Gerhard von der Handt die_logo1a.gif (1181 Byte) November 2001


 

Sprachenlernen fördern:

Zehn Thesen für ein Handlungskonzept

- Entwurf -

Sprache ist das wichtigste Medium der zwischenmenschlichen Kommunikation und ein zentrales Element der Bildung. Sie ist das Mittel zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen und zur Vermeidung von Gewalt. Für Europa heißt das: Es ist wichtig, die Vielfalt der Sprachen als kulturellen Reichtum Europas anzuerkennen und die Sprachen der Nachbarn zu verstehen, um so gegenseitiges Verständnis und Kommunikation zu ermöglichen. In diesem Sinne ist Sprachpolitik auch Friedenspolitik.

Im europäischen Kontext werden neben der Muttersprache Kenntnisse in zwei weiteren modernen Fremdsprachen als Mindestqualifikation für jeden zukünftigen Europabürger gefordert. Welche Sprachen und wie viele, mit welchen Inhalten und bis zu welchem Niveau gelernt werden sollten, hängt von den individuellen Möglichkeiten und den konkreten Anwendungssituationen ab.

Mit diesem Thesenpapier soll das Europäische Jahr der Sprachen genutzt werden, um eine möglichst breit gefächerte Diskussion zur Situation des Fremdsprachenlernens in der Bundesrepublik anzustoßen. Sprachenlernen kann sich nicht nur auf die im institutionalisierten Bildungssystem verbrachte Lernzeit beschränken: Den Thesen liegt die Überzeugung zugrunde, dass Sprachenlernen eine der wesentlichen Herausforderungen ist, die mit dem Auftrag des lebenslangen Lernens* auf die Gesellschaft, auf die Bildungssysteme und auf den Einzelnen zukommen. Alle an der Vermittlung von Sprachen direkt oder indirekt Beteiligten und alle Lernenden sind eingeladen, sich an der Diskussion über die Zukunft des Sprachenlernens zu beteiligen.

I. Übergreifende Ziele

I a) Vorrangiges Ziel gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern, Sozialpartnern und Bildungsträgern ist die Förderung der Mehrsprachigkeit. Für Deutschland als Land mit Grenzen zu neun anderen europäischen Staaten sollten die Sprachen der Nachbarn Teil dieser Mehrsprachigkeit sein. Gleichberechtigt daneben sollte die Förderung der Migrantensprachen sowie der Minderheitensprachen in Deutschland stehen.

I b) Die Förderung der deutschen Sprache im In- und Ausland ist die gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und freien Bildungsträgern, der sich alle verstärkt widmen sollten. Vermehrte Anstrengungen sind notwendig, um die deutsche Sprache in den europäischen Institutionen zu stärken.

II. Informationspolitik

Um das Sprachenlernen zu befördern, müssen den Bürgerinnen und Bürgern Wert und Nutzen des Fremdsprachenlernens für die persönliche und berufliche Entwicklung näher gebracht werden. Hierzu bedarf es einer breit angelegten Informationspolitik und Werbung für das Sprachenlernen.

Dazu sind erforderlich:

gemeinsame Anstrengungen auf europäischer Ebene von Elternverbänden, Sprachenlehrerorganisationen, Weiterbildungsträgern, Gewerkschaften und Unternehmern;

Zielvereinbarungen auf der Ebene von Unternehmen, Bildungsverwaltung, Fachwissenschaft und Lernenden, um Partnerschaften vor Ort zu organisieren und Handlungsebenen für eine Zusammenarbeit zu definieren.

III. Rahmenbedingungen

Für die Förderung des Sprachenlernens wie auch der allgemeinen Sprachkultur müssen geeignete Rahmenbedingungen und ein effektives System von Unterstützungsangeboten geschaffen werden. Um Sprachenlernen als lebenslanges Lernen zu verankern, müssen die einzelnen Bildungsbereiche verbunden werden und die Sprachlernangebote aufeinander aufbauen.

Dazu sind erforderlich:

Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den Teilbereichen des Bildungssystems, vor allem zwischen der Allgemeinbildung, Berufsbildung und Erwachsenenbildung;

Herausstellen der Bedeutung interkultureller Kompetenz als Querschnittsaufgabe auf allen Ebenen;

Förderung des Deutschen im Inland (Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache) durch Integrationsmaßnahmen, frühzeitige Förderung in Kindergarten und Grundschule und begleitenden Deutschunterricht im schulischen und außerschulischen Bereich;

Unterstützung der deutschen Sprache im Ausland als Teil der Förderung der Mehrsprachigkeit;

Vorbereitung der Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer in der Erstausbildung; Schaffung eines Bewusstseins für den Sprachunterricht als ein Kontinuum, das in der Grundschule beginnt und über die Schulstufen und die nachschulische Ausbildung hinaus lebenslang andauert;

Strukturierung und Organisation der Qualifikationsangebote in Anlehnung an die Kriterien des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen;*

Förderung der Mobilität von Lehrenden in Europa unter Ausnutzung der Bildungs- und Mobilitätsprogramme der Europäischen Union, um mehr Sprachunterricht von muttersprachlichen Lehrenden erteilen zu können;

Förderung der Akzeptanz von international anerkannten Zertifikaten und Diplomen sowie von Abschlüssen nicht-schulischer Fremdsprachenkurse;

Einführung in selbstorganisiertes und selbstgesteuertes Lernen von Sprachen in allen Bereichen des Bildungssystems; Nutzung des Europäischen Portfolios der Sprachen;*

Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung wie die Entwicklung von Qualitätskriterien für Lernsoftware zur Schaffung von Markttransparenz.

IV. Lehrerausbildung

Die Ausbildung der Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer muss ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Sprachunterricht eine europäische und internationale Aufgabe ist. Gemäß den veränderten Anforderungen an den Fremdsprachenunterricht in europäischer Dimension müssen neue Ansätze der Lehrerausbildung diskutiert und erprobt werden.

Dazu sind erforderlich:

längerfristige Auslandsaufenthalte bzw. berufliche Tätigkeiten der Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer im Ausland als verpflichtender Bestandteil der Lehrerausbildung;

im Bereich des außerschulischen Fremdsprachenunterrichts die Entwicklung eines definierten und valorisierten Berufsbildes „Sprachenlehrer/in in der Erwachsenenbildung" und des Berufsbildes „Fremdsprachenlehrer/in an Hochschulen" und die Umsetzung entsprechender Ausbildungsangebote und Diplome;

Grundlegung einer Ausbildung der Ausbilderinnen und Ausbilder* in der ersten und zweiten Phase der Lehrerbildung sowie Austausch von Ausbildern über längere Zeiträume;

Neuorientierung der fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Angebote im Hinblick auf ihre Relevanz für den Lehrerberuf; notwendig sind: Angebote zur Vermittlung grundlegender Einsichten in Abläufe zwischenmenschlicher Kommunikation, Vermittlung einer tragfähigen Theorie der Didaktik der interkulturellen Kommunikation, eine Didaktik und Methodik zur Vermittlung partieller Kompetenzen wie auch die Vorbereitung auf die Didaktik und Methodik des bilingualen Unterrichts, Vermittlung von Methoden des selbstorganisierten Lernens einschließlich des Umgangs mit den neuen Medien.

V. Allgemeine Schulbildung

Kenntnisse in fremden Sprachen gehören zur Grundbildung aller Bürgerinnen und Bürger. Die laufenden Bemühungen um ein Konzept, das alle schulischen Fremdsprachen in ein vernünftiges Verhältnis zueinander setzt, müssen unterstützt werden.

Dazu sind erforderlich:

Entwicklung einer Grundschuldidaktik und -methodik für den Fremdsprachenunterricht in der Grundschule, die von den besonderen Gegebenheiten der Grundschule ausgeht und Grundsätze entwickelt, die aus dem normalen Grundschulunterricht erwachsen;

Förderung des Deutschunterrichts für Migrantenkinder im Kindergarten und Nutzung der Sprachen der Migrantenkinder mit dem Ziel, für Sprachenvielfalt und Mehrsprachigkeit zu sensibilisieren;

curriculare Zusammenarbeit zwischen dem Fremdsprachenunterricht der Grundschule und dem der weiterführenden Schulen (Sek. I) und Nutzung des früheren Beginns des Fremdsprachenlernens für die Mehrsprachigkeit;

Förderung langfristiger sprachwissenschaftlicher Begleitforschung zu den verschiedenen Ansätzen des Fremdsprachenunterrichts in der Grundschule;

Diversifizierung des Fremdsprachenangebots und Zulassung unterschiedlicher Sprachenprofile im institutionellen Bildungssystem: Englisch muss Pflicht für alle sein; daneben muss es eine größere Freiheit bei der Wahl weiterer Sprachen geben bei gleichzeitiger Ermutigung zur Wahrnehmung eines breiteren Angebots; die klassischen Sprachen dürfen das Erlernen moderner Fremdsprachen nicht blockieren;

Verpflichtung zu Kompetenzen in zwei modernen Fremdsprachen für die höherwertigen Abschlüsse im allgemeinbildenden Schulwesen (Sek. II);

Stärkung des bilingualen Unterrichts und Ausweitung auf andere Sprachen neben Englisch und Französisch wie auch auf weitere Fächer zur Intensivierung des Sprachenlernens;

verstärkte Nutzung der Möglichkeiten des Tandem-Verfahrens (Klassentandem) und von Schulpartnerschaften, auch unter Einbeziehung der elektronischen Kommunikationsmedien (virtuelle, transnationale Klassen) zur Förderung der interkulturellen Kompetenz.

VI. Berufliche Bildung

Für das berufsbildende Schulwesen sind mehr Angebote in einer zweiten Fremdsprache zu schaffen.

Dazu sind erforderlich:

Entwicklung von berufsbezogenen fremdsprachlich-/fachsprachlichen Lernangeboten in Zusammenarbeit zwischen Schulen und Sozialpartnern;

Förderung von Ausbildungsangeboten, in denen die Fremdsprachen als Arbeitssprachen genutzt werden;

Empfehlung von Auslandsaufenthalten (auch im Rahmen der EU-Bildungsprogramme), z.B. als Praktika oder während einer Berufsausbildung;

verstärkte Werbung für die Möglichkeiten, die der EUROPASS-Berufsbildung* bietet.

VII. Berufliche Fort- und Weiterbildung

Für die Sozialpartner ist die Förderung des Sprachenlernens ein strategischer Wettbewerbsfaktor und ein wichtiges Element der Personalentwicklung.

Dazu sind erforderlich:

Anreize für Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch innerbetriebliche, tarifvertragliche und öffentliche Regelungen: Sprachenlernen muss/soll sich innerbetrieblich lohnen;

Nutzung von Auslandskontakten der Unternehmen für Austausche von Auszubildenden, Ausbildern und Personalplanern; Nutzung der EU-Bildungsprogramme für den beruflichen Bereich und Freistellung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern für die Teilnahme an Sprachfortbildungen;

Zusammenarbeit von Betrieben und Fachinstitutionen zur Ermittlung des Fremdsprachenbedarfs; Durchführung von Sprachen-Audits.

VIII. Hochschulbildung

An den Hochschulen muss das Sprachenlernen aller Studierender gefördert werden und fester Bestandteil der Hochschulbildung sein.

Dazu sind erforderlich:

curriculare Verankerung des Sprachenlernens in den Studiengängen, verbindliche Vorgaben, welche Sprachkenntnisse bis zu einem Studienabschluss nachzuweisen sind;

Förderung der Instrumentarien der Selbsteinschätzung;

Förderung der Mobilität von Studierenden und Hochschullehrerinnen/-lehrern; Ausweitung fremdsprachiger Studienangebote und internationaler Studiengänge.

IX. Weiterbildung / Erwachsenenbildung

Eine institutionalisierte Zusammenarbeit des allgemeinbildenden Schulwesens und der Berufsbildung mit den Einrichtungen der Weiterbildung und Erwachsenenbildung ist notwendig. Darüber hinaus bedarf es der Zusammenarbeit zwischen allen Einrichtungen der Weiterbildung und Erwachsenenbildung, d.h. konkret zwischen Volkshochschulen, Einrichtungen in freier Trägerschaft, Instituten der Sozialpartner und privaten Instituten.

Dazu sind erforderlich:

Aufbau von Netzwerken vor Ort, damit ein Austausch der vielfältigen Erfahrungen und Kompetenzen in der Vermittlung von Sprachen und Kulturen stattfinden kann;

gemeinsame Nutzung von Ressourcen durch alle von der öffentlichen Hand geförderten Bildungsträger, Zusammenarbeit mit den Unternehmen vor Ort;

Förderung internationaler Netzwerke unter Nutzung der entsprechenden Bildungsprogramme der Europäischen Union;

Abstimmung der Lehrpläne und Curricula zwischen Allgemeinbildung, Berufsbildung und Erwachsenenbildung, sodass zwischen den verschiedenen Angeboten bei Wahrung der Eigenständigkeit eine Korrespondenz entsteht, vor allem mit Bezug auf die weniger gelernten und unterrichteten Sprachen;

bessere Nutzung der Sprachen und Kulturen ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger zur Verbesserung und Bereicherung interkultureller Lernprozesse für alle Beteiligten.

X. Nachhaltigkeit

Das Momentum des Europäischen Jahrs der Sprachen muss über das Jahr 2001 hinaus genutzt werden. Informationen über gelungene und erfolgreiche Aktivitäten, Projekte und Maßnahmen, die das Fremdsprachenlernen nachhaltig und erfolgreich fördern, sollten im Rahmen einer intensivierten europäischen Zusammenarbeit ausgetauscht und gemeinsame europäische Projekte weiterentwickelt werden.

Dazu sind erforderlich:

systematische Dokumentation und Analyse vorbildlicher Projekte für die Umsetzung der Ergebnisse bei der Entwicklung von innovativen Curricula, von Lehrplänen, Richtlinien, der Bestimmung von abgestuften Zielvorstellungen und Prüfungsanforderungen; hierzu Aufbau einer Datenbank vorbildlicher Projekte;

Nutzung der Medien für die Darstellung vorbildlicher Projekte und deren Umsetzung in weiteren Zusammenhängen durch Personalisierung und durch Vor-Ort-Berichte.

Glossar

Die Entwicklung des deutschen Begriffs lebenslanges Lernen ist verknüpft mit der internationalen Diskussion um die englischen Leitbegriffe „liefelong learning" / „lifelong education" und das französische Schlagwort „education permanente". Neben diesem Begriff wird im Deutschen gleichbedeutend auch der positiver klingende Begriff „lebensbegleitendes Lernen" verwendet. Mit beiden Schlagwörtern wird auf die Notwendigkeit verwiesen, auch außerhalb der traditionellen Bildungseinrichtungen ein Leben lang neues Wissen zu erwerben, um aktiv an der Gestaltung der sich immer rasanter wandelnden Gesellschaft mitwirken zu können.

Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen (Common European Framework of Reference) dient dem Gesamtziel des Europarats, nämlich eine "größere Einheit unter seinen Mitgliedstaaten zu erreichen" und dieses Ziel "durch gemeinsame Schritte auf kulturellem Gebiet" zu verfolgen. Er stellt eine gemeinsame Basis dar für die Entwicklung von zielsprachlichen Lehrplänen, curricularen Richtlinien, Prüfungen, Lehrwerken usw. in ganz Europa. Der Referenzrahmen definiert auch Kompetenzniveaus, sodass jede und jeder Lernende seine Fortschritte lebenslang und auf jeder Stufe des Lernprozesses messen kann.

Das Konzept des Europäischen Portfolios der Sprachen geht zurück auf eine Initiative des Europarates. Er wollte die Möglichkeit schaffen, über die Grenzen hinweg Sprachkenntnisse zu beschreiben und zu dokumentieren, um die Mehrsprachigkeit, die Kompetenzen in unterschiedlichen Sprachen, aber auch die Sprachkontakte und individuelle interkulturelle Erfahrungen von Sprachenlernenden transparent zu machen. Für das Führen des Sprachenportfolios sind die Lernenden selbst verantwortlich. Das Sprachenportfolio besteht aus drei Teilen: Sprachlernbiographie, Sprachenpass und Sprachendossier.

Der EUROPASS-Berufsbildung ist ein Informationsinstrument zur Verbesserung der Transparenz von in Auslandsaufenthalten erworbenen Qualifikationen. Er hat festgelegte Inhalte und eine einheitliche Gestaltung und gilt in allen Staaten der Europäischen Union. Er steht nur für alle Formen dualer bzw. alternierender Berufsbildung (einschließlich solcher im Hochschulbereich) zur Verfügung.

Ausbildung der Ausbilder: Mit der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sind verschiedene Personengruppen befasst. Hierzu zählen: Hochschullehrer/innen, Fachleiter/innen und Ausbildungsseminarleiter/innen.


Gerhard von der Handt: Sprachenlernen fördern: Zehn Thesen für ein Handlungskonzept. Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2001/handt-von-der01_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de