverfahren eingeführt, das den Menschen auf eine Zugehörigkeit zu ethnischen Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaften festlege, als kollektiver "Kerker" das Individuum seines Anspruchs auf Autonomie beraube und rassistische und ethno-nationalistische Ausgrenzungsstrategien im neuen Gewand fortschreibe (vgl. die kritische Stellungnahme von Römhild 1998). Durch die Bereitstellung interkultureller Weiterbildungsmaßnahmen für Lehrerinnen und Lehrer werde der Mensch zu Unrecht als Urgrund des Rassismus, der Gewalt, der Fremdenfeindlichkeit und der Diskriminierung von Minderheiten ins Zentrum pädagogischer Maßnahmen gerückt, anstatt die Institutionen, die Politik und das Recht als deren eigentliche Urheber zu identifizieren. Hierzu ist u. a. folgendes kritisch anzumerken:

  • Einen Zusammenbruch der Kommunikation und einen Abbruch der pädagogischen Beziehungen zwischen und mit den betreffenden Schülerinnen und Schülern. Es bedarf eines interkulturell kompetenten Lehrers, der die Gründe für den Zusammenbruch erkennt, transparent macht und Möglichkeiten eines Interessenausgleichs erarbeitet. Geschieht dies nicht, wird dem inkuldierenden bzw. exkludierenden Gebrauch des Konzeptes Kultur geradezu Vorschub geleistet.
  • Die Gefahr, die eigenkulturell gewohnten Normen und Regeln für alle zum Maßstab zu nehmen.
  • Rechtfertigungen für eigenes Handeln unhinterfragt beibehalten zu können. Eindrucksvolle Beispiele lassen sich in der eigenen Untersuchung belegen (Bender-Szymanski 1999).

Der Forderung der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen muss deshalb uneingeschränkt zugestimmt werden, insbesondere im Hinblick auf die Weiterbildung von Lehrern. Weiterbildung, hier als gezielte und konstruktive Intervention verstanden, bedeutet dann nicht nur, Bedingungen bereitzustellen, die es den Teilnehmern ermöglichen, die Gefahr kulturalistischer Zuschreibungen zu erkennen und bereichsspezifisches kulturbezogenes Wissen über fremdkulturelle Deutungs-, Bedeutungs- und Handlungssysteme zu erwerben, ohne das es zu eskalierenden Missverständnissen kommen kann. Weiterbildung muss darüber hinaus zur Reflexion eigenkulturell üblicher Situationsdeutungen und handlungsleitender schulischer Normen und (auch ungeschriebener) Regeln anregen. Generalisierte, für die eigene Kultur vermeintlich typische, verbindliche, über die Zeit stabile und transsituational gültige "Kulturstandards" müssen dekonstruiert, Gemeinsamkeiten zwischen kulturellen Systemen entdeckt werden. Die Angemessenheit (eigen) kulturellen Handelns für interkulturelle Kommunikation und Kooperation muss reflektierbar gemacht werden. Besonders wichtig ist auf Grund der empirischen Befundlage, dass Weiterbildung von Lehrern ihre Rechte und Pflichten - auch jener zu moralisch begründeter Kritik an Routinen und formalisierten Regeln - thematisiert und zur Prüfung dazu anregt, ob einseitig anpassungsforderndes Verhalten von Schülern mit anderen kulturellen Orientierungen gerechtfertigt wird, um die eigene Verantwortung abzuwehren und so die moralische Glaubwürdigkeit beibehalten zu können. Ziel der Weiterbildung sollte sein, verständigungsorientiertes Handeln weiterzuentwickeln, das fremdkulturelle Orientierungen berücksichtigt und auch eigene Veränderungen einschließt, und zu vermitteln, dass "interkulturelle Kompetenz" als infinites Bemühen um das jeweils "Rechte" in der Auseinandersetzung mit immer neuen spezifischen Herausforderungen angesehen werden muss (Bender-Szymanski 2000).

Literatur

Bender-Szymanski, D. (1999). Kulturkonflikt als Chance für die Entwicklung normativer Orientierungen. In : Politisches Lernen. 3-4, S. 7-56.

Bender-Szymanski, D. (2000). Interkulturelle Kompetenz bei Lehrerinnen und Lehrern aus der Sicht der empirischen Bildungsforschung. Vortrag beim Workshop der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FIST) an der Universität zu Köln mit dem Rahmenthema "Interkulturelle Kompetenz in pädagogischen Arbeitsfeldern".

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25. August 1993, Akt.Z.: 6 C 8/91. [Die Befreiung einer Schülerin islamischen Glaubens vom koedukativen Sportunterricht.]. Recht der Jugend und des Bildungswesens, 2, S. 285-289.

Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (2000). 4. Bericht zur Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin.

Eberding, A.& Schepker, R.(1995). Zum Umgang mit Fremdem in der Erziehungsberatung. Psychologie in Erziehung und Unterricht, 42, S. 142-151.

Gogolin, I., Neumann, U. & Reuter, L. (1998). Schulbildung für Minderheiten. Eine Bestandsaufnahme. Zeitschrift für Pädagogik, 5, S. 663-678.

Kultusministerkonferenz (KMK): Empfehlung "Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule". Beschluss der KMK vom 25. Oktober 1996. Bonn.

Nauck, B., Diefenbach, H. & Petri, K. (1998). Intergenerationale Transmission von kulturellem Kapital unter Migrationsbedingungen. Zum Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen aus Migrantenfamilien in Deutschland. Zeitschrift für Pädagogik, 5, S. 701-722.

Radtke, F.-O. (1995). Interkulturelle Erziehung. Über die Gefahren eines pädagogisch halbierten Anti-Rassismus. Zeitschrift für Pädagogik, 41, 6, S. 853-864.

Römhild, R. (1998). Ethnizität und Ethnisierung: Die gemanagte Kultur als Ausgrenzungsinstrument. Kuckuck, 2, S. 4-9.


Dorothea Bender-Szymanski: Interkulturelle Kompetenz im Bildungswesen - Eine Herausforderung für Weiterbildung. Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung". Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2001/dieforum_bender_01.htm
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