Ernst Küchler, Deutscher Volkshochschul-Verband e. V. (DVV), Dezember 2000


"Neue Medien" und "Patchwork-Biographien" als Herausforderung für das Bildungssystem

Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung"

 

Themenbereich 1: "Neue" Medien – Informations- und Kommunikationstechnologien

Die Entwicklung der "Neuen" Medien, ihre nahezu unbegrenzte Nutzbarkeit, ihre Potentiale, ihre Vernetzung, ihre neuen Qualitäten, ihre rasche Verbreitung, die mit ihnen verbundenen Beschleunigungsprozesse, die sich daraus ergebenden Möglichkeiten, jederzeit, überall über Informationen verfügen und kommunizieren zu können, stellt uns erneut vor die bildungs- und sozialpolitische Frage nach der Chancengleichheit, nach der Teilhabe und Teilnahme an Informationen, an Wissen, an Kommunikation, an Einfluss und an beruflichen Chancen.

"Digital divide" beschreibt die Gefahr des Auseinanderklaffens der Gesellschaft in Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer. Wir entwickeln uns zunehmend zu einer Gesellschaft, in der nur noch derjenige mehr oder weniger am gesellschaftlichen Leben, an Arbeitsprozessen, an kulturellen Entwicklungen, an Kommunikation und an Informationen teilhaben kann, der über die notwendigen Kompetenzen und die erforderlichen materiellen Mittel verfügt. Daher muss die Bildungspolitik ihre Ziele und ihre Handlungsfelder neu definieren. Die Zeit ist günstig hierfür, da der ökonomische und der internationale Druck auf das Bildungssystem ständig wächst, sich den veränderten Rahmenbedingungen und den technischen und ökonomischen Entwicklungen anzupassen und hierfür die notwendigen Qualifikationen bereitzustellen. Diese beschränkte Sicht bedarf der Erweiterung um Kompetenzen in allen Lebensbereichen.

Ohne auf die technischen und ökonomischen Entwicklungen im Detail einzugehen, muss an dieser Stelle noch einmal auf die gewaltigen, rasanten und alle Lebensbereiche durchdringenden Prozesse verwiesen werden. Die Fertigungsprozesse, die Kommunikationsprozesse – privat, öffentlich und in der Wirtschaft - , die Kultur, nahezu alle Bereiche der Freizeit und natürlich auch der Bildungsbereich werden von dieser Entwicklung erfasst. Das Bildungssystem muss neue Kompetenzen vermitteln, neue Qualifikationen und dies unter der Bedingung ständiger Veränderung der Inhalte und der Vermittlungsformen, der Rollen von Lehrenden und Lernenden. Das dabei der Weiterbildung eine besondere, auch kompensatorische Rolle zukommt, liegt auf der Hand.

Damit aber "lebenslanges Lernen" als Folge der oben beschriebenen Entwicklungen nicht zu einer drohenden Forderung wird, müssen neue Formen der Motivation, der Lernprozesse, der Lernarrangements und Lernarchitektur entwickelt werden, die es den Menschen, allen Menschen, ermöglichen und erleichtern, an den Veränderungsprozessen aktiv teilhaben und teilnehmen zu können. Eine Wissens- und Informationsgesellschaft in einer Demokratie setzt den gebildeten, aufgeklärten und medienkompetenten Bürger voraus, den Bürger, der in der Lage ist, nicht nur Informationen zu erlangen und sich Wissen anzueignen, sondern diese Informationen und dieses Wissen zu bewerten, einzuordnen und einzusetzen. "Bin ich drin?" Das ist eine technische Frage. Teilnehmer und Teilhaber zu sein, den Anschluss nicht zu verpassen, das ist die weitaus maßgeblichere Frage.

Die Weiterbildung hat in diesem Zusammenhang eine wichtige und weitgehend neue Aufgabe. Die Volkshochschulen als kommunale Weiterbildungszentren und die Bibliotheken als Medienzentren, spielen dabei als öffentliche Einrichtungen eine wesentliche Rolle. Es stellt sich nicht die Frage, ob wir mehr Lernsoftware oder mehr soziales Lernen benötigen. Wir brauchen sowohl mehr und gute Lernsoftware, die in Lernprozesse und Lernorganisationen einzuordnen sind, als auch neue Formen und Inhalte sozialen Lernens, das sich an den oben beschriebenen Entwicklungen und Zielen orientiert.

Themenbereich 2: Patchwork-Biographien

Wenn sich die Erwerbsbiographien so rasch und diskontinuierlich entwickeln, wie dies in den letzten Jahren festzustellen und von Experten für die Zukunft prophezeit wird, hat dies Auswirkungen auch auf die Bildungs- und Lernprozesse. Lebenslanges, lebensbegleitendes Lernen wird zur Notwendigkeit, um Schritthalten zu können mit den Veränderungsprozessen im Betrieb bzw. im Erwerbsleben. Dabei geht es nicht nur um berufliche Qualifizierung, sondern auch um die Vermittlung von Kompetenzen, die nicht nur und in erster Linie im Rahmen klassischer Lernprozesse erworben werden, sondern Einstellungs- und Verhaltensänderungen zum Inhalt haben. In einer Zeit, in der sich die Arbeitsprozesse und die Arbeitsbedingungen so grundlegend verändern, werden sich auch die Lernprozesse und Lernbedingungen verändern müssen.

Es verändern sich:

Die Beschäftigungsverhältnisse. Neben die Vollzeitbeschäftigung treten zunehmend Teilzeitbeschäftigungen, befristete Beschäftigungsverhältnisse. Abhängige Beschäftigung wird ergänzt oder ersetzt durch selbständige Tätigkeiten. Menschen werden gleichzeitig oder im Wechsel Arbeitnehmer oder/und Unternehmer, bzw. Teilhaber sein.

Die Arbeitszeiten. Flexible Arbeitszeitmodelle werden sich durchsetzen. Arbeitszeitkonten werden den täglichen, wöchentlichen, monatlichen Arbeitsrhythmus, bzw. die Organisation der Lebensarbeitszeit prägen.

Die Arbeitsorte. Der Arbeitnehmer bzw. der Selbständige wird an unterschiedlichen Orten, unter den verschiedensten Arbeitsbedingungen seiner Tätigkeit nachgehen, im Betrieb, zu Hause, in Agenturen oder unterwegs. Die Möglichkeiten der Vernetzung und der Kommunikation lassen grundsätzlich das Arbeiten an jedem Ort und zu jeder Zeit zu.

Die Arbeitsorganisation. Die Strukturen in den Betrieben verändern sich. Eigenverantwortung wird eine weitaus größere Bedeutung erlangen. Die Menschen werden in den betrieblichen Organisationen unterschiedlich einsetzbar sein müssen. Hierarchien verlieren an Bedeutung. Interne Mobilität wird vorausgesetzt.

Arbeiten und Lernen, Beschäftigung und Qualifizierung gehen ineinander über. Der Betrieb wird zum Lernort. Das Verhältnis zwischen Einrichtungen der beruflichen Weiterbildung und den Betrieben muss geklärt werden, damit betriebliche und außerbetriebliche berufliche Weiterbildung besser verschränkt werden können.

Das Bildungs- und das Weiterbildungssystem muss sich auf die Veränderungen einstellen. Die Menschen bedürfen neuer Qualifikationen, Kompetenzen und Verhaltensmuster: Medienkompetenz, Lernbereitschaft, Teamfähigkeit, Anpassungsfähigkeit, perspektivisches und systemisches Denken, Planungskompetenz, Flexibilität und Mobilität, dies sind nur einige Begriffe die verdeutlichen sollen, was von den Menschen in der sich rasch wandelnden Gesellschaft verlangt wird.

Was aber tun wir für jene, die diese Kompetenzen nicht besitzen, beherrschen oder erlernen können? Diese Frage, hinter der sich die alte und neuen Frage nach der Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit verbirgt, stellt eine Herausforderung an das Bildungssystem und die Bildungspolitik dar.

Dass dabei natürlich die Fragen nach der Struktur und der Finanzierung des Bildungs-/Weiterbildungssystem eine maßgebliche Rolle spielt liegt auf der Hand. Wir sollten Ausschau halten nach Modellen und Finanzierungssystemen auch in anderen Ländern. Gutscheinmodelle, Bildungssparen, Bildungskonten oder Freistellungsregelungen seien hierfür beispielhaft erwähnt.


Ernst Küchler: "Neue Medien" und "Patchwork-Biographien" als Herausforderung für das Bildungssystem. Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung". Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2001/dieforum_kuechler_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service Texte Online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de