Helmut Strack, Deutsche Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung e. V. (DEAE), Dezember 2000


Bildung und Identität in einer pluralen Welt - Assoziationen zum Thema "Patchwork-Biographie"

Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung"

 

"Das angeblich voll ausgebildete Leben ist in Wahrheit ‚ungereimt’, es fehlt ihm am Ende, und wahrhaftig am wirklichen Ende, beim Tod immer etwas." (Musil.1987.859)

 

I. "Patchwork"-Biographien gehören zu den Kennzeichen unserer Zeit. Zum einen zerbrechen unter den Bedingungen einer reflexiven Moderne und der damit gegebenen beschleunigten Modernisierung philosophische, theologische, politische und soziale Einheitsvorstellungen, -wünsche, -ansprüche und -begehren. Weil "Einheitsdekrete ... mit der Dynamik der Moderne unvereinbar sind", "stehen Wahrheit, Gerechtigkeit, Menschlichkeit im Plural" (Welsch,1991,265.62). "Patchwork"-Glaubenseinstellungen zergliedern die religiöse Landschaft in distinkte Religiositätsprofile, "Globalisierung" bewirkt, allem gegenteiligen rhetorischen Pathos zum Trotz, weniger eine Universalisierung politischer Werthaltungen - etwa in der Frage der Menschenrechte, als vielmehr das Ende "der modernen Romanze mit der Uniformität" (Bauman,1995,185). Diskontinuitäten und Ambivalenzen prägen soziale Milieus aus, die sich distinktiv zueinander verhalten, so dass ihre Kommunikationsfähigkeit fragil ist und gegenmoderne Tendenzen fundamentalistischer Prägung befördert (Beck,1993,143f.)

Zum anderen geraten die menschlichen Akteure unter die Qual der Wahl in der so bezeichneten "Multioptionsgesellschaft" (Gross,1994). Dem entsprechen multiple Persönlichkeitsmuster und Biographien mit einem in diachroner Hinsicht diskontinuierlichen Verlauf, die zudem synchron als polyvalent erfahren werden. Mit anderen Worten: aus dem "Mann ohne Eigenschaften" werden Frauen und Männer mit vielen verschiedenen und z.T. sich widersprechenden Eigenschaften, Rollen und Verhaltensdispositionen.

II. Biographien sind in einer doppelten Weise fragmentarisch angelegt: in einem prinzipiellen und in einem modernitätsspezifischen Sinn.

  1. Fragmentarität stellt – angesichts der Endlichkeit des Lebens – eine anthropologische Konstante jenseits aller gesellschaftlichen und politischen Kontexte dar, ist insofern eine modernitätsunabhängige und invariante Konstitutionsbedingung menschlichen Lebens. Biographien konturieren sich von den Grenzen, Unabgeschlossenheiten und Vorläufigkeiten menschlichen Lebens her statt von Ganzheit, Einheitlichkeit und Dauerhaftigkeit. "Die nicht vorhersehbare und planbare Endlichkeit des Lebens, die jeder Tod markiert, lässt Leben immer zum Bruchstück werden. ... Wir sind Ruinen aufgrund unseres Versagens und unserer Schuld ebenso wie aufgrund zugefügter Verletzungen und erlittener und widerfahrener Verluste und Niederlagen. Dies ist der Schmerz des Fragments. ... Das Fragment trägt den Keim der Zeit in sich. Sein Wesen ist Sehnsucht" (Luther,1992,168f.). Die Zeitlichkeit menschlichen Lebens impliziert Erfahrungen der Differenz und Dissonanz und zwar einer Differenz, die grundsätzlich nicht durch Entweder-Oder-Entscheidungen in unverletzte Ganzheitlichkeit hinein aufzuheben ist, sondern dem Sowohl-Als-Auch verhaftet bleibt, sowie einer Dissonanz, die grundsätzlich nicht in die Harmonie von Einheit und Identität überführt werden kann.
  2. In Zeiten einer reflexiven Moderne, die als "Globalisierung" ihren ökonomistischen Antriebsimpuls zu erkennen gibt, kennzeichnet Fragmentarisierung den Zerfall (alltäglicher) Lebenswelten und des Subjekts. Endlichkeit und Zeitlichkeit werden in der monströsen Maskerade von Flexibilität zum Verschwinden gebracht; der Flexibilisierungs-Mythos erzählt die un-endliche Geschichte des "Alles ist möglich". Der "Dschagannath"-Wagen (Giddens,1995,173f.) droht, ungesteuert oder doch zumindest schwer steuerbar, ständig Unfälle – "Restrisiken" – auf der rasanten Fahrt in die "Brave New World" zu verursachen. Die politischen und gesellschaftlichen Folgen einer Welt der "winner" und "looser" im "global play" lassen sich den Tageszeitungen entnehmen. Wer – so lautet eine der entscheidenden Fragen – darf als Subjekt dieser Entwicklungen gelten? Welches sind die Akteure, und kann man angesichts der Dominanz des Ökonomischen und dem Fetischcharakter der handlungsleitenden Idee des Wettbewerbs noch sinnvoll von Subjekten und Objekten reden, gar zwischen Tätern und Opfern unterscheiden? Wie auch immer: Flexibilisierung bedroht die Autonomie der Person und hat die Diffusion des Subjekts zur Folge. Lebensgestaltung gelingt nicht als Lebenskunst, sondern verkommt zur nachträglichen Rekonstruktion zerbrochener Biographien, deren Gelingen allerdings in Frage steht; denn eine Welt kurzfristiger Flexibilität "bietet weder ökonomisch noch sozial viel Narratives. ... Die Erfahrung einer zusammenhanglosen Zeit bedroht die Fähigkeit der Menschen, ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen"(Sennet,1998,36f.). Damit aber steht nichts weniger als die Integrität der Person und die Sinnhaftigkeit ihrer Biographie auf dem Spiel. "Jedenfalls erscheint sich der moderne Mensch selber wie geteilt, doppelt, gespalten, exzentrisch, potentiell"(Gross,1999,19). Die gesellschaftlichen Differenzen treten in individualisierter Form als Subjektdiffusion auf mit der Folge einer Fragmentarisierung der Biographie, die sich nicht mehr zu einer sinnvollen Struktur fügen will.

III. Die Multiplexität von Lebensumgang und Selbsterfahrung mit der ins Extreme gesteigerten Fragmentarisierung der Biographien hat Konsequenzen für die Erwachsenenbildung.

Bildung hat sich am Fragmentarischen menschlichen Lebens zu orientieren und muss im Sinn einer lebensdienlichen Persönlichkeitsentwicklung die Momente von Diskontinuität, die Brüche und Zerrissenheiten von Biographien und die damit gegebenen prekären Lebensverhältnisse thematisieren und bearbeiten. Identität, verstanden als Ganzheitlichkeit, Identität und Vollständigkeit der Person kann und darf kein normatives Leitbild von Bildung sein, sondern stellt deren kritisches Regulativ dar (Luther,1992,155.160) – es sei denn um den Preis ihrer Ideologisierung im Geist neoromantischer Phantasien. In diesem Sinn sind Bildungsprozesse grundsätzlich offen und unabschliessbar. Unter der Voraussetzung eines sich daraus ergebenden Bildungsverständnisses bekommt der Begriff des "longlife learning" eine neue Qualität und anthropologische Fundierung. Es folgt daraus auch "die konstitutive Einbeziehung von Erwachsenenbildung in ein integrales ... Bildungskonzept"(Luther,1992,178).

Bildung hat die Eigenständigkeit, Autonomie und Unverwechselbarkeit einer jeden Person zu respektieren und darf nicht auf ein bestimmtes Menschenbild fixiert werden. Das biblische, im Ersten Testament ausgesprochene Bilderverbot gewinnt seine humane Zuspitzung erst im Blick auf das Verbot eines fest-stellenden Menschenbildes. Die Fragmentarität menschlichen Lebens bewahrt geradezu vor Festlegungen aller Art und ist Grund und Möglichkeit für Begegnung, Offenheit und Kommunikation, mithin für die Wertschätzung des "Fremden" – damit auch für Verletzlichkeit. "Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am wenigsten aussagen können, wie er sei. ... Die Liebe befreit...aus jeglichem Bildnis"(Frisch,1968,26).

Literatur

Bauman, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a.M. 1995

Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a.M. 1993

Frisch, Max: Tagebuch 1946 – 1949. Frankfurt a.M. 1968

Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a.M. 1995

Gross, Peter: Ich-Jagd. Im Unabhängigkeitsjahrhundert. Frankfurt a.M. 1999

Ders.: Die Multioptionsgesellschaft. Frankfurt a.M. 1994

Luther, Henning: Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts. Stuttgart 1992

Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1987

Sennet, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. 2.Aufl. Berlin 1998

Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. 3.Aufl. Weinheim 1991


Helmut Strack: Bildung und Identität in einer pluralen Welt - Assoziationen zum Thema "Patchwork-Biographie". Beitrag zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung". Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2001/dieforum_strack_01.htm
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