Vortrag anlässlich der Fachtagung ‚Interkulturelle Altenpflege – von der Theorie zur Praxis’ am 22.01.2002 in Königswinter; Projekt [iku:]

Grenzen erfahren – Grenzen überschreiten: Überlegungen zur Entwicklung transkultureller Kompetenz in der Altenpflege

Charlotte Uzarewicz

Einleitung

In dem Titel meines Vortrages stecken eigentlich drei Themen: Zum einen das Thema der Grenze; ein alltäglicher und selbstverständlicher Begriff, der gerade deswegen einlädt, einmal genauer darüber nachzudenken, was Grenzen eigentlich sind.

Das zweite Thema ist das der transkulturellen Kompetenz. Wir alle leben in soziokulturell geprägten Lebenswelten, die sozusagen mit uns mit leben und sich permanent verändern. Findet jedoch ein plötzliches Ereignis, ein Einschnitt in unserem Leben statt (wie z.B. ein Umzug), dann geraten die gewohnten Lebensmuster durcheinander, zum Teil werden sie uns auch erst in dieser Situation bewusst. Wie man damit umgehen kann, wie solche Prozesse begleitet werden können, darauf zielt transkulturelle Kompetenz ab. Es ist keine Handlungs- und Verhaltensstrategie nur für den Umgang mit MigrantInnen, sondern für alle, die eine individuums- und lebensweltorientierte Pflege anstreben und ernst nehmen.

Und hier schließt sich mein drittes Thema an: Altenpflege. Hier stellt sich die Frage, inwiefern das Altern eine Grenzerfahrung und Grenzüberschreitung darstellt? In unserer Gesellschaft wird das Alter mit der Grenzüberschreitung vom Erwerbsleben in den sogenannten Ruhestand assoziiert; aber z.B. auch ein Wohnortwechsel – sei es der Umzug im Alter zu den Kindern, sei es der Umzug in ein Altenheim – stellt eine Grenzüberschreitung dar: vom Gewohnten und Vertrauten zum Unbekannten und Neuen!

Ziel meines Vortrages ist es, Gedankenanstöße zu geben und mögliche Wege aufzuzeigen, wie transkulturelle Kompetenz in der Altenpflege entwickelt werden kann.

Folie 1: Gliederung

Im folgenden werde ich die drei Themen etwas näher beleuchten, jedoch in einer anderen Reihenfolge. Das Thema der interkulturellen Fortbildung steht hier im Kontext der Pflege von älteren MigrantInnen. Daher werde ich mit allgemeinen Aussagen zur Migrationssituation in Deutschland beginnen, wobei ich mich ausschließlich auf die sogenannte gewöhnliche Arbeitsmigration beziehe und andere Formen der Migration mit ihren spezifischen Problemfeldern unberücksichtigt lasse.

1. Migration und Alter

Die Altersstruktur der ArbeitsmigrantInnen hat sich inzwischen der der deutschen Bevölkerung angenähert. „ Im Jahr 2005 werden nach Hochrechnungen über 3 Millionen Migranten im Alter von über 60 Jahren unter uns leben" (Collatz 1998: 38). Nach dem statistischen Bundesamt Wiesbaden (1998) leben 1997 7,42 Mio. MigrantInnen in der Bundesrepublik; der Anteil der Personen über 60 Jahren beträgt ca. 6,62% (absolute Zahl: 491.214) Davon leben 97,19% in den alten, 2,81% in den neuen Bundesländern (vgl. Wedell 2000: 23).

Folie 2: Tabelle

Betrachtet man die familiäre Situation der älteren MigrantInnen, so ist eine Tendenz zur Singularisierung feststellbar, die - wie auch in der deutschen Bevölkerung - überwiegend die Frauen betrifft. In der Gruppe der über 60 jährigen liegt der Anteil der ledigen, verwitweten und geschiedenen Frauen bei insgesamt 47,17%; hingegen sind lediglich 17,96% der Männer ledig, verwitwet oder geschieden. In der Altersgruppe der über 75 jährigen liegt der Anteil der ledigen, verwitweten und geschiedenen Migrantinnen bei insgesamt 80,05% (die Vergleichszahl der deutschen weiblichen Bevölkerung dieser Altersgruppe beträgt 82,8%). 35,73% der Migranten dieser Altersgruppe sind ledig, verwitwet oder geschieden (die Vergleichszahl der deutschen männlichen Bevölkerung dieser Altersgruppe beträgt 34,3%). Bei den über 80 jährigen steigt die Zahl bei den ledigen, verwitweten oder geschiedenen Migrantinnen auf 86,76% und bei den Migranten auf 46,93% (vgl. Statistisches Bundesamt 1998a, 1998b).

Diese Zahlen verdeutlichen, dass mit zunehmendem Alter bei Einheimischen wie auch bei MigrantInnen ein erhöhter Pflege- und Unterstützungsbedarf zu erwarten ist. Wedell (2000a: 99) hat in ihrer Studie von 1996-1997 gezeigt, dass ca. 33% der 442 in einer Stichprobe erfassten Alten- und Pflegeheime über Erfahrungen mit MigrantInnen verfügten und 67% keine Erfahrungen hatten (vgl. Wedell 2000a: 97).

Bislang habe ich ganz selbstverständlich von den älteren MigrantInnen gesprochen. Was meint dieser Ausdruck eigentlich? Zunächst ist fest zu stellen, dass hier ein doppeltes Phänomen der Andersheit vorliegt: zum einen die Anderen, fremde Menschen aus anderen Ländern, die MigrantInnen; zum anderen das Andere, als das Alter bzw. die alten Menschen. Hinter beiden Bildern der Andersheit steht als Ausgangspunkt die je eigene Perspektive: der Blick der Jüngeren (Pflegenden) auf die Älteren (zu Pflegenden) und der Blick der Inländer auf die Ausländer. Sie sehen, dass in diesem Kontext das Phänomen der Grenze in mehrfacher Hinsicht eine wichtige Rolle spielt.

Alter als Grenzerfahrung:

Eine wesentliche Grenzerfahrung des Alters ist die des sogenannten Leistungs- und Funktionsverlustes. In einer Gesellschaft, die auf Leistung und Funktionsfähigkeit ausgerichtet ist, wird das Alter, welches immer noch mit der Berentungssituation assoziiert wird, als Leistungs- und Funktionsverlust bzw. -einschränkung betrachtet. Das kann psychische Probleme zur Folge haben, die sehr unterschiedlich bearbeitet werden. Dies hängt ganz elementar mit der jeweiligen Biografie, den gemachten, erlebten Erfahrungen zusammen. Verschiedene Altersstudien haben für das Altwerden und Altsein u.a. folgende Grenzerfahrungen heraus gearbeitet:

Diese Aufzählung ist nicht vollständig; sie soll exemplarisch veranschaulichen, was unter Grenzerfahrung im Alter gemeint ist.

Migration als Grenzerfahrung:

Die Grenzerfahrungen und –überschreitungen im Kontext von Migration sind vielfältig. Die offensichtlichste ist die Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen. Damit verbunden ist das Überschreiten von sozialen, biografischen und kulturellen Grenzen. Zum Beispiel:

Ich habe hier exemplarisch nur einige wesentliche Punkte aufgelistet, um zu verdeutlichen, auf welchen Ebenen Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen stattfinden, ohne dass wir sie als solche benennen. Absichtlich habe ich hier nicht von Problemen oder Chancen der Migration gesprochen. Das wäre schon ein Ergebnis derartiger Grenzüberschreitungen, bzw. deren Interpretation. Ob die Erfahrung mit verschiedenen Lebenswelten zum Problem wird, an dem man krank wird, oder ob dies die Chance des Lebens schlechthin darstellt, hängt davon ab, wie diese Grenze erfahren und überschritten wird. Damit komme ich zum nächsten Punkt meiner Ausführungen: Was sind Grenzen und welche Bedeutung haben sie?

2. Grenzen

Grenzen sind für die Menschen ebenso notwendig wie suspekt. Denken Sie an die Wichtigkeit und politische Brisanz von Landesgrenzen. Grenzsteine gibt es überall auf der Welt und es werden manchmal Kriege geführt, sollten diese verschoben werden. Oder denken Sie an Ihren je eigenen Bereich; z.B. an die Wohnung, an den Arbeitsplatz. Jede/r von Ihnen weiß um Grenzen, die nicht oder nur von ganz bestimmten Personen in ganz bestimmten Situationen überschritten werden dürfen: mein Zimmer – dein Zimmer, mein Schreibtisch – dein Schreibtisch. Das hat nicht nur etwas mit Besitzstandswahrung zu tun, sondern damit, den eigenen Raum abzustecken, zu behaupten, zu verteidigen, sich darin einzurichten, um sich von da aus entfalten und entwickeln zu können; und das heißt letztlich nichts anderes, als Grenzen zu setzen um sie überschreiten zu können. „Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt." (Simmel 1992: 697)

Folie 3: Simmelzitat

Grenzen haben etwas Paradoxes an sich; sie haben eine Doppelfunktion: einerseits dienen sie der Ab- und Einschließung, andererseits der Überschreitung. Das bedeutet, wenn es keine Grenzen gäbe, könnte ich auch nichts überschreiten, um weiterzukommen. Grenzen werden dabei als gegliederte Grenzzonen mit einer spezifischen Struktur begriffen (vgl. Bergmann 1981: 108). Sowohl die Dimension des Raumes, als auch die der Zeit spielen bei der Grenzziehung und –überschreitung eine wichtige Rolle (vgl. Turner 1992: 137). Liminalität hat aber auch einen starken sozialen Aspekt. Bezogen auf Menschen(gruppen) sind das Liminale die Fremden, die, die `dazwischen` oder von `ganz woanders` her sind; jedenfalls weder hier noch dort und sowohl hier, als auch dort. Liminalität stellt, neben dem Reiz, immer auch „für Individuen und Gruppen eine Gefahr für sich selbst und für die ganze Gemeinschaft" (Turner 1992: 137) dar. Das Sich-Bewegen in derartigen Grenzzonen ist hochgradig ambivalent. Die EthnologInnen haben diesen Phänomenbereich bezeichnender Weise im Zusammenhang von Ritualen erforscht. Rituale haben nämlich genau die Funktion, diese Grenzüberschreitungen so zu begleiten, damit weder die Individuen noch das Sozialgefüge beschädigt werden. Grenzüberschreitungen sind entscheidend für den Prozess der Erneuerung. Gleichzeitig ist die Liminalität eine Gefahrenzone, weil sie nach Turner (1992: 138) eine Befreiung von Zwängen darstellt. Es „ist der Bereich des Interessanten, des uncommon sense", wo alles neu verhandelt werden kann. Dennoch trägt diese Phase Spuren der vorangegangenen und der nachfolgenden Stadien (vgl. Turner 1992: 138ff). Liminalität ist gefährlich und spielerisch zugleich, sowohl für die Einzelnen wie für Gruppen, weil es der Zustand des Weder – Noch und des Sowohl – Als auch gleichermaßen ist. Es ist ein Schwebezustand: das Dazwischen-Sein als Sein ganz eigener Qualität.

„Die limitische Struktur bildet keine starre Scheide, sondern eine Übergangs- und Wechselwirkungszone." Sie ist ein Zwischenphänomen. Grenzen sind demnach „bewegliche Austauschzonen" (Mühlmann 1985: 23). Die Errichtung und Stabilisierung von Grenzen gegenüber einer Umwelt/ einem Umfeld dient nicht der Verhinderung von Überschreitungen, sondern ihrer Markierung und Regulierung. Grenzzonen lassen sich also begreifen, als Orte der Vermittlung mit dem Anderen (Folie3), dem Fremden, Unbekannten in all seinen Ausprägungen. Es gibt Grenzen zu allen (Vor-, Hinter-, Mit-, Nach- und Um-)Welten mit unterschiedlichen Graden der Durchlässigkeit und der Kontrolle: historische Grenzen zur Vor- und Nachwelt (Epochen), soziale und anthropologische Grenzen (innerhalb einer Einheit und zu anderen Einheiten), geographische Grenzen (Territorien), kognitive Grenzen (Religion). Grenzen können von materieller oder symbolischer Natur sein. Eine imaginäre Grenze kann undurchdringlicher sein als eine reale.

Dieses Verständnis von Grenzen als Aushandlungszone und Austauschzone ist entscheidend im Kontext der Transkulturalität. Es verändert die Sicht auf das Kulturelle des Menschen. Es kann zur Anerkennung des Anderen als Anderen führen (unabhängig von seiner nationalstaatlichen Herkunft) und nicht zur Verkennung als Fremden.

Damit komme ich zum dritten Punkt meiner Ausführungen.

3. Transkulturalität in der Altenpflege

Wie im ersten Abschnitt deutlich geworden ist, liegen der Altenpflege und erst recht der Pflege von älteren MigrantInnen eine Vielzahl unterschiedlichster Grenzüberschreitungen und Grenzerfahrungen zu Grunde, die im pflegerischen Handeln eine Rolle spielen. Handeln hat zur Voraussetzung das Verstehen, als Versuch der größtmöglichen Annäherung an die gelebten Wirklichkeiten. Gelassenheit, Souveränität, zuhören, schauen können, sind einige Dimensionen, die in der Literatur in diesem Kontext beschrieben werden (vgl. Gröning 2001: 89ff.). Der Entwicklung der Phänomenologie ist es zu verdanken, dass sie „den Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen herauspräpariert hat (...)" (Schnell 2001: 77). Das Erfassen und Verstehen einer fremden Welt gelingt oft erst über eine kritische Distanz zur eigenen Welt. Diese Einsicht öffnet den Weg zu einer transkulturellen Perspektive.

Transkulturalität und pflegerisches Handeln sind beide grenzüberschreitende Angelegenheiten. Sie treffen sich in einem weiteren Konzept: dem situativen Handeln. Vom Pflegepersonal ist flexibles und situationsgerechtes Handeln gefordert, das den individuellen Bedürfnissen der Bedürftigen Rechnung trägt.

Das Konzept des situativen Handelns von Böhle/Brater/Maurus, welches aus dem Bereich der Altenpflege stammt, stellt folgende Parameter ins Zentrum des Interesses:

Folie 4: Parameter situatives Handeln

  1. Interaktiv-dialogisches Vorgehen
  2. Sinnliche Wahrnehmung als Grundlage der Arbeitsorientierung
  3. Erfahrungswissen, assoziatives Denken, Gespräch
  4. Empathische Beziehung zu den Pflegebedürftigen

(vgl. Böhle et al. 1997).

Pflegerisches Handeln in der Altenpflege ist kein automatisches Regelhandeln nach dem Muster naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, oder kausales Handeln. Das Pflegepersonal wird immer wieder mit neuen Situationen konfrontiert. Es muss situativ einschätzen und entscheiden und das nicht nur intuitiv aus dem Bauch heraus, sondern argumentativ nachvollziehbar einer Logik folgend. Regel- und Faktenwissen kann sich deshalb fast nur auf die technischen Aspekte pflegerischen Handelns beziehen. Die hermeneutische und kommunikative Kompetenz ist von herausragender Bedeutung. Das Verstehen ist darum auch niemals Selbstzweck, sondern immer auf (tatsächliches oder potentielles) Handeln bezogen. Weder das Verstehen noch das Handeln haben Priorität. Situationsbezogenes, verstehendes Handeln ist das Signum moderner Pflege. Pflegerisches Handeln ist insofern selbst schon immer ein grenzgängiges Phänomen, in dem hier die Grenzen zwischen mehreren Handlungslogiken überschritten und situationsgerecht amalgamiert werden müssen.

Folie 5: Handlungslogiken und kurz erläutern

Die traditionellen Modelle, die den Mustern der Zweckrationalität folgen, werden der Realität des Altenpflegealltags nicht gerecht. Das Verhalten der Pflegebedürftigen ist so wenig vorhersehbar wie deren aktuelles Befinden. Der gesamte Pflegealltag ist charakterisiert durch seine Unwägbarkeiten. In einer transkulturellen Perspektive werden Handlungsraum und Handlungsgrenzen im pflegerischen Kontext immer neu ausgelotet, der jeweiligen Situation und den agierenden Individuen entsprechend. Denn in dem Wörtchen „trans" liegt selbst schon das Grenzen über-/ hinüber – schreitende: über das Kulturelle hinausgehende und zu den einzelnen Menschen in ihren lebensweltlichen Kontexten bzw. Situationen kommende Moment. Insofern ist Transkulturalität Liminalität, denn mittels einer transkulturellen Kompetenz werden nicht nur die Grenzen der verschiedenen Handlungslogiken permanent überschritten, sondern es erlaubt auch das Überschreiten der eigenen Grenzen durch die Befassung mit dem Anderen. In der Auseinandersetzung mit beiden kann eine Anerkennung und Akzeptanz gelingen, so dass ein Weg zu den Menschen in ihrer je eigenen Daseinsweise gefunden werden kann. Wie sieht dieser Weg nun genau aus bzw. wie kann man ihn beschreiten?

4. Das Konzept der transkulturellen Kompetenz

Die Diskussion um Transkulturalität ist in Deutschland in der Philosophie – und unabhängig von der Entwicklung der US-amerikanischen Pflegetheorien – fortgeführt worden. Pragmatischer Ausgangspunkt dieser Transkulturalität ist die Interaktion. Sie soll nicht vom Wissen um Fremdes oder Anderes (als kollektive Größe) geleitet sein, denn derartige Kategorien behindern eine sensible Annäherung an das jeweilige Gegenüber (als individuelle Größe). In jeder Interaktion „bestehen zumindest einige Verflechtungen, Überschneidungen und Übergänge" (Welsch 1998: 58) und diese bieten die Grundlage für neue Verbindungen und beinhalten integrative Dimensionen. Interaktion wird hier in sehr engen Zusammenhang gebracht mit Integration. „Soziale Praktiken von MigrantInnen sind demnach nicht Ausdruck spezifischer `fremder Kulturen`, sondern Aktionen von Individuen, welche in bestimmten sozialen Feldern (...) agieren, welche gleichzeitig sowohl von der Herkunftsgesellschaft, als auch von der Aufnahmegesellschaft geprägt werden. So sind nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten `Kultur`, sondern der Kontext, die konkrete Situation, die Interaktion, die individuelle Biographie, aber auch persönliche Interessen und Strategien für den Einzelnen handlungsleitend." (Domenig 2001b: 18)

Der Begriff der Transkulturalität versucht, diese kulturellen Prozesse aufzunehmen und von einer etwas anderen Perspektive zu betrachten, denn wir leben in permanenten Übergangsprozessen und die verwendete Begrifflichkeit muss diesem Geschehen Rechnung tragen. Ein so verstandenes transkulturelles Konzept geht über den anfänglichen Anspruch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu finden (vgl. Leininger) hinaus und stellt konsequent das Subjekt als nicht determinierte Größe in den Mittelpunkt, welches die verschiedensten kulturellen Ströme in einem gegebenen Zeitabschnitt und für eine spezifische Situation in sich bündelt, um sie sodann für andere Zeiten und Orte wieder aufzulösen und neu zu bündeln. Dieser aus der Philosophie kommende Ansatz deckt sich mit den jüngeren Pflegetheorien (vgl. Rizzo-Parse 1993) und dem situativen Handlungskonzept von Böhle/Brater/Maurus (1997).

Transkulturalität meint hier vor allem Transkategorialität. Transkulturalität ist ein verstehendes Konzept und „geht letztlich über das bloß Kulturelle hinaus, ohne es zu verabschieden. Ihr Untersuchungsgegenstand sind Individuen als soziokulturelle und historische Knotenpunkte. Transkulturalität beschreibt kulturelle Prozesse als flexibles individuelles Kondensat aus biografischen, soziografischen und ökologischen Faktoren, welches in Situationen immer neu verhandelt wird." (Uzarewicz/Uzarewicz 2001: 170).

Das Konzept der Transkulturalität zielt also auf das Verstehen (in) einer gegebenen Situation. Dies setzt voraus, dass man sich einlassen kann: auf die Situation und auf die AkteurInnen, um die verschiedenen Dimensionen in ihrer Wirkungsweise und Bedeutung erfahrbar werden zu lassen. Mit anderen Worten geht es in der Transkulturalität um die Erfassung verschiedener Wissens- und Sinnordnungen, die in einem Interaktionsprozess vorhanden sind. Zu beachten ist dabei, dass sich ein Individuum immer mehrerer (kognitiver, ästhetischer, normativer und leiblicher) Wissens- und Sinnordnungen gleichzeitig bedient, teils bewusst, viel mehr jedoch unbewusst.

Wie genau sieht dieser Prozess aus? In einer gegebenen Interaktionssituation geht es immer auch um Wahrnehmung (des Eigenen und des Anderen); was aber nehme ich wie wahr? Unser Denken funktioniert in differenzierenden Strukturen. Dabei liegt immer mein unhinterfragter und unbewusster Maßstab zugrunde. Beispiel: wenn ich neue Menschen kennen lerne, klassifiziere ich in Sekundenschnelle, sozusagen mit einem Blick, mein Gegenüber als bestimmten Anderen. Das macht sich an ganz allgemeinen Parametern fest:

In dieser vergleichenden, unmittelbaren, „ganzheitlichen" Wahrnehmung erhält mein Gegenüber bereits seinen ersten „Stempel" als Anderer oder Fremder. Versuchen wir nun die Gemeinsamkeiten in den Blick zu nehmen, werden wir meistens erst einmal stumm. Das ist viel schwieriger und wir argumentieren oft, das ginge doch noch gar nicht, weil wir den Menschen ja noch nicht gut genug kennen. Und genau hier setzt die transkulturelle Kompetenz an; sie verlangt interaktives Verhalten und basiert auf einem kritischen selbstreflexiven Prozess.

Transkulturelle Kompetenz wird als erweiterte soziale Kompetenz gefasst und ist Teil des professionellen Handelns. Sie ist erlernbar. Ein sensibilisierendes reflexives Lernen stellt den Menschen als leibhaftiges Subjekt in den Mittelpunkt und macht ihn zum Ausgangspunkt aller Betrachtungen. Und nicht umgekehrt bilden vage Vorstellungen, die auf abstrakten Kategorien beruhen die Grundlage bzw. den Maßstab, mit dem Menschen gemessen und beurteilt werden. Diese Art von Lernen bezieht sich auf die Entwicklung einer Kompetenz, Strukturen von Wissens- und Sinnordnungen in ihrer Pluralität und Widersprüchlichkeit zu erkennen, sich darauf einlassen zu können, um spezifische Synergieeffekte aus den verschiedenen Wissens- und Sinnordnungen zu fördern. Transkulturelle Kompetenz kann als eine spezifische Sensibilität für Situationen bezeichnet werden, in denen dieses Lernen stattfindet.

Folie 6: Transkulturelle Kompetenz

„Transkulturelle Kompetenz" umfasst also folgende Punkte:

Dabei wird die transkulturelle Interaktionssituation von drei Säulen getragen:

Folie 7: 3 Säulen der transkulturellen Kompetenz

Selbstreflexion bezieht sich auf einen Prozess, in dem das Selbstverständliche in Frage gestellt wird. Die Befassung mit dem/den Anderen führt immer zuerst zum Eigenen. Transkulturell kompetent Pflegende müssen in der Lage sein, ihre eigene Lebenswelt, das was für sie gemeinhin selbstverständlich und wirklich ist, zu erkennen und in Frage zu stellen. Nur dadurch wird es möglich, den je eigenen Maßstab zu erkennen, der dem Handeln, Verhalten, den alltäglichen Be- und Verurteilungen zugrunde gelegt ist. Es geht zunächst um die Erforschung des eigenen Weltbildes.

Hintergrundwissen und Erfahrung: Es wäre eine Überforderung zu verlangen, Pflegende sollten sich in Geografie, Ethnologie und Sprachen ebenso gut auskennen, wie in Pflege und Medizin. Hintergrundwissen bezieht sich auf eine konzeptuelle Ebene, die es gestattet, die verschiedenen Wissens- und Sinnordnungen kennen zu lernen und zu entschlüsseln. So gibt es z.B. verschiedene Klassifikationssysteme von Gesundheit und Krankheit in den diversen Medizinsystemen. Auch im Gesundheitssystem findet man verschiedene Ebenen, denen spezifisches Wissen zugeordnet werden kann (Laiensektor, Folk-Sektor, professioneller Sektor). Krankheiten selbst haben unterschiedliche Plätze (Körper, Psyche, soziale Gruppe, soziokulturelle Struktur). Auch „das Wissen über migrationsspezifische Lebensbedingungen und –realitäten, den Zusammenhang von Migration und Gesundheit, migrationsspezifische Zugangsbarrieren zur Gesundheitsversorgung" gehören zu diesem Hintergrundwissen (Domenig 2001a: 149-150). Durch dieses Wissen sollen die Pflegenden zum einen „befähigt werden, die richtigen Fragen zu stellen"; zum anderen geht es um die richtige kontext- und situationsbezogene Interpretation der Antworten (vgl. Domenig 2001a: 150).

Empathie und Verstehen: Als dritte Säule der transkulturellen Kompetenz bedeutet Empathie „Neugier und Aufgeschlossenheit für `Andersartiges, (...), das für uns nicht sofort verständlich und einfühlbar ist`:" Geduld, Interesse und Engagement sind nötig, wenn man den Anderen verstehen will. Dazu gehört es auch zu akzeptieren, das Andere anders sind und sich einzugestehen, dass man nicht alles versteht. „Es bleibt eine Spannung zwischen mir und dem anderen.`" (Leyer [1994], zit. in Domenig 2001a: 151).

Diese Aspekte sind ausgesprochen kompatibel mit dem Konzept des situativen Handelns. Damit liegen sowohl auf theoretischer Ebene, als auch auf handlungspraktischer Ebene Konzepte vor, die es erlauben, Altenpflege zu gestalten; und zwar nicht nur für MigrantInnen, sondern für alle BewohnerInnen eines Altenheims. Befragt man die sogenannten Deutschen, woher sie kommen, wird sehr schnell deutlich, dass die wenigsten vor Ort geboren wurden, aufgewachsen, geblieben und alt geworden sind. Die meisten Menschen haben Erfahrungen mit Wanderbewegungen gemacht – seien sie nun zwischen zwei oder mehreren Staaten, oder innerhalb eines Staates – und diese Grenzüberschreitungen haben Grenzerfahrungen ermöglicht.

Ein derartiger Perspektivenwechsel erlaubt einen transkategorialen Zugang: das heißt: sich über die Kategorien wie Migrant, Deutscher, Arbeiter, Bildungsbürger etc. hinweg zu setzten, und einen radikal subjektivistischen Zugang zu den Menschen zu finden. Das Konzept der Transkulturalität ist in diesem Sinne ein temporäres Konstrukt, welches sich in dem Moment auflöst, in dem es praktiziert wird. Es zeigt lediglich den Weg der Grenzüberschreitungen auf: vom Anderen zum Eigenen, von abstrakten Kollektivkategorien zu Individuen mit ihren wandelbaren und unterschiedlichen Wissens- und Sinnordnungen.

 

          Literatur:

Bergmann, Werner (1981): Die Zeitstrukturen sozialer Systeme. Eine systemtheoretische Analyse. Berlin

Böhle, F. et al. (1997): Pflegearbeit als situatives Handeln. Pflege 10: 18-22

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Domenig, Dagmar (Hg.) (2001): Professionelle transkulturelle Pflege. Bern u.a.

Domenig, Dagmar (2001a): „Einführung in die transkulturelle Pflege." In: dies. (Hg.): Professionelle transkulturelle Pflege. Bern u.a.: 139-158

Domenig, Dagmar (2001b): Zur Frage der transkulturellen Kompetenz in der Gesundheitsversorgung. Eine qualitative Studie in der Region Bern zur Suchtproblematik von Drogenabhängigen italienischer Herkunft im Bereich Therapie und Beratung. Inauguraldissertation an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern (Bern: Dissertationsdruck)

Domenig, D./ C. Salis Gross/ H.-R. Wicker (2000): Migration und Drogen. Implikationen für eine migrationsspezifische Drogenarbeit am Beispiel Drogenabhängiger italienischer Herkunft. Schlussbericht. Finanziert durch das Bundesamt für Gesundheit. Institut für Ethnologie, Universität Bern

Dornheim, Jutta (2001): Kultur als Begriff und als Ideologie – historisch und aktuell. In: Domenig, Dagmar (Hg.): Professionelle Transkulturelle Pflege. Bern: 27-46

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