Benno Hafeneger, Philipps-Universität Marburg, Dezember 2000


"Leben mit Anderen lernen". Eine Aufgabe für Politik und Politische Bildung

Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung"

 

Wie die Bildungslandschaft insgesamt, so befinden sich auch die Weiterbildung und die politische Bildung (als ein Teil von ihr) mit der reklamierten Perspektive des lebensbegleitenden Lernens im Umbruch und mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Dieser einleitende Satz ist vielfach benannt und vor dem Hintergrund vielschichtiger gesellschaftlicher Wandlungsprozesse diagnostiziert und mit Forderungen verbunden worden. Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog forderte gar einen "Ruck", der durch die Gesellschaft gehen müsse. Wissenschaft, Wirtschaft, Träger der Weiterbildung und Politik sind seit einiger Zeit bei unterschiedlich akzentuierten Diagnoseangeboten der reflexiven Moderne (u. a. als Wissens-, Lern- oder auch Weiterbildungsgesellschaft), den hochgradig ambivalenten Folgeneinschätzungen (u. a. Exklusion-Inklusion, Integration-Desintegration, politische Radikalisierung) und den erkennbaren Herausforderungen (u. a. für das Sozial- und Bildungssystem) damit befasst, "Instrumente" der Steuerung auch im Bereich der Weiterbildung zu suchen bzw. neu zu akzentuieren. Das zeigen die interessengeleiteten Debatten zur Bedeutung und zum Stellenwert der Weiterbildung, die zwischen Wortpolitik, Status-quo-Denken, verkürztem Modernisierungsverständnis und differenzierten Begründungen zu verorten sind. Interessen werden abgesteckt, Akteure profilieren sich, Trends sind erkennbar und Weichen werden gestellt – aber noch ist nicht so recht erkennbar, wohin die Reise geht bzw. gehen soll, welche neuen Kompromissformeln, Regelungen und Förderungsbereitschaften sich durchsetzen und tragfähig werden. Ich will knapp zwei Herausforderungen markieren und anzeigen, mit welchen Aufgaben die politische Bildung als (bisher eher vernachlässigter) Teil der Weiterbildung konfrontiert ist und welche Bedeutung ihr in der Gestaltung bzw. Beeinflussung - als kritisch-reflexive Einwirkung der Gesellschaft auf sich selbst - zukommt bzw. zukommen kann.

Zu den Problemfeldern in Bezug auf die "Lage der Republik" und die Gesellschaft gehören insbesondere die soziale Frage, die Zukunft der Arbeitsgesellschaft (soziale Gerechtigkeit), die politische Steuerung von Globalisierungsprozessen, die Folgen von Globalisierung, der Umgang mit den natürlichen Ressourcen und damit die Zukunft der nachwachsenden Generationen ebenso wie das Verhältnis der Generationen, der Geschlechter und das friedliche (zivilisierte) Zusammenleben der Kulturen in der Bundesrepublik, in Europa und in der gesamten Welt.

Globalisierung der Probleme

Wir haben es mit Entwicklungen und Prozessen zu tun, die grundlegend und tiefgehend die Gesellschaft(en), deren Institutionen wie auch die Subjekte verändern; Negt spricht in einer Welt gesteigerter Dynamik und Beschleunigung von gesellschaftlichen und kulturellen "Erosionskrisen". Wie immer man die angebotenen Gesellschaftsdiagnosen zwischen Risikogesellschaft, reflexiver Moderne und flexiblem (ungezähmten) Kapitalismus beurteilen mag: Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Produktions- und Distributionsprozesse, Währungsstabilität, Umweltpolitik, Friedenssicherung, Umgang mit Ressourcen, Folgen von ökonomischen und kulturellen Krisenentwicklungen und von Katastrophen – die Liste ließe sich umfänglich verlängern –, sie alle zeigen nachweislich die Europäisierung und Internationalisierung, die Globalisierung von Problemen und deren Lösung, sie sind bzw. werden tendenziell entgrenzt und entstaatlicht. Menzel verweist bei den derzeitigen Innovationsschüben auf die Paradoxie der "Mega-Trends" im Spannungsfeld von Weltgesellschaft, Weltwirtschaft und Weltkultur einerseits und von Fragmentierung, Nationalismen, Refundamentalisierung u. a. andererseits. Die Diskussion über das "Ende des Nationalstaates" bzw. die "postnationale Konstellation" (Habermas) bedarf in ihren Suchbewegungen nach transnationaler Handlungsfähigkeit innovativer Antworten und Instrumente für Problemlösungen, vor allem aber muss es gelingen, "neue Formen einer demokratischen Selbststeuerung der Gesellschaft zu entwickeln" (Habermas).

Leben mit Anderen lernen

Die weltweiten Ströme von Bildern, Informationen und Waren und die Migrationsbewegungen haben zur Folge, dass "Kulturen auf der Reise" (Clifford) sind. Die Prozesse der Globalisierung führen auch dazu, dass kulturelle Identitäten zunehmend in Frage gestellt werden, dass die eindeutige Zuordnung von Kultur – als kulturelle Identität in abgegrenzten Räumen - immer schwieriger wird und dass Kulturen nichts Statisches sind. Infolgedessen gilt es neu zu bestimmen, was kulturelle Identität bedeutet; sie darf nicht mehr einschnürend essentialisiert und in negativer Abgrenzung zum Anderen bestimmt werden. Diese Logik der Differenz ist zu überwinden, und über neue Konzepte der Zugehörigkeit (ohne ausschließende, rigide Identität) gilt es nachzudenken. Die Denkfigur und Herausforderung für diese Prozesse ist: Wir, die Bürgerinnen und Bürger, haben zu klären, wie wir das Zusammenleben und eine gleichberechtigte Koexistenz von Lebensformen verstehen und uns vorstellen wollen, wer wir werden können und wie sich das bewerkstelligen lässt. oder anders formuliert: Wir müssen darüber nachdenken, wie denn in Zukunft das Zusammenleben auf allen Ebenen zu gestalten ist. Für multikulturelle bzw. kulturell differenzierte Gesellschaften "wird eine ,Politik der Anerkennung’ nötig, weil die Identität jedes einzelnen Bürgers mit kollektiven Identitäten verwoben und auf Stabilisierung in einem Netz gegenseitiger Anerkennung angewiesen ist" (Habermas).

Politische Bildung

Beide kurz skizzierten Prozesse gehören - neben vielen anderen – zu den zentralen Zukunftsthemen der politischen Bildung, sie begründen geradezu konstitutiv das Lernfeld als integralen Bestandteil von lebensbegleitender Weiterbildung, und sie begründen gleichzeitig, dass nichts dringender ist, als die politische Bildung auszuweiten, statt sie einzuschränken. Gerade in Zeiten von Umbrüchen und Krisen bedürfen demokratische Gesellschaften solcher Orte, Zeiten und Institutionen, die Erfahrungen verarbeiten und klären helfen, die Orientierung anbieten und Demokratie erfahrbar machen. Dabei kann als Kerninteresse der politischen Bildung formuliert werden: mit Interesse, Geduld und Leidenschaft ein dialogisches (nicht belehrendes) Lernangebot (Instrument) zu sein für Selbstaufklärung über die Lebens- und Erfahrungszusammenhänge der Menschen sowie über den Zustand und die Zukunftsperspektiven der Gesellschaft(en) (national, in Europa und global), in die sie verwoben sind; ein Lernangebot (Instrument) mit Wegen und einer Kultur des Lernens zu sein, mit denen fragend und kritisch eingeladen wird, selbst-denkend seine Interessen (wieder) zu finden sowie nach-denklich und vor-denkend zu machen, um die gesellschaftlichen Verhältnisse – jenseits von Populismus und Opportunismus - wahrzunehmen, zu verstehen und zu beeinflussen. Oder wie von Hentig für die Pädagogik insgesamt formuliert hat: die Sachen zu klären und die Menschen zu stärken. Damit ist politische Bildung als ein Instrument der Aufklärung und der Einwirkung (d. h. Bestandteil der politischen Willensbildung und Einflussnahme) der Gesellschaft auf sich selbst mit der normativen Ausrichtung zu verstehen, ihre Demokratisierung und Humanisierung (als dialogische und kooperative Herstellung einer Zivilgesellschaft in weltbürgerlicher Absicht) voranzutreiben sowie neue Formen der demokratischen Selbststeuerung im Zusammenleben – national, für Europa und global - zu entwickeln. Politik und Gesellschaft müssen für die Realisierung dieses Vorhabens ihren Bürgern und Bürgerinnen eine "Grundausstattung" von politischem Reflexions- und Orientierungswissen als Schlüsselqualifikation ermöglichen. Um diese anspruchsvolle – aber alternativlose - Entwicklungsperspektive zu realisieren, braucht eine Gesellschaft dafür bereitgestellte Orte und Zeiten des politischen Lernens und Erfahrens. Zur Beantwortung der Frage, was ein Mensch wissen muss, um in diesen Zeiten der Umbrüche und Krisen zurechtzukommen, sich zurechtzufinden und zu orientieren, die Prozesse aktiv mit zu gestalten, gehört zentral der verwobene Zusammenhang, mit sich und Fremdheit, den Anderen umzugehen bzw. umgehen zu lernen.

Das gemeinsame Erlernen von gegenseitigem Respekt und friedlichem Miteinander, einer Kultur der Differenz und Anerkennung bedeutet für die politische Bildung (Träger und Akteure), am interkulturellen Diskurs teilzunehmen, dabei Lust auf Neues und Neuerungen zu fördern, neugierig auf Anderes zu machen und experimentell das Ungewohnte herauszufordern. Im Spannungsverhältnis von Vermittlung und Aneignung verstehen sich beide Seiten – Pädagog/innen und Teilnehmer/innen – als Lernende, Zuhörer und Beobachter in einem dialogischen Umgang miteinander. Die Pädagog/innen sind dabei vermittelnde Anbieter und Experimentatoren, sie sollen

Die Normalität der Moderne ist die komplexe und vielschichtige Einheit von Identität und Differenz. Es gibt nicht die Identität und die Kultur, ebenso wenig gibt es den richtigen Umgang mit Fremdheit und dem Fremden. Menschen sind nicht in ihrer Kultur gefangen, sondern in der Lage, sich kritisch mit ihr – d. h. mit vorgefundenen Traditionen – auseinander zu setzen und konstruktiv Neues zu schaffen. Der Blick auf Einwanderungsgesellschaften zeigt, dass Kulturen ständig im Wandel sind, dass dieser Prozess neue, eigenständige Kulturen (multikulturelle Gesellschaften) herausbildet, ohne kulturelle Differenzen einzuebnen; gerade in der Migration verändern sie sich, und oftmals hat die Lebensweise der Eltern (als Herkunftskultur) nicht mehr viel mit der ihrer Kinder gemein. Es entstehen neue kulturelle Unterschiede, neue Zugehörigkeiten, Lebensstile und vor allem Jugendkulturen. Pädagogik und politische Bildung der Einwanderungsgesellschaft haben Abschied zu nehmen vom Verständnis traditionalistischer, sich gegeneinander abgrenzender Einzelkulturen und das Profil einer sich dynamisch entwickelnden Kultur in einer sich im ständigen Wandel befindenden Gesellschaft zu erarbeiten und den Umgang mit ihr zu lernen. Diese Prozesse, die immer auch mit Konflikten, Problemen und Auseinandersetzungen verbunden sind, sind politisch und gesellschaftlich aufzunehmen und zu steuern; sie wären von der politischen Bildung so zu begleiten, dass sie verständigungsorientiert, vernünftig und rational ausgetragen werden und eigenem Denken, eigener Erfahrung verpflichtet und Argumenten zugänglich bleiben.

Wahrnehmungs- und Deutungsweisen von Fremdheit sind immer ein relationales Verhältnis von "innen" und "außen", sie reflektieren Modi des Fremderlebens von Personen, sozialen Gruppen und Teilen der Gesellschaft. Daher gilt es in der politischen Bildung hermeneutische Einsichten in die vielfältigen Erfahrungsmodi zwischen Faszination und Bedrohung, in Ängste, Vorurteilsstrukturen, Diskriminierung, Ressentiments, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus in Teilen der Bevölkerung selbstaufklärend aufzunehmen, um Aneignungen von Realität zu verstehen, die sich in negativer Abgrenzung des Eigenen vom Fremden realisieren und (weltanschaulich) verfestigen bzw. radikalisieren können. Das Problem von Fremdheit ist nicht neu, es ist Teil der Moderne und hat sich ständig verschärft und neu produziert; auch diese Perspektive mit den kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Tradierungen bis heute gilt es immer wieder aufklärend in die Bildungsangebote aufzunehmen. Nur wenn regressive Muster (mit den eigenen Anteilen in diesem Beziehungsverhältnis) zwischen Homogenisierungswünschen und Trennungsphantasien dechiffriert und unverarbeitete tatsächliche (und möglicherweise auch imaginierte) Fremdheitserfahrungen thematisiert werden und wenn es gelingt, in klugen politischen Schritten die "neue Unordnung der Welt" im Spannungsfeld von "Globalisierung und Fragmentierung" (Menzel) zu steuern und die Menschen mit Lerngelegenheiten und -anlässen anschlussfähig ihr Leben selbst gestalten zu lassen, hat das Projekt "Weltbürgergesellschaft" (im Sinne Kants) eine Chance. Es geht dabei um die Übersetzung von "anderer" Fremdheit in die "eigene" Fremdheit, um Logiken der Fremdheit mit ihren vielfältigen essentialistischen Konstruktionen von kultureller Identität allmählich aufzulösen. Das Lern-Credo für die politische Bildung – freilich ohne mit einem utopischen Begriff von Bildung zu operieren - wäre hier, dass im öffentlichen Diskurs und in einem demokratischen Gemeinwesen "jeder für jeden ein Anderer und dazu berechtigt ist, ein Anderer zu bleiben" (Habermas). Es geht dann nicht um Integration in die Gesellschaft, sondern durch die Herstellung positiver und entwicklungsfördernder Lebensbedingungen um einen Prozess gegenseitiger Anerkennung in der "Identitätsarbeit" und Integration der Gesellschaft. Die Fiktion einer homogenen und konfliktarmen Gesellschaft hat keinen Bezug zur Wirklichkeit. Die deutsche Gesellschaft ist wie jede andere grundsätzlich heterogen und von Konflikten durchzogen, und sich an dem Balanceakt der Gesellschaft - sich selbst zu integrieren - in öffentlicher Auseinandersetzung politisch bildend zu beteiligen, verweist auf den Prozess- und Vermittlungscharakter von gesellschaftlichen Entwicklungen, in denen das Lernfeld mit seinen Kompetenzen eine kritisch-aufklärende Rolle spielen sowie in den Angeboten für die jeweiligen Teilnehmer/innen eine praktisch-bedeutsame Relevanz bekommen kann. Was diese sich aneignen und was sie im "Dickicht ihrer Lebenswelt" aus den Lernangeboten und –erfahrungen machen, ob und wie sie damit umgehen, bleibt ihnen überlassen und fällt in ihre Verantwortung.

Literatur

Habermas, J. (1998): Die postnationale Konstellation. Frankfurt/M.

Menzel, U. (1998): Globalisierung versus Fragmentierung. Frankfurt/M.

Negt, O. (Hg.)(1994): Die zweite Bildungsreform. Göttingen


Benno Hafeneger: "Leben mit anderen lernen". Eine Aufgabe für Politik und Politische Bildung. Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung". Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2001/dieforum_hafeneger_01.htm
Gedruckt in: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, Heft I/2001, S. 27-29
Dokument aus dem Internet-Service Texte Online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de