Paul Ciupke, Bildungswerk der Humanistischen Union Nordrhein-Westfalens, Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten, Dezember 2000


Politische Jugend- und Erwachsenenbildung ist eine Werkstatt der Demokratie

Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung"

 

Vorbemerkung

Dem Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) gehören etwa 200 konfessionell nicht gebundene Heimvolkshochschulen, Jugendbildungsstätten und Bildungswerke an, die ihren Arbeitsschwerpunkt im Rahmen der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung haben. Der AdB existiert seit 40 Jahren und betrachtet seine Arbeit als einen wesentlichen Beitrag zur Infrastruktur und Sicherung der Demokratie und zivilen Gesellschaft. Aus dieser Perspektive nehmen wir zu den folgenden Fragen lebenslangen Lernens und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen Herausforderungen Stellung.

Themenbereich 1: "Neue" Medien - Informations- und Kommunikationstechnologien

Dass die Medien, alte wie neue, ein wichtiges methodisches Repertoire für die Erwachsenenbildung bilden, ist unbestritten. Dabei schaffen die neuen Informationstechnologien sehr interessante Erweiterungsmöglichkeiten und neue Zugangswege, die im Rahmen von Bildungsangeboten in vielfältiger Weise sinnvoll genutzt werden können und müssen: Als quantitative Erweiterung des Zugangs zu Wissen, als Chance für neue Anschauungsmöglichkeiten, als Ebene der Recherche und des investigativen Lernens, als Möglichkeit einer informationellen Vernetzung mit anderen Lernorten und Lerngruppen, als Erweiterung der Vor- und Nachbereitungswege von Veranstaltungen und Angeboten, als Gelegenheit einer umfassenderen Kontextuierung und als virtuelle Erschließung eines so sonst nicht komponierbaren Erkenntniszusammenhangs.

Der manchmal geäußerten Diagnose, nun sei mit den neuen Medien das Lernen endlich interaktiv und selbstbestimmt geworden, kann trotzdem nicht zugestimmt werden. Natürlich schaffen die neueren Technologien auch neue Räume selbstbestimmten und selbstgesteuerten Lernhandelns, Erweiterungen einer Handlungsautonomie und beinhalten mehr responsive und interaktive Lernwege als frühere Medien. Dennoch gilt es zu erinnern, dass das lernaktive Subjekt auch schon früher im Mittelpunkt didaktischer Betrachtungen und erwachsenenpädagogischer Normen stand und auch die alten Medien, bzw. die bisherigen Lernarrangements Interaktivität und Selbstbestimmung gefördert und ermöglicht haben. Eine Revolution der Grundlagen der Erwachsenenbildung sehen wir in den technischen Neuerungen nicht. Im Gegenteil akzentuieren die virtuellen Lernorte und Möglichkeiten die realen besonderen Lernorte und Kommunikationsräume von Heimvolkshochschulen und Bildungsstätten neu und werten sie (wieder) auf. Dies gilt für die politische Bildung insbesondere deswegen, weil die normative Klärung von Grundlagen der gemeinsamen gesellschaftlichen und politischen Zukunft auch die Ebene persönlicher Begegnung und Überzeugungskraft braucht.

Lernsoftware und soziales Lernen stehen sich nicht entgegen, sondern müssen in die richtige Balance gebracht werden. Dafür braucht es natürlich auch nach wie vor besondere Lernorte wie die Jugendbildungsstätten und Heimvolkshochschulen. Nicht ohne Besorgnis müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass manche politische Positionierung und Weiterbildungsinitiative der Gegenwart unter dem Eindruck neuer Technologien und den Versprechen selbstgesteuerten Lernens die alten Einrichtungen der Erwachsenenbildung und die Bedeutung der Institutionalisierung insgesamt nicht nur zu vernachlässigen scheint, sondern für die Zukunft sogar preiszugeben bereit ist.

Themenbereich 2: Patchwork-Biographien

Nicht nur der Arbeitsmensch und sein berufliches Wissen sind von Kontinuitätsbrüchen, Entwertungen etc. bedroht und neuen Lernzwängen ausgesetzt, auch der politische und soziale Mensch kann nicht mehr davon ausgehen, dass einmal angeeignete Orientierungen, Normen und Traditionslinien ihren Zweck lebenslang erfüllen. Es haben sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die großen gesellschaftlichen Entwürfe, Ideologien und Erzählungen verschlissen, verbraucht oder gar in ihren Voraussetzungen als inhuman erwiesen; auch die traditionsverbürgenden Milieus und großen Zusammenschlüsse in der Gesellschaft verlieren allmählich-stetig ihre integrierende Kraft und damit auch die lange selbstverständliche soziale und ideologische Funktion einer inhaltlichen und organisatorischen Bündelung.

Es bleiben aber die Fragen, auf welche die Utopien, Ideologien, aber auch die eher pragmatischen Programmatiken Antworten geben wollten. Und es sind neue grundsätzliche Problemzonen und gesellschaftliche Steuerungsprobleme hinzugekommen. Die kleinen Öffentlichkeiten der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung erlauben das Gespräch über die gemeinsame gesellschaftliche Zukunft und die Interpretation der Vergangenheit, ohne Bekenntnis- und Entscheidungszwang. Sie pflegen die Möglichkeiten des Diskurses und bieten damit ein (wackeliges) Geländer.

Das Aushalten und Anerkennen von realen Unterschieden und Pluralitäten, Ambiguitäten, Ungewissheiten, widersprüchlichen Zumutungen, Problemlagen ohne einfache Antworten wird zur (nicht immer) selbstverständlichen bürgerschaftlichen Tugend. Orientierungsprobleme, Verlustängste und Lernzumutungen erscheinen als neue Abkömmlinge des stummen Zwangs der nun globalisierten gesellschaftlichen Verhältnisse. Eigenartigerweise steht der immer wieder öffentlich geforderten Einsicht in die Notwendigkeit lebenslangen Lernens kein individuelles Recht, kein Recht des Einzelnen auf Weiterbildung gegenüber. Länderverfassungen verpflichten allenfalls darauf, eine entsprechende Weiterbildungsinfrastruktur zu stützen - und auch das tun die Länder in immer geringerem Umfang, vor allem was die allgemeine und die politische Erwachsenenbildung betrifft.

Die einzige Gesetzesinitiative, die bisher auf die individuelle Ebene zielt, ist das im Bildungsurlaub enthaltene Recht auf Zeit bzw. Freistellung bei Lohnfortzahlung. Allerdings wird selbst diese nur in Ansätzen und regional entwickelte Initiative zur Zeit erheblich eingeschränkt. Es gibt großen künftigen Handlungsbedarf, lebensgeschichtliche Lernräume durch Zeitansprüche, Stipendien und Ansparmodelle in flexibler Form und für alle zu eröffnen und gesetzlich zu sichern. Dies darf aber nicht zu einem Gegeneinander und politischen Ausspielen von institutioneller Sicherung und individuellem Recht auf Weiterbildung führen.

Themenbereich 3: Leben mit anderen

Toleranz, die Anerkennung und das Aushalten von (kulturellen und religiösen) Unterschieden, das Desiderat von Gleichheit und Verteilungsgerechtigkeit, dies alles kann in aktuelle politische Parameter übersetzt, gelehrt und angeeignet werden. Die Normen und Wege eines friedvollen Miteinanderlebens ergeben sich aber nicht nur aus ihrer offensichtlichen Richtigkeit, sondern bedürfen auch der Erfahrung und Bestätigung in persönlicher Kommunikation. Im Bereich interkulturellen Lernens hält die Bedeutung persönlicher Begegnungen an, es ist aber offensichtlich, dass - vor dem Hintergrund einer faktischen Einwanderergesellschaft - die Entwicklung und Verbreitung interkultureller Kompetenzen künftig noch größere Bedeutung in der Jugend- und Erwachsenenbildung gewinnen wird.

Die politischen und militärischen Ereignisse der Jahre nach 1989 indizieren, dass die Schicht der gesellschaftlichen Zivilität in Deutschland, in Europa und in der Welt immer noch dünn und zerbrechlich ist. Selbst Völkermorde, ethnische Säuberungen und die Einrichtung von Konzentrationslagern (Ruanda, Bosnien) sind nicht in den Bereich des Unausdenklichen vertrieben, sondern geschehen erneut. Die Demokratien haben große Schwierigkeiten, solches zu unterbinden und hier einzuschreiten, ja die politischen Auseinandersetzungen um den Golfkrieg und die Nato-Intervention im Kosovo zeigen, dass aus der Geschichte unterschiedliche Lehren und Schlussfolgerungen gezogen werden, die zwischen Pazifismus und menschenrechtlich motiviertem militärischem Eingriff schwanken.

Auch nach innen zeigt sich, dass sich die Mindeststandards des Zusammenlebens offensichtlich nicht einfach vererben. Ausbildungs- und Arbeitsplätze allein garantieren nicht die Abwesenheit von Fremdenfeindlichkeit: Ressentiments und Bedrohungsängste reichen bis in die Mitte der Gesellschaft. Versuche der Politik aber, mittels politischer Bildung und entsprechender Förderprogramme das politische Leben zu steuern, sind fachlich und sachlich äußerst bedenklich. Eine kontinuierlich arbeitende politische Jugend- und Erwachsenenbildung ist kein kurzfristiges Interventionsmittel, stabilisiert aber auf Dauer eine zivile politische Kultur.

Zivilisatorische Errungenschaften und historische Erfahrungen verstehen sich nicht von selbst, sie werden jeweils neu und aus unterschiedlichen Teilnahmeperspektiven angeeignet und interpretiert. Unschärfen und Mehrdeutigkeiten gehören selbstverständlich zu einer demokratischen Geschichts- und Diskussionskultur und sind selbstverständlicher Ausgangspunkt einer alle einbeziehenden politischen Erwachsenenbildung und Kommunikation. Selbstverständlich aber muss politische Bildung den unverzichtbaren universellen Kern der Menschenrechte aufzeigen, interpretieren und verteidigen. Sie kann sich aber weniger denn je zum Promotor eines bestimmten politischen und gesellschaftlichen Projekts oder Milieus machen. Gemeinsame Hintergrundüberzeugungen können über das demokratische Minimum und ein transparentes Verfahren hinaus nicht vorausgesetzt werden.

Auch dies stärkt ein weiteres Mal die Bedeutung der öffentlichen (Bildungs-) Arena, in der Ansichten ausgetauscht, Interessen artikuliert, Argumente eingewandt, Einsichten reflektiert, Begründungen formuliert, Initiativen ausgeheckt werden. Die Beteiligten müssen einerseits die Voraussetzungen ihrer Beteiligung an diesem politischen und gesellschaftlichen Prozess, also ihre Argumentations- und Artikulationsfähigkeit, durch allgemeine und politische Bildung herstellen, zugleich ist aber die Beteiligung an der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung auch schon die Realisierung öffentlicher Kommunikation. Politische Jugend- und Erwachsenenbildung ist eine Werkstatt der Demokratie.


Paul Ciupke: Politische Jugend- und Erwachsenenbildung ist eine Werkstatt der Demokratie. Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung". Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2001/dieforum_ciupke_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service Texte Online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de