Deutsches Institut für Erwachsenbildung, Projekt [iku:] Interkulturelle Fortbildungen für das Personal in der Altenpflege


Schlechte Zeiten für eine kultursensible Pflegepädagogik?

Normalisierungsprozesse in Politik, Pädagogik und Pflegepädagogik

Ingrid Kollak (Professorin an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin)

1. Einleitung: Überlegungen zur aktuellen Lage

Wie weit entfernt wir von der Vorstellung einer friedlichen Koexistenz sind, haben uns die Ereignisse der jüngsten Zeit verdeutlicht; und noch ist nicht vorhersehbar, um wie Vieles weiter uns die kommenden politischen und militärischen Entscheidungen und Handlungen von dieser Idee entfernen werden.

Nachdem die Situation nach den Anschlägen in New York und Washington zunächst als unumkehrbar charakterisiert wurde - "Nichts wird wieder so wie es war" - ließ sich sehr bald schon eine Veränderung in der Beschreibung der Lage feststellen. Der bereits nach zwei Tagen vorherrschende Tenor der Meldungen war: Eine Normalisierung muss erreicht werden. In Zeitungs- und Fernsehmeldungen hieß es, dass die Normalität nach New York zurückkehren soll. New Yorks Bürgermeister Giuliani wurde mit dem Satz zitiert: "Es ist Zeit wieder mit dem Alltag zu beginnen" (Berliner Zeitung 15./16.09.01). Das Foto von der Wiedereröffnung der Börse unterschrieb dieselbe Zeitung: "Inmitten des Schreckens hält die Normalität wieder Einzug" (18.09.01).

Den Eindruck, die Lage im Griff zu haben, wollte auch der Kanzler in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag (19.09.01) erwecken, als er sagte: "Wir befinden uns nicht in einem nationalen Notstand." Die Grenzwerte, die für ihn die Lage als normal / nicht normal markieren, bezeichnet er mit den beiden Begriffen "Risiko" und "Abenteuer": "Zu Risiken, auch im Militärischen ist Deutschland bereit, zu Abenteuern nicht."

Mittlerweile ist der militärische Einsatz der USA erfolgt, und es wird zunehmend deutlicher, wer im Augenblick das größte Risiko zu tragen hat: Die Zivilbevölkerung in Afghanistan. Daheim ereilen uns täglich und schon als fester Bestandteil der Nachrichten zur Gewohnheit geworden, Bilder von startenden Kampfjets, zerstörten Häusern und verletzten Kindern. Zwei Parallelen scheinen als erstes auf: Einerseits die zur Bombardierung Iraks durch die USA, wie sie größtenteils unbemerkt während der letzten Jahre stattfindet. Andererseits die zum Vietnamkrieg, der als kurzer Krieg der USA geplant war und tatsächlich ein Jahre anhaltendes Leiden für die vietnamesische Zivilbevölkerung darstellte.

Nun geht es im nächsten Schritt um den militärischen Einsatz der Bundeswehr. Dieser Einsatz findet wenig Unterstützung in der Bevölkerung. Eine öffentliche Diskussion darum wird mit dem Hinweis auf "unsere Pflicht zur Solidarität", die sich von den Regierungsparteien offensichtlich nur militärisch denken lässt, verhindert. Beobachtbar ist eine stufenweise Militarisierung der deutschen Politik. Ausgehend von der noch mit großer Betroffenheit diskutierten und verabschiedeten Beteiligung der Bundeswehr als Mitglied nur von Friedenstruppen in Europa, über die schon weniger Aufsehen erregende Beteiligung als Mitglied auch der Kampftruppen in Europa zu dem bereits zugesagten weltweiten Einsatz. Eine rasante Entwicklung in nur zwei Jahren.

Begleitet wurde diese stufenweise Entwicklung von der Rede der Solidarität (mit dem Kosovo, mit den USA), der Eindämmung von Terrorismus (der Serben, der Taliban) sowie dem beständigen Hinweis, dass Deutschland sich nicht weiter vor der Verantwortung drücken kann und sich nur in Richtung auf eine Situation entwickelt, die für die europäischen Nachbarländer längst normal ist.

2. Was ist Normalität?

Eine Stadt bemüht sich um Normalität, in der mehrere Tausend Menschen unter den Trümmern von zwei großen Bürohäusern liegen; Nachrichtensendungen berichten über die Auswirkungen der täglichen Bombardements in Afghanistan zwischen Bundestagsmeldungen und Sportnachrichten. Offensichtlich ist das breite Bemühen, mit Hilfe des Begriffs der Normalität die aus den Bahnen geworfenen kollektiven Lebensprozesse zu beschreiben. Wir müssen uns zurecht fragen, was diesen Begriff in der jetzigen Zeit so attraktiv macht.

Grundlegend an diesem Begriff ist, dass er allen erdenklichen Zuständen die Qualität des Meßbaren gibt, indem er diese auf der Skala eines unendlichen Kontinuums einträgt. Auf der kollektiven Ebene heißt es: Der Zustand New Yorks ist normaler, wenn die Börse, die Schulen und Geschäfte geöffnet sind, als wenn dies nicht der Fall ist. Es ist normal, wenn bei militärischen Schlägen auch Unschuldige getroffen werden, um so mehr, da man sich bemüht, zivile Opfer zu verhindern. Auf der individuellen Ebene funktioniert die Vorstellung der Normalisierung ebenso: Ein Patient mit einem Blutdruckwert von 160/90 ist näher an einem Normalwert als ein Patient mit einem Blutdruck von 200/110.

Offensichtlich wird, dass die Kategorie "normal" nicht nur eine flexible Einordnung von Zuständen im Rahmen eines Über-, Unter- oder Normalmaßes erlaubt, sondern gleichzeitig auch die Vorstellung speist, eine kontinuierliche, Stück für Stück voranschreitende Angleichung von Unterschieden sei möglich. Dies leistet die "Prozess-Kategorie Normalisierung" (Balke 1999: 94) für die verschiedenen Bereiche der gesellschaftlichen Praxis und bezieht dabei gleichzeitig diejenigen Kräfte mit ein, um deren Kontrolle es ihr geht.

Gerade in Zeiten der Krise (ob individuell als Krankheit oder gesellschaftlich als Katastrophe erlebt) eignet sich diese Kategorie ganz besonders, weil sie die Möglichkeit einer Wiedererlangung des Normalzustands suggeriert: Blutwerte werden durch Medikamentengabe stabilisiert, die Weltwirtschaft wird durch Leitzinssenkung gestützt, die weltweite Freiheit durch politisches Taktieren und durch militärische Schläge wiederhergestellt.

Jürgen Link untersucht in seinem Versuch über den Normalismus, welchen Platz der Normalismus in modernen Kulturen einnimmt und fragt, wie auf die Angst, einer jederzeit möglichen, unbemerkten individuellen oder kollektiven Abweichung von der Normalität reagiert werden kann. Er kennzeichnet zwei unterschiedliche Strategien der Normalisierung, die protonormalistische und die flexibel-normalistische. Die protonormalistische Strategie zielt auf eine maximale Verengung, Fixierung und Stabilisierung der Normalitäts-Zone, die flexibel-normalistische Strategie setzt auf die maximale Ausdehnung und Dynamisierung der Normalitäts-Zone (Link 1997: 75ff.). Um diese beiden Strategien zur Anschauung zu bringen, zitiere ich aus Jürgen Links Versuch über den Normalismus je ein Beispiel dieser beiden Strategien im Hinblick auf den Status der Normalitätsgrenze (Link 1997: 79). Eine protonormalistische Strategie zielt auf "'harte' semantische und symbolische Markierung der Grenze". Ein Beispiel dafür wäre eine Zeitungsüberschrift wie "Kreuzzug der zivilisierten Welt". Eine flexibel-normalistische Strategie setzt auf "'weiche' und 'lockere' semantische und symbolische Markierung der Grenze". Ein Beispiel dafür wäre eine Zeitungsüberschrift wie die von Harald Jähners Artikel: "Der Terror ist heimatlos wie die Wirtschaft" (Berliner Zeitung, 18.09.01).

An den bisher genannten Beispielen wird bereits deutlich, dass die Regulierungsmacht, die sich hier ausdrückt, sowohl auf einen beliebigen Körper (fortlaufende Verbesserung von Fähigkeiten) als auch auf eine beliebige Bevölkerung (fortlaufende Prozesse der Korrektur) abzielt. Diese fortwährende Regulierung gilt als notwendig, da eine individuelle oder kollektive Entgleisung jederzeit als möglich erscheint. Gleichzeitig ergreift sie alle Bereiche der gesellschaftlichen Praxis, indem sie diese entlang der Differenzierung normal/pathologisch interpretiert. Da uns hier die Praxisfelder "Kultur", "Pädagogik" und "Pflege" interessieren, wird im folgenden versucht, Normalisierungsprozesse in diesen Bereichen darzustellen. Dabei wird der aktuelle Stand der Diskussion zuerst als Ergebnis historischer Entwicklungen erklärt und dann nach seinen Chancen im Hinblick für protonormalistische und flexibel-normalistische Strategien befragt.

 

3. Mit welchem Kulturbegriff haben wir es zu tun?

Aktuell ist viel die Rede vom Kampf der Kulturen. Sogenannte Experten, denen bislang niemand zuhörte, sind die neuen "Propagandisten der Kreuzzüge, die Trommler der Türkenkriege, die Theoretiker des Konflikts" (Heine 2001: 11), die wechselnd vom Kampf der Zivilisation mit dem Terror, dem Kampf zwischen dem Islam und dem Christentum oder aber dem Kampf innerhalb des Islams reden - und Zuhörer finden.

Die Rede vom Orient als dem grundlegend Anderen zum Okzident (Said 1981) ist nicht neu. Ebensowenig neu ist die Ambivalenz, die sich in dieser xenophoben Rede ausdrückt: das Fremde, das abstößt und anzieht zugleich - und wo könnte diese sich besser ausleben als in der (Männer-) phantasie über orientalische Frauen. So füllen Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, auf denen orientalische Harems und Frauenmärkte zu sehen sind, ganze Ausstellungsräume von weltbekannten Museen. Auf diesen Gemälden werden nackte Frauen vor den Augen arabischer Männer (und Bildbetrachter) veräußert, gekauft. Die Parallele zu aktuellen Fernsehbildern von verschleierten orientalischen Frauen ist schmerzlich und ärgerlich zugleich. Sie sollen militärische Einsätze rechtfertigen und gleichzeitig den europäischen Beobachter davon entlasten, über Frauenhandel vor der eigenen Tür nachdenken zu müssen.

Dieser Blick auf den Orient unterschlägt völlig, welchen Einfluss dieser auf die Kultur des Okzidents hatte und hat. Gerade wer sich für die Geschichte der Heilkunde interessiert, weiß, dass die ersten Schriftstücke, auf denen Symptome und Therapien beschrieben wurden, aus Ägypten stammen und dass der Orient bis in die Neuzeit hinein führend auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, der Algebra, der Astronomie und der Augenheilkunde war. Aber er beeinflusste auch die Philosophie und Literatur. Als Beispiel lässt sich die deutsche Literatur der Klassik und Romantik nennen, deren Beschäftigung mit der arabischen Literatur deutliche Spuren hinterlassen hat. Am bekanntesten sind: Lessings Nathan der Weise (1779), Wielands Oberon (1780), Goethes West-östlicher Diwan (1819), Herders Stimmen der Völker in Liedern (1837). Zur gleichen Zeit nimmt der Orient in Alltagsleben, z.B. in der Mode jener Zeit, einen großen Raum ein. Am Ende des 18. Jh. und Beginn des 19. Jh. lassen sich Adlige und Reiche mit Turbanen und in orientalischen Gewändern gekleidet, abbilden. "Robes à la Turque" und "Coiffures orientales" waren en vogue wie der Begriff "alla turca" (Kollak 1995: 67ff.)

Das Bild der beiden Kulturen des Orients und des Okzidents, die sich mit ihren Vorstellungen von Religion, Zusammenleben, Politik unversöhnlich gegenüber stehen, geht auf einen Kulturbegriff und eine Denktradition zurück, wie sie erstmalig in wissenschaftlichen Texten des 17. Jahrhunderts zu finden sind. Der deutsche Rechtsgelehrte und Historiker Samuel von Pufendorf gilt als "Erfinder" dieses Kulturbegriffs.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ein anderer Begriff von Kultur vorherrschend, wie ihn die Antike kannte. Antike Gesellschaften sprachen von Kultur immer in bezug auf etwas: Kultur der Äcker, Kultur des Schmerzes, Kultur der Körper etc. Bei diesem Begriff der Kultur mit Genitiv geht es um den pflegenden Umgang mit etwas: dem Land, dem Schmerz, dem Körper etc.

Erst seit der Moderne ist es selbstverständlich geworden, den Begriff Kultur für sich allein stehend zu finden. So spricht Pufendorf von Kultur als Zivilisation und Glückszustand des Menschen und setzt ihn in Opposition zum Begriff des Natur- und Unglückszustands des Menschen. Diese Gegenüberstellung bot erstmalig die Grundlage zu einem unablässigen Vergleich: In welcher Lebensform ist der Mensch glücklicher? In der Zivilisation oder im Naturzustand? Ein Vergleich der Lebensumstände von Menschen aus regionaler Sicht wurde möglich: Wo lebt es sich besser? Ebenso ein Vergleich der Lebensumstände aus historischer Sicht wurde möglich: Lebte es sich früher besser? Wird die Zukunft lebenswerter sein? Die kulturelle Technik des wissenschaftlichen Vergleichs ist das wichtigste Moment des modernen Kulturbegriffs (Baecker 1998: 249).

Ein solcher Begriff der Kultur ohne Genitiv wird von Herder Ende des 18. Jahrhunderts in mehreren Bänden seiner "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" expliziert. Sein generalistischer Kulturbegriff hat Konsequenzen: Die Werte, Ansichten und Handlungen sowohl jedes Einzelnen wie einer gesamten Gesellschaft gelten als Bestandteil und Ausdruck einer unverwechselbaren, einheitlichen Kultur, die das Volk-Sein ausdrückt und sich von der Kultur und dem Volk-Sein anderer Kulturen und Völker unterscheiden lässt.

Beide hier vorgestellten Begriffe von Kultur (mit Genitiv und generalistisch ausschließend) scheinen auch in Titeln aktueller Pflegeliteratur auf: "Pflege verwirrter alter Menschen" (Schmitt&Kollak 1998) oder "Türkische Patienten pflegen" (Schilder 1998).

Kennzeichnend für den heutigen Kulturbegriff ist jedoch vor allem, dass er als durch und durch irritierend empfunden wird. Kaum ausgesprochen, traut man ihm schon nicht mehr über den Weg. Referenzen auf höhere Mächte oder auf ein uns auferlegtes Schicksal fallen als Erklärungen für unsere heutige Situation weg. Neue Grenzen unserer Gesellschaft werden gesucht: Wie hoch darf der Anteil der Migranten einer Bevölkerung sein? Benötigt eine Gesellschaft eine Leitkultur? Sollen Koranschulen zugelassen werden? usw.

Ein Kulturbegriff, wie ihn der offener Nationalismus benutzt, der von 'nationaler Identität' spricht und sie mit dem Begriff der 'Rassenzugehörigkeit' begründet, ist bislang noch nicht Teil der etablierten Politik.

In anderer Verkleidung hat es ein rassistischer Kulturbegriff aber schon sehr weit gebracht. In seinem Aufsatz "Fremde und Allzufremde - Prozesse der Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte" macht Frank-Olaf Radtke auf einen schon weiter zurückliegenden, markanten Wechsel im gesellschaftlichen Sprachgebrauch aufmerksam: Statt mit der staatsrechtlichen Kategorie "Ausländer" wurde mit dem ethnologischen Begriff "Fremder" über Arbeitsmigranten gesprochen. "Die Ethnologisierung der Arbeitsmigration ... erreichte auch die Spitzen in Gestalt des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Westberlin (und späteren, hochangesehenen Bundespräsidenten) Richard von Weizsäcker ..." schreibt Radtke und zitiert, wie die FAZ Weizsäckers Rede über "fremde Kulturkreise" in ihrer Leitglosse am 2.12.82 aufgreift:"'(Aber) immer noch wird unter Verzicht auf jegliche Differenzierung über die 'Ausländer' gesprochen (...) Anscheinend soll hierzulande nicht zum Bewußtsein kommen dürfen, dass es verschiedene Grade von Fremdheit gibt und dass das Zusammenwohnen mit den besonders Fremden naturgemäß - genauer gesagt: kulturgemäß - am schlechtesten funktioniert. Mit den Ost-, den Süd- und den Südosteuropäern (...) geht es ziemlich gut; (...) Aber 'außen vor' sind vor allem die Turk-Völker geblieben - dazu Palästinenser, Maghrebiner und andere aus ganz und gar fremden Kulturkreisen Gekommene'" (Radtke 1995: 10).

Was so gut klingend mit einer Forderung gegen Gleichmacherei und für mehr Differenz beginnt, entpuppt sich als übel rassistisch. Die Strategie im Umgang mit Konflikten des menschlichen Zusammenseins, die uns hier vorgeführt wird, ist eine, die nach Linkscher Terminologie als protonormalistisch zu bezeichnen ist. Zur Lösung eines unlösbaren Problems (konfliktfreies Zusammenleben) wird uns eine Normalisierung angeboten, die Menschen unter rassistischen Gesichtspunkten aus der Gesellschaft ausschließt. Diese rassistische Strategie ist nicht sofort zu durchschauen, denn zweifellos folgen wir "Landkarte kultureller Identifikation" (Harald Jähner). Wo deren Grenzen sind, wird durch persönliche Fähigkeiten im Umgang mit Konflikten und durch gesellschaftliche Strategien zur Regelung von Konflikten bestimmt. Wie klein solche Landkarten kultureller Identifikation sind, merkt der Mensch z.B. als Ossi im Westen, als Schalke-Anhänger in der Fan-Ecke von Bayern München, als Nachbar eines Hundebesitzers usw. usf. Außerdem ist es eine "Binsenweisheit ..., dass es keine monokulturell-geschlossenen Kulturkreise gibt, am wenigsten in Deutschland, das durch die Reformation in fundamentaler Weise religiös und damit auch kulturell pluralisiert wurde" (Link 1985: 7).

Eine Normalisierungsstrategie der harten Grenzziehung ("eigener Kulturkreis"/"fremder Kulturkreis") und des sozialen Ausschlusses ist dazu geeignet, Konflikte zu schaffen, aber nicht zu lösen. Leicht ist aus der heutigen Sicht vorstellbar, wenn wir eine offizielle Grenzziehung folgender Art erführen: Auf der einen Seite die zivilisierte Kultur, Christentum, Demokratie, Gleichstellung der Frauen, die es mit allen Mitteln weltweit zu verteidigen gilt und dort barbarische Kultur, Islam, Terrorregime, Mißachtung der Frauen, die es mit allen Mitteln weltweit zu vertilgen gilt.

Eine solche protonormalistische Normalisierungsstrategie geht einher mit einem biologisch-rassischen Kulturbegriff und versteht "Kultur" als prägendes Erbe. "Angeblich gibt es eine "deutsche Identität", die die kulturellen Brüche zwischen Feudalismus und Bürgertum, Mittelalter und Neuzeit, zu schweigen von den sozialkulturellen Differenzen usw. mühelos übertönt. Angeblich steht Kaiser Barbarossa "uns" kulturell näher als der türkische Nachbar!" (Link 1985: 7) Radtke arbeitet diese Leugnung historischer und sozialer Ungleichheit in seinem Aufsatz über die "Ethnisierung gesellschaftlicher Konflikte" ebenso heraus und formuliert spitz: "Kultur wird als prägendes Erbe dargestellt, das bis auf die Römer und ihre Nonchalance im Umgang mit ethnischen Differenzen zurückgeht." Gleichzeitig bietet er einen Begriff von "Kultur", der eine andere Vorstellung nährt:"... ein ständiger Wandlung unterliegendes Instrument der Bewältigung von wechselnden Lebenslagen" (Radtke 1995: 13).

In dieser Definition klingt ein Begriff von Kultur an, der für die Pflege von Interesse ist. Ein Begriff, der Kultur als Fähigkeit und Umgangsweise zur Lösung von Aufgaben und Problemen beschreibt, ist in der Lage, zwei wesentliche Eigenschaften der Pflege auszudrücken: ihre Handlungsorientierung und ihre lange Tradition. Eine Pflege, die z.B. auf die Schmerzkultur reflektiert, stellt auf der individuellen Ebene eine konkrete Hilfe bei der Bewältigung von Schmerzen eines bestimmten Patienten dar sowie die Erfüllung eines sozialen Auftrags zum pflegenden Umgang mit Mensch und Umwelt.

Wie dieser für die Pflegepädagogik interessante Begriff von Kultur als Instrument der Bewältigung von individuellen und sozialen Aufgaben einzusetzen ist, wird uns im folgenden interessieren. Zuvor jedoch ist ein Abstecher in die Pädagogik sinnvoll, die sich schon seit längerem über die unterschiedlichen Formen der interkulturellen Erziehung auseinandersetzt.

 

4. Was können wir aus der Pädagogik lernen?

Die Pädagogik reagierte und reagiert auf die bundesdeutsche Migrationspolitik mit unterschiedlichen Programmen. In Systematiken ist verschiedentlich versucht worden, diese Programme im Hinblick auf ihre Diagnosen, Adressaten, Wirkungen, Ziele und Vorstellungen von Gesellschaft zu unterscheiden. An dieser Stelle sei auf die Texte von Wolfgang Nieke "Multikulturelle Gesellschaft und interkulturelle Erziehung" (1986), Georg Auernheimer "Interkulturelle Erziehung - eine bisher unterschätzte Herausforderung für die Erziehungswissenschaft" (1995) sowie Isabell Diehm und Frank-Olaf Radtke "Erziehung und Migration" 1999 verwiesen.

Den Versuchen der Phasierung wurde - teilweise von den Autoren selbst - immer auch kritisch begegnet, da sie das "Bild einer unilinearen Entwicklung" (Auernheimer 1995: 153) entstehen lassen, eine Entwicklung in Richtung auf eine fortlaufende Verbesserung suggerieren und in einer stilisierten Gegensätzlichkeit, das jeweils neue Programm als das bessere erscheinen lassen (Diehm/Radtke 1999: 127ff.).

Tatsächlich verhält es sich so, dass jemand, der Ideen zu einem pädagogischen Konzept vorstellen möchte oder die Finanzierung eines Modellprojekts anstrebt, sich zuerst wird bemühen müssen, die Notwendigkeit und die Neuartigkeit der Idee und des Projekts darzulegen. Soll etwas erfolgreich als neu dargestellt werden, so gelingt dies um so besser, je klarer es sich von etwas Altem absetzen kann. Etwas, das nutzbringend sein will, muss den Nachweis erbringen, das etwas anderes weniger nutzbringend war. Ohne Rücksicht auf den Inhalt lässt sich eine beliebige Kette von Binarismen bilden: teuer vs. effizient, emanzipativ vs. bevormundend, schüler- vs. lehrerorientiert, integriert vs. separiert usw.

Kennzeichnend für den (pädagogischen) Alltag erscheint vor allen Dingen die Routine: Alles, was aus dem Rahmen fällt oder aus dem Ruder läuft, wird als störend empfunden. Die Möglichkeit zum ungestörten Unterricht mag am Ende das Maß darstellen, nach dem alle Erziehungsprogramme bewertet werden. Die unterschiedlichen Programme in Richtung auf eine interkulturelle Pädagogik lassen sich darum leicht als Normalisierungsversuche darstellen, die seit Jahren zwischen der Strategie der maximalen Abschottung und der Strategie der maximalen Öffnung schwanken. Diese Vorstellung mag betrüben, kann aber auch aktivieren, weil sie von einem ganz pompösen Druck befreit. Gleichzeitig macht sie für Lösungen empfindsam, die - wie Italo Calvino schrieb, nur zu finden sind, wenn Problemen mit Leichtigkeit begegnet wird und wenn sie aus den Augenwinkeln betrachtet werden (Calvino 1991).

Der normale Umgang der Pädagogik der 60er Jahre in bezug auf die Erziehung und Ausbildung von Ausländerkindern war das schlichte Ignorieren. Die Erziehungswissenschaft jener Zeit war zwar von einer durch die Bildungsreform hervorgerufenen Aufbruchsstimmung erfasst, die jedoch die Migrantenkinder nicht mit einschloss. Der damals regierenden Koalition wurde eine Politik der größere Chancengleichheit und Durchlässigkeit im Bildungswesen zugetraut. Die erstmals 1968 massiv geforderte Reform der Ausbildung zielte vor allem auf die Kinder jener Schichten der westdeutschen Bevölkerung ab, die von dem bisherigen Bildungsangebot am wenigsten profitiert hatten: Kinder von Arbeitern und kleinen Angestellten. Diesen sollte durch Gesamtschulen, durch reformierte Oberstufen und Gesamthochschulen ein leichterer Zugang zur Bildung und eine größere Chance auf einen höheren Bildungsabschluß ermöglicht werden. Im weltweiten Vergleich machte sich das Fehlen gut ausgebildeter Arbeits- und Führungskräfte deutlich. Gesellschaftliche Reserven, wie sie die Kinder dieser Schichten darstellten, sollten mobilisiert werden.

Die Debatten jener Zeit thematisierten im wesentlichen die Möglichkeit eines sozialen Ausgleichs, der die Migrantenkinder und deren Familien ausschloss. Die Einbeziehung erschien nicht als notwendig, da die zu dieser Zeit in Deutschland lebenden ersten Arbeitsmigranten ihre Familien zumeist in den Heimatländern zurückgelassen hatten. Die erste Migrantengeneration bestand bekanntlich aus vorwiegend jungen und ledigen Männern. Die wenigen aus Migrantenfamilien stammenden Kinder fielen statistisch nicht ins Gewicht und veranlaßten weder zu erziehungswissenschaftlichen Überlegungen und Programmen noch zu Maßnahmen der Schulbehörden.

Mitte der 70er Jahre war die beschriebene Aufbruchsstimmung spätestens schon dahin. Kennzeichnend für diese Zeit sind vielmehr eine innen- und außenpolitische Verhärtung, die sich am besten mit den Begriffen "des deutschen Herbst" und der "Raketenstationierung" charakterisieren lassen. Der Krieg in Vietnam nahm beständig an Brutalität zu, im Nahen Osten reagierten die arabischen ölfördernden Länder auf den Angriffskrieg Israels mit einer Reduzierung des Ölexports um 25%. Das Bild jener Zeit in den Medien ist das der leeren Autobahnen, auf denen am Sonntag Fahrverbot herrschte. In diese Zeit, nämlich 1973, fällt eine "... augenfällige Umstellung der Semantik in der Bundesrepublik Deutschland von der staatsrechtlichen Kategorie des "Ausländers" auf den ethnologischen Begriff des "Fremden" ..." (Radtke 1995:9). Diese Umstellung sollte die unterschiedliche Behandlung zwischen EG-Ausländern, die das Recht auf Freizügigkeit, Niederlassung und freie Berufswahl besaßen und den Ausländern rund ums Mittelmeer - legitimieren helfen. Der 1973 beschlossene "Anwerbestopp" betraf vor allen Dingen türkische Arbeiter, die bis dahin zwischen ihren Familien in der Türkei und ihrem Arbeitsplatz in der Bundesrepublik pendelten. Sie sollten entweder ihre Familien "nachholen" oder mit finanzieller Förderung in ihre Heimatländer zurückkehren. Die Zahl der ausländischen Bevölkerung wuchs rasch, da die türkischen Arbeiter und deren Familien auf Grund des herrschenden ius sanguinis Ausländer blieben, auch wenn mittlerweile die gesamte Familie in der Bundesrepublik wohnte und die Kinder die türkische Heimat ihrer Eltern nur von Urlaubsbesuchen kannte.

Die Erziehungswissenschaft reagiert erstmalig auf die Migrationspolitik der Bundesregierung. Wolfgang Nieke (1986) spricht in seinem Aufsatz von der Pädagogik der 70er Jahre als einer "Ausländerpädagogik als kompensatorische Erziehung und Assimilationspädagogik". Der Begriff der "Ausländerpädagogik" zur Charakterisierung jener pädagogischen Programme in Abgrenzung zur "interkulturellen Erziehung" späterer Jahre ist in den Systematisierung einheitlich akzeptiert.

In den 70er Jahren werden in einer ersten wissenschaftlichen Problemformulierung, Defizite auf der Seite der Migrantenkinder festgestellt, allem voran werden die offensichtlichen Sprachschwierigkeiten in den Vordergrund gerückt. Diese Konzentration auf das Sprachproblem war so verkürzt wie die Antwort, die darauf gegeben wurde: Deutsch lernen. Wolfgang Nieke bezeichnet die in dieser Zeit vorherrschende Strategie als "Doppelstrategie", indem sie auf die Integration und Rückkehrfähigkeit der Migrantenkinder setzte. Während man hoffte, "Unterricht wie immer" halten zu können, sollten Migrantenkinder in Förderkursen und Vorbereitungsklassen fit gemacht werden. Diese sogenannten Förder- und Vorbereitungsklassen entwickelten sich zur Regeleinrichtungen für Migrantenkinder, von denen weniger als die Hälfte überhaupt nur einen Abschluss erhielten. Isabel Diehm und Frank-Olaf Radtke machen in ihrem Buch Erziehung und Migration darauf aufmerksam, dass diese Kurse und Klassen "Dauereinrichtungen geworden waren, die erst Anfang der achtziger Jahre nach einer Direktive der EG - durch Erlass der Kultusministerverboten werden mussten" (1999: 136/137).

In dieser Zeit wird zunehmend von einem "Ausländerproblem" gesprochen. Mangelnder Schulerfolg bei Ausländerkindern und enorme Arbeitslosigkeit unter jungen Türken wurden als Ausdruck kultureller Differenz bewertet. Nachdem zunächst die Ausländerkinder als defizitär beschrieben werden, wird diese Wertung auf die gesamte "lebenszeitlich prägende Herkunftskultur" ausgedehnt. Diese Sichtweise bediente nicht nur den alten Binarismus vom Orient als dem grundlegend Anderem zum Okzident, sondern er ersparte es auch, nach dem Grund für das Scheitern jener Ausländerprogramme zu fragen. So hätten z.B. die existierenden Sprachprogramme evaluiert und Lehrende nach ihrer Eignung gefragt werden müssen. Gelder für die Evaluation, Lehrerfortbildung und Verbesserung der angebotenen Programme wären nötig geworden, um aus Fehlern lernen zu können und so der Gefahr zu entgehen, mit den nächsten Programmen alten Wein in neuen Schläuchen zu liefern.

In den 80er Jahren machten sich die Konsequenzen der bis heute anhaltenden Einwanderungspolitik, die vor allem durch Realitätsverweigerung, Bevorzugung deutschstämmiger Einwanderer und Ausrichtung auf die Nachfrage des Arbeitsmarkts charakterisiert werden kann, noch weiter deutlich. In der sich zu dieser Zeit verschärfenden ökonomischen Situation entließ vor allem die durch die Rezession am härtesten getroffene Kohlen- und Stahlindustrie in großem Umfang ausländische Arbeitskräfte und machte die Benachteiligung der Migranten und ihrer Familien sichtbar. Der Titel "Über die Unmöglichkeit, Politik durch Pädagogik zu ersetzen" (Hamburger u.a.) spiegelt die Kritik und Selbstkritik der Erziehungswissenschaft dieser Zeit wider.

Die Tatsache, dass Deutschland zu einem Einwanderungsland geworden war, wurde zum Ende der 70er und Beginn der 80er Jahre erstmalig von wissenschaftlichen Arbeiten reflektiert und fand in dem Begriff "interkulturell" ihren Ausdruck. Georg Auernheimer (1995: 149) verweist in seinem Aufsatz auf Weidachers Bibliographie von 1981, in der dieser 21 Titel unter dem Titel der "interkulturellen Erziehung" ausweist.

Die fehlgeschlagene "Ausländerpädagogik" wurde berechtigt von Erziehungswissenschaftlern und Pädagogen angegriffen. Sowohl die pädagogische Strategie der dauerhaften "Ausbildung" einer großen Anzahl von Migrantenkindern in "Vorbereitungsklassen", die nie zu einem Abschluss führten als auch die Orientierung auf die "Defizite von Migrantenkinder", die die skandalösen Defizite des Ausbildungssystems verschwieg, wurden als Marginalisierung und Ausgrenzung kritisiert. Wie sollte aber eine längst überfällige Reform der Erziehung und Ausbildung von Migrantenkindern erfolgreich werden, wenn deren Grundlage, die gesellschaftliche und politische Ungleichheit von Migranten unangetastet blieb?

Die notwendige gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Rechte von Migranten und das zukünftige Zusammenleben blieb aus, stattdessen erfolgte eine Reform der "Ausländerpolitik" in Richtung auf eine "interkulturellen Erziehung", die Gefahr lief, eine bloße 180-Kehre der pädagogischen Semantik darzustellen.

So lässt sich das neue Programm der "interkulturellen Erziehung" ganz als Binäropposition zum alten Programm der "Ausländerpädagogik" lesen. Wurde im alten Programm von Defiziten der Migrantenkinder gesprochen, so hieß es im neuen nun kulturelle Differenz unter allen Schülern. Setzten die "Ausländerprogramme" auf Kompensation, Rückkehr und Assimilation, so setzten die neuen "interkulturellen Erziehungsprogramme" auf Kulturrelativismus und Erhalt kultureller Identität. Die gewünschte Normalisierung des pädagogischen Alltags wurde erfolglos mit der Ausgrenzung der Migrantenkinder versucht, jetzt versuchte man es mit der Integration.

Der Erfolg einer "interkulturellen Erziehung" müßte sich in den 90er Jahren sowohl an einer gelungenen Ausbildung von Ausländerkindern als auch an einer gelungenen Verbindung östlicher und westlicher Erziehung messen lassen. Denn wenn das pädagogische Programm einer "interkulturellen Erziehung", eine Bereicherung der Gesellschaft durch kulturelle Vielfalt darstellt, so müßte sie sich auch bei dem für uns zentralen Ereignis der 90er Jahre, der Vereinigung Deutschlands, positiv bemerkbar gemacht haben. Dazu hätte es eine streitbare Kultur der Auseinandersetzung über die Errungenschaften z.B. der sozialen und gesundheitlichen Versorgung geben müssen. Doch weder zu diesen Themen noch zu Fragen der Ökonomie und Politik wurde gestritten. An Stelle einer Kultur der Debatte findet eine Debatte über Kultur statt, die Frank-Olaf Radtke zu Recht als Ethnisierung politischer Konflikte (1995) kritisiert.

Diese politischen Konflikte brachen in den 90er Jahren auf und manifestierten sich in gewalttätigen Angriffen rechtsradikaler Jugendlicher, die von einer Debatte über das Asylrecht begleitet wurden. Die 90er Jahre finden in den Bildern brandstiftender Jugendlicher Ausdruck, die vor den Augen untätiger Polizisten und begeisterter Bürger Ausländerheime zündeln. Tödliche Hetzjagden auf Einzelne und Angriffe auf Einrichtungen jüdischer Gemeinden sind an der Tagesordnung wie beständige Berichte und Artikel über die "Überfremdung".

Manfred Kaschel hat in seinem Buch Sprache - Bilder - Politik (1993) eine Vielzahl von Bild- und Textbeispielen aus deutschen Zeitschriften für den Politikunterricht zusammengestellt. Er zeigt Karikaturen aus gängigen Tageszeitung, die die Asyldebatte mit Bildern von überfüllten Booten, sinkenden Schiffen und hinwegreißenden Flutwellen begleiten. Die Symbolik ist eindeutig: Es wird eine Konnotation von Ausländer (Asylant) mit Unordnung, Chaos, Vernichtung, Katastrophe usw. hergestellt. In einem solchen politischen Klima gedeihen Programme "interkultureller Erziehung" so wenig wie Debatten über die Form der Gestaltung des Sozial- und Gesundheitswesens nach der Vereinigung.

Als Ergebnis fehlender politischer Reformen in der Bildung sowie im Recht auf Asyl, Einwanderung und Migration finden sich heute in einer Stadt wie Berlin zunehmend "Schulen ohne Sprache" neben zweisprachigen Eliteschulen. Offensichtlich ist die Zweisprachigkeit kein Problem, sondern die Größe und Ausstattung von Klassen, die Fortbildung und Motivation von Lehrern, die gesellschaftliche Wertschätzung von Bildung und Migration. Curriculare Festlegungen zur "interkulturellen Erziehung" machen sich im Rahmen schlecht ausgestatteter Schulen und überforderter Lehrer wie folkloristische Einsprengsel in einer "Leitkultur" aus, die Bildung wieder zunehmend von den Einkünften der Eltern abhängig macht. Von dieser Entwicklung sind vor allem Kinder der Unterschicht und Migrantenkinder betroffen.

Ein Programm, das Kultur statt Politik vorsieht, ist so wenig erfolgreich wie sein Vorläuferprogramm, das Pädagogik statt Politik setzte. Pädagogische Konzepte der Integration sind davon abhängig, dass die Migration gesellschaftlich erwünscht ist und durch politische Rechte und strukturellen Wandel begleitet wird. Die aktuelle Diskussion um die Reform des Einwanderungsgesetzes, die alte Schwächen, der Orientierung auf Arbeitsmarkt, Verwertung, Nicht-Integration fortsetzt, bietet keine Grundlage für eine "interkulturelle Erziehung".

Strebt eine "interkulturelle Erziehung" also bestenfalls die Unmöglichkeit an, ein richtiges Leben im falschen zu schaffen? Ob und welche Gestaltungsspielräume ich in der Pädagogik sehe, möchte ich im Rahmen der Pflegepädagogik anschaulich machen.

 

5. Die Pflegepädagogik zwischen Normativität und kultursensibler Begegnung

Eine Reflexion der pflegerischen Ausbildung und Praxis in bezug auf eine kulturelle Sensibilität gibt es in der fachwissenschaftlichen Literatur international seit Beginn der 70er Jahren, als Madeleine Leininger erstmalig ihre Vorstellungen über "transcultural nursing" (1973: Towards Conceptionalization of Transcultural Health Care Systems) vorlegte. Mit einer großen zeitlichen Verzögerung begann diese Diskussion zu Beginn der 90er Jahre auch in der westdeutschen Pflege. Diese zeitliche Verzögerung ergibt sich aus der einfache Tatsache, dass er vorher keine akademischen Strukturen innerhalb der Pflege gab.

Übersetzungen von zumeist nordamerikanischen Pflegetheorien - unter ihnen auch Leiningers "Transkulturelle Pflege" - stießen die Diskussion über Kultur und Pflege hierzulande an. Gleichzeitig führte die Akademisierung der Pflege zu Berufungen von Pflegeprofessorinnen, die zumeist in Nachbarschaftsdisziplinen wie z.B. der Pädagogik, Soziologie und Ethnologie ihre Abschlüsse erhalten hatten. Von dort brachten sie auch die Themen Migration, Kultur, kultursensible Pflege, Kranksein in der Fremde etc. mit.

Selbstverständlich gab es vorher schon in Krankenhäusern und Arztpraxen langjährige Erfahrungen im Umgang mit Patienten, die nicht-deutscher Herkunft waren. Doch die Auswertung dieser Erfahrung und die Bewertung der damit verbundenen Anforderungen blieb einer Handvoll Medizinern überlassen. So können wir maximal von einer zehnjährigen Tradition einer Diskussion über Pflege und Kultur innerhalb der Pflegewissenschaft sprechen. Eine curriculare Konsequenz aus der bisherigen Diskussion fehlt gänzlich, obwohl Fort- und Weiterbildungsangebote zu diesem Thema große Nachfrage finden.

Wenn wir einen Vergleich mit dem Stand der Erziehungswissenschaft unternehmen wollen, so sind unsere derzeitigen Auseinandersetzungen zu dem Thema - mit Ausnahmen - auf dem Stand kompensatorischer Konzepte, wie es sie in den 70er Jahren in der Pädagogik gab.

Aus Sicht der Pflege werden noch mehrheitlich Defizite und Probleme auf der Seite von ausländischen Patienten beschrieben wie Sprachdefizite, ungenügende Compliance, wenig Kenntnis im Umgang mit dem Gesundheits- und Versicherungssystem. Darin drückt sich einerseits eine in der Pflege insgesamt noch vorherrschende Haltung aus, die dem Patienten als Experten in eigener Sache wenig Stellenwert und Gestaltungsspielraum einräumt. Andererseits kommt darin auch der Einfluss von Leiningers Vorstellungen von "Transkulturelle Pflege" zum Ausdruck: Entschlüsselung der Kulturen und Typisierungen der Menschen, die dieser Kultur zugerechnet werden.

Hier begegnen sich außergewöhnliche Fremdheitserfahrung mit einem theoretischen normativen Universalismus, der das Thema der kulturellen Differenzen und der damit verbundenen Schwierigkeiten vom Tisch wischt. Der Pflegeexperte kennt die universalen Bedürfnisse der Menschen (womöglich noch nach einer falsch verstandenen Hierarchisierung von Bedürfnissen) und kann mit Hilfe der in Katalogen aufgelisteten Eigenarten einer Kultur und seiner Fachkenntnisse das Richtige tun. Der als defizitär verstandene, ausländische Patient - neben Pflegeproblemen auch noch Sprachprobleme - wird mit Hilfe einer normierten Checkliste abgearbeitet.

Die Aufforderung zu einer "kultursensiblen Pflege", für die es im Augenblick weder einen festen Platz in der Ausbildung gibt noch Zeit und Anerkennung in der Praxis, empfindet die überarbeitete Krankenschwester als weitere Anforderung im Kanon unerfüllbarer Erwartungen: Die Pflege soll ganzheitlich, empathisch, patientenorientiert, evidenzbasiert und kultursensible usw. sein und korrekt dokumentiert werden.

Wie kann die Interkulturalität als Ressource in der Pflege wahrgenommen werden?

Versuchen wir also die Dinge von dem Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Die Pflege ist in der Praxis auf schnelles Entscheiden, sicheres Handeln, klare Absprachen, genaue Arbeitsteilung angewiesen. Kurze Planungszeiten, einfache Lösungswege und große Handlungssicherheit sind bei pflegerischen Arbeitsabläufen von hohem Wert. Das sind Vorteile, wenn sie wirklich existieren. Sind Absprachen aber überholt, Leitlinien nicht vorhanden, Handlungen und Arbeitsteilung eingefahren und nicht evaluiert, so sind sie unwirksam und belastend. Die Pflegeforschung ist dann aufgerufen, die Wirksamkeit von pflegerischem Handeln zu überprüfen.

Es wäre für Patienten und Pflegekräfte in gleichem Maße wohltuend, sich von einem Wust wirkungsloser Prozeduren und Tätigkeiten zu befreien. Einer ungeklärten, moralisch belastenden Aufforderung zur Ganzheitlichkeit, die in der Praxis als Erledigung aller unerledigten Aufgaben daherkommt, los zu werden, um therapeutischem und sorgendem Handeln Platz zu geben, wäre zum Beispiel ein aufmunternder Schritt. Dazu müssen wir gemeinsam nachdenken, nachprüfen und beschreiben, was pflegerisch wirkungsvoll für Patienten ist. Für eine in dieser Weise wirkungsvolle Pflege ist es notwendig, das Verständnis des Patienten von seiner Krankheit und seinen Bedürfnissen, von seinen Ressourcen und seinem Hilfebedarf ernst zu nehmen. Patienten liefern die wichtigsten Informationen, um eine Pflege vorzuschlagen, die Patienten als wirklich entlastend, verständnisvoll und zielführend erleben können. Das beste Wissen über pflegerische Tätigkeiten, typische Krankheitsverläufe, mögliche Therapien sowie voller körperlicher und geistiger Einsatz können wirkungslos bleiben, wenn sie am Patienten vorbeigehen. Das belegt die Medizin mit großem Aufwand, hohen Kosten und unzähligen Opfern seit Jahren.

Sehen wir uns zunächst die Ausgangsbasis an, so müssen wir feststellen: Interkulturalität ist ein Begriff, der die existierende gesellschaftliche Situation benennt und keine Zielformulierung verträumter Intellektueller darstellt. Wenn wir die gesellschaftliche Situation Deutschlands in bezug auf Migration in Zahlen ausdrücken, so ergibt sich folgendes Bild:

Ende 1999 lebten in Deutschland 7.4 Mio. Migranten, das sind 9% der Gesamtbevölkerung. Es waren ca. 4 Mio. (6,4%) 1973, im Jahr des Anwerbestopps. 1.6 Mio. sogenannte Ausländer (21,7%) sind in Deutschland geboren. Seit Anfang der 70er Jahre stammen durchschnittlich 10-13% aller in Deutschland geborenen Kinder von Migranteneltern. Ende 1999 lebten knapp 30% aller Migranten länger als 20 Jahre in Deutschland, über 40% länger als 15 Jahre und 50% länger als 10 Jahre.

Auf Grund der steigenden Verweildauer wächst der Anteil älterer Migrantinnen und Migranten: Sie sind die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe Deutschlands. Angesichts des deutlich unter dem Durchschnittsalter der deutschen Gesamtbevölkerung liegenden Altersdurchschnitt der Migranten waren 1995 nur 3,6% der Nichtdeutschen älter als 65 Jahre. Dieser Anteil wird sich bis zum Jahr 2010 auf 8,6% bis 2030 auf 17,2% erhöhen. Dabei gehen deutschstämmige Migranten aus den ehemaligen Ostblockstaaten nicht in die Ausländerstatistiken der Behörden ein, da sie als Deutsche erfasst werden. Winfried Schnepp geht von zur Zeit etwa drei Millionen Spät-Aussiedlern aus, die seit 1950 in die BRD gekommen sind. Über 7% der Spätaussiedler sind älter als 65 Jahre. Der Anteil alter Menschen in der Gruppe der Spätaussiedler liegt also deutlich höher als in der Gruppe der Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit.

Wie bereits erwähnt, kam ein Großteil der heute älteren Migranten in den 60er Jahren bis 1973 als „Gastarbeiter" nach Deutschland und plante zunächst einen nur vorübergehenden Aufenthalt. Vorhandene Rückkehrpläne wurden nach dem 1973 erlassenen Anwerbestopp aufgeschoben, da die Chance, einer erneuten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis in Deutschland sehr gering war. Der Familiennachzug rückte in den Mittelpunkt und der Gedanke einer dauerhaften Existenz in Deutschland. Migrantinnen bilden mit ca. 45% den Hauptteil der Bevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit.

Stärker als bei den in Deutschland geborenen Kindern türkischer Eltern besteht bei den Migranten der ersten Generation eine gewisse Rückkehrorientierung. 31% der älteren Migranten äußerten in Umfragen den Wunsch, in ihr Heimatland zurückzukehren, gegenüber 20% der Befragten, die ihren Lebensabend in Deutschland verbringen wollen. Mehr als 30% der Befragten stellt sich eine Pendelexistenz zwischen Heimat- und Gastland vor. Als Hauptgründe für ein Verbleiben in Deutschland werden mit 75% die deutsche Gesundheitsversorgung und mit 61% die familiären Bindungen genannt. Ein Verbleiben in Deutschland nach dem Ende des Arbeitslebens bedeutet für viele Migranten offensichtlich ein Maß an sozialer Sicherheit. Diese Sicherheit sowie die Aufenthaltsbewilligung in Deutschland gehen ihnen nach einer mehr als sechs Monate dauernden Rückkehr in ein Land außerhalb der Europäischen Union verloren. Die Entfremdung vom Heimatland und der Verlust von sozialen Kontakten dort können als weitere Gründe zum Verbleib in Deutschland vermutet werden. Eine Rückkehr ins Herkunftsland könnte eine erneute Migration bedeuten, eine erneute Entwurzelung wäre nicht auszuschließen. Diese Gründe mögen dazu führen, dass trotz des vorhandenen Rückkehrwunsches ältere Migranten trotzdem ihren Lebensabend in Deutschland verbringen.

Die Migranten, die als „Gastarbeiter" nach Deutschland kamen, wurden durch Außenstellen der Bundesanstalt für Arbeit in der Türkei einer strengen gesundheitlichen Selektion unterworfen. Dennoch lassen sich heute bei den ursprünglich außerordentlich gesunde Männer und Frauen nach deren harten Lebens- und Arbeitsbedingungen (Akkord- und Schichtarbeit, Überstunden, körperlich anspruchsvolle und gefahrenbelastete Tätigkeiten) überdurchschnittlich hohe Verschleißerscheinungen insbesondere des Bewegungs- und Stützapparates, zu chronischen Krankheiten der Verdauungs- und Atmungsorgane sowie des Herz-Kreislauf-Systems feststellen; psychosomatische und psychiatrische Erkrankungen als Folge der Migration kommen in vielen Fällen hinzu.

Vorstellungen vom Leben in den Migrantenfamilien beruhen weniger auf Erkenntnisse als vielmehr auf Vorurteile. Auch das beweist ein Blick in die Statistiken. Danach leben zu Zeit in Deutschland nur 26% der Migranten in Mehrgenerationen-Haushalten: 74% leben demnach in Kleinfamilien oder Einzelhaushalten. Mehr als 20% der über 55jährigen Migranten sind alleinstehend, d.h. sie sind ledig geblieben, geschieden oder verwitwet. Der Anteil der Einpersonenhaushalte beträgt in der Altersgruppe der 60jährigen 22% (Deutsche 17 %), in der Gruppe der 65- bis 70jährigen bereits 36% (Deutsche 27%) und bei den über 75jährigen 43%. Hinzu kommt, dass sich auch in den Migrantenfamilien Veränderungen im Verständnis familiärer Bindungen zeigen. Entgegen traditionellen Überzeugungen wird also ein Großteil der heute in Deutschland lebenden Migranten (Umfragen sprechen von 11%) würden im Falle einer Pflegebedürftigkeit nicht familiär versorgt werden können, sondern werden professionelle Dienste in Anspruch nehmen müssen.

Soweit also der Blick in die Statistiken: Und wie sind die bereits erlebten Erfahrungen miteinander? Patienten und Pflegeteams sind längst multikulturell. Allerdings ist die Zahl der Migrantinnen (und um ausländische Frauen handelt es sich zumeist in der Pflege), die in der Pflegeleitung, Pflegeausbildung oder gar Pflegeforschung tätig ist, sehr gering. Hier konkurrieren die Migrantinnen nicht nur mit ihren deutschen Kolleginnen, sondern auch mit deutschen Kollegen.

Am Anfang steht darum gleich die Frage nach der gesellschaftlichen wie individuellen Erwünschtheit von Migration. Wird das Erlernen kultureller Kompetenzen als Arbeitsauftrag gesehen und verstanden? Werden diese Fähigkeiten im Rahmen des Lehrauftrags vermittelt? Wird ein solches pflegerisches Handeln als Qualitätsmerkmal gesehen? Werden Mitarbeitende mit Migrationshintergrund als wichtige Vermittlungspartnern auf den unterschiedlichen Ebenen akzeptiert und gefördert? Kurz: Haben wir es in der Tendenz mit einer Abschottung oder Öffnung zu tun? Auf der Ebene der Gesellschaft müssen wir fragen: Zielt die gesellschaftliche Normalisierung im Umgang mit Migration mehr auf eine protonormalistische Strategie des "no tolerance" oder mehr auf eine flexibel-normalistische Strategie des "no limits"? Wird unser persönliches Verständnis vom Umgang mit Migration eher von Angst und Abgrenzung oder eher von Mut und Ausprobieren bestimmt.

Wie sehen die Konsequenzen der beiden Strategien mit Bezug auf die Pflegepädagogik aus?

Es wäre falsch, sich die Strategie der "no tolerance" als martialisches Verbot jeglicher "interkultureller Regung" vorzustellen. Vielmehr reicht es aus, die begrenzten Ressourcen wie z.B. die Versicherungsleistungen, Krankenhausbetten, ambulanten Pflegeangebote, aber auch die Ausbildungsplätze und Ausbildungsinhalte sowie die Arbeitsplätze und Leitungspositionen nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten (Ausgaben müssen sich lohnen) zu verteilen. Dabei mag die eine oder andere rassistische Bemerkung in Richtung auf die "naturgemäß primäre Sorge um den eigenen Kulturkreis" o.ä. im momentanen Klima des "Kampfs gegen den Terrorismus" gleich noch mal" erlaubt sein".

Wollen wir die Kräfte in Richtung auf eine Erweiterung und Dynamisierung der Normalitätszone "no limits" stärken - und darum geht es mir, muss dies auf unterschiedlichen Ebenen geschehen.

Auf der Ebene der gesellschaftlichen Ressourcenverteilung z.B. in Form der Forderung und Durchsetzung des Rechts auf Gleichbehandlung. Eine solche Gleichbehandlung ist vor dem Hintergrund richtig, dass Migranten, die heute eine gesundheitliche Versorgung beanspruchen, sich diesen Anspruch durch Jahre langes Einzahlen in die Sozialversicherungskassen erkauft haben. Doch es gilt auch aus der alten heilkundlichen Tradition heraus zu argumentieren, nach der kranken und pflegebedürftigen Menschen ein Recht auf Hilfe zugestanden wird, unabhängig von Status, Bildung, Einkommen, Religion, Geschlecht, Herkunft usw. Das Primat der Verwertbarkeit, der Nützlichkeit oder des lohnenswerten Lebens ist keines, das der Heilkunde entspringt. Vielmehr lässt sich an der Behandlung pflegebedürftiger Migranten durch das deutsche Gesundheitswesen die allgemeine gesellschaftliche Wertschätzung aller kranken, nicht heilbaren, nicht mehr im Arbeitsprozess stehenden Menschen ablesen.

Neben den strukturellen Bedingungen für interkulturelle Begegnungen (oder Konflikte) gilt es auf einer mikrosoziologischen Ebene nach den emotionalen Aspekte des Umgangs mit dem Fremden zu fragen. Denn erst die Offenlegung der Emotionen, die interkulturelle Begegnungen auslösen (Ängste, Aggressionen, Ohnmacht etc.), ermöglicht die Chance, Veränderungen durch Ausbildung und Bildung zu bewirken. Hier steht die Frage nach der Konstruktion von Fremdheit im Mittelpunkt. Denn Fremdeinschätzungen sagen immer etwas sowohl über die soziale und historische Sicht auf Fremdheit aus als auch über persönliche Sichtweise. Diese werden durch eigene Erfahrungen und Entwicklungen geprägt.

Die satirisch tiefsinnige Anmerkung von Karl Valentin "Fremd ist der Fremde nur in der Fremde" verdeutlicht dies: das, was wir als fremd konstruieren, hat auch immer mit dem eigenen Standort zu tun. Jede Wahrnehmung sagt etwas über den ethnozentristischen Standort aus; und es ist davon auszugehen, dass Individuen wie Gruppen in bestimmter Weise Kategorisierungen bilden. Der Gegenentwurf eines "Wir" ist in der Beschäftigung mit "den Ausländern" oder den "ausländischen Patienten" inbegriffen. Diese völlige Unbestimmtheit einerseits und selbstverständliche Annahme andererseits kann fatale Folgen für Theorie und Praxis der Pflege haben.

Ohne "Ausländer" als eine spezielle Problemgruppe zu identifizieren, für die es Konzepte zu entwickeln gilt, geht es darum, durch die Einnahme einer interkulturellen Perspektiven zu einem erweiterten Pflegeverständnis für alle Patienten zu gelangen. Die Fähigkeit der Selbstreflexion wie die reflektierende Auseinandersetzung über Gesundheits- und Krankheitsvorstellungen, Werte- und Glaubenssysteme, Familien- und Geschlechterrollen sollten ihren festen Platz in der Ausbildung der Pflege wie auch in der Fort- und Weiterbildung erhalten. Denn gerade in der interkulturellen Auseinandersetzung liegt die Chance, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen.

Wie also sollte eine Pflegepädagogik ausgestaltet sein, um "interkulturelle Kompetenzen" erlernen und lehren können. Solche Kompetenzen wären potentiell auf den Ebenen des Wissens, Fühlens, Denkens und Handelns nutzbar. Doch dazu müssen Ängste, Vorurteile und Mißverständnisse überwunden werden. Ein solches Mißverständnis besteht darin, sein Gegenüber zu vereinnahmen. Pflegekräfte unterliegen nicht selten dem Wunsch, den Anderen oder das Fremde im Anderen "völlig verstehen" zu wollen. Letztlich geht es um eine Entkleidung und Bemächtigung des Fremden. Dagegen besteht der Psychologe Wolfgang Pfeiffer in seinem Aufsatz "Begegnung mit dem Fremden in Psychotherapie und Beratung" (1993) darauf, dass jeder Versuch einer echten Begegnung jenseits von Ausgrenzung und Vereinnahmung beginnt. "Um diesen Gefahren [von Ausgrenzung und Vereinnahmung, InK.] zu entgehen, bedarf es - über das akzeptierende Verstehen hinaus - einer Haltung, die den Anderen gerade auch in seinem Fremdsein akzeptiert, selbst aber verlässlich auf dem Boden der eigenen Identität steht und damit in Kauf nimmt, bei allem Bemühen um Nähe dem Anderen letztlich gleichfalls ein Fremder zu bleiben. Es gilt die existenzielle Geschiedenheit der Menschen anzunehmen, auf deren Boden aber 'Beziehung' möglich wird, von Person zu Person, von Kultur zu Kultur. Das bedeutet, dass wir bereit sind, dem Anderen aus unserer lebensgeschichtlichen Gewordenheit, aus unserem Personsein heraus zu antworten und ihn zur Antwort herauszufordern. Damit fließt von beiden Seiten Wesentliches in das 'Zwischenreich des Dialogs' ein; keiner aber geht darin als Ganzer auf und erst recht wird keiner vom Anderen assimiliert. Während beide ihre gesonderte Identität bewahren, tragen sie bei zum Dialog, in dem Neues entsteht. Und das wirkt nach beiden Seiten verändernd, befruchtend zurück." (Pfeiffer 1993: 23)

"Interkulturelle Kompetenz" als Basis für eine echte Begegnung versteht sich als Fähigkeit und Fertigkeit, erfolgreich und angemessen kommunizieren zu können. Erfolg und Angemessenheit lassen sich dabei am Erreichen von beiderseitigen Zielen und an der Zufriedenheit mit der individuellen Begegnung prüfen. Eine solche Kompetenz stellt Anforderungen an persönliche Grundeinstellungen, Wertvorstellungen und Lernbegeisterung einerseits sowie an interkulturelles Wissen, Verhaltensweisen und Umgangsformen andererseits. Sie ist somit auf den Ebenen des Denkens, Handelns und Fühlens zu erlangen.

Fähigkeiten, die diese Ebenen in unterschiedlichem Maß ansprechen, sind z.B. die der Empathie, Problemanalyse und Konfliktfähigkeit. So existiert Empathie jenseits von Mitleid und Verständnis. Sie zeigt Nähe und Distanz zugleich. Eine solche Fähigkeit verstellt nicht den Blick durch die eigene "Handlungsrationalität" und "Konstruktion von Wirklichkeit". Die Fähigkeit zur Problemanalyse erlaubt, die Genese von Konflikten, aber auch von gelungener Kommunikation und erreichten Problemlösungen zu erkennen und auf andere Situationen zu übertragen. Damit erhöht sich z.B. die Fähigkeit, eigene Streßsituationen zu beherrschen und gleichzeitig nach außen Sicherheit und Offenheit zu signalisieren. Nicht zuletzt ist die Konfliktfähigkeit essentiell. Denn das eigene Verständnis von einem rational und formell handelnden Menschen trifft in der Interaktion auf diffuse, vielschichtige, widersprüchliche und oft nicht formulierte Erwartungen. Dies ist in allen Fällen der Kommunikation und Begegnung der Fall.

Diese beispielhaft genannten Fähigkeiten, sind solche, die Kommunikation allgemein - und die für uns vor allen Dingen förderungswürdige "interkulturelle Begegnung" - erleichtern helfen. Diese Fähigkeiten können wir uns aneignen, sobald wir geneigt sind, bisher weniger erfolgreiche Strategien des Umgangs abzulegen. Es geht also nicht um zwei Stunden "Pflege von Migranten", sondern um die Reflexion eigener Einstellungen, Werte und Handlungsmuster, die unseren gesamten Arbeitsalltag bestimmen. Eine solche pflegewissenschaftliche Ausrichtung, die einen (aus der Antike bekannten) Kulturbegriff der Pflege aller Patienten aufgreift, unterliegt "weniger der Gefahr der Negierung kultureller Unterschiede bzw. Unterordnung von Minderheitenkulturen unter eine Hegemonialkultur (Universalismus) einerseits oder einer Überinterpretation aller individuellen Unterschiede als kulturelle (Kulturalismus) andererseits" (Kollak&Küpper 1997: 129). Eine bewußtere Haltung unseren eigenen Einstellungen und Handlungen gegenüber ist dringender denn je erforderlich, wenn in einem politischen Klima, wie wir es derzeit erleben, ethnische Zugehörigkeit, Religion, Geschlecht als "label" für Ausgrenzungen bemüht werden. Die Pflegepädagogik wird sich insgesamt nur entwickeln können, wenn sie sich mit diesen Konfliktfeldern beschäftigt.

 

 

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Dokument aus dem Internetservice texte.online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung

http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp