DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

„Distanznahme zu sich selbst ist das wichtigste Bildungsziel!"

Gespräch mit Alfred Grosser

Alfred Grosser, Soziologe, Politikwissenschaftler, Publizist und politischer Kolumnist, wurde 1925 in Frankfurt am Main geboren, emigrierte 1933 nach Frankreich und ist seit 1937 französischer Staatsbürger. Er ist Professor em. am Institut d´études politiques, Paris, und erhielt zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen in Frankreich und Deutschland, darunter den Grand Prix der Académie des Sciences morales et politiques (1998) und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels (1975) als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente". - Das DIE-Gespräch mit Alfred Grosser (A.G.) über die Zukunft von Bildung und Lernen, Politik und politische Bildung in der Wissensgesellschaft führte Klaus Meisel (DIE).

Alfred GrosserDIE: Professor Grosser, was sagt Ihnen der Begriff „Wissensgesellschaft"?

A.G.: An sich furchtbar wenig, aber ich stelle mir unter Wissen etwas anderes vor als Detailwissen. Wenn Sie etwa Informationen per Internet nehmen: Mich beunruhigt bei dieser Art von Netz-Gesellschaft, dass man viele Fragen stellt, ohne zu wissen, wie eigentlich gefragt werden muss, damit die Antworten einen Sinn haben. Bei meinem ersten Versuch im Internet gab ich als Frage den Begriff „Berliner Mauer" ein. Da gab es 4.500 Antworten. Das heißt, dass Sie schon sehr viel vorher wissen müssen, um zu erfahren, was sie wissen wollen.

DIE: Wenn es um „Zukunft von Bildung und Lernen in der Wissensgesellschaft" geht: Wo sehen Sie denn einen Bedarf für Bildung?

A.G.: Der Bedarf ist überall. - Was ist Bildung? Da möchte ich Ihnen vielleicht meine drei Definitionen des Wortes Kultur geben. Die erste Kultur, das ist das Schöngeistige, die Musik usw. Die zweite ist das, was die Ethnologen, Soziologen Kultur nennen - das sind die Werte, die Gemeinsamkeiten, die Überlieferungen, die eine Gemeinschaft hat. Und die dritte ist die Aufklärung, das ist die Infragestellung der zweiten Kultur und auch der ersten. Die Distanznahme zu sich selbst und zu den eigenen sozialen Bedingungen und Zugehörigkeiten ist für mich die wichtigste Bildung. Und die ist natürlich am schwersten durchzusetzen. Bildung ist für mich, was zur dritten Kultur gehört.

DIE: Können Sie das an einem Beispiel erläutern?

A.G.: Zum Beispiel: Was ist heute ein Deutscher und was ein Franzose? Das ist heute genau dasselbe, das sind beides Benzinverbraucher. Neulich gab es eine ausgezeichnete Karikatur in „Die Woche": Man sieht einen Lehrer, der fragt: „Am 14. Juli 1789 hat das Pariser Volk die Bastille gestürmt: war das eine Tankstelle?". Wenn Sie sehen, dass laut „Woche" bei einer Umfrage zwei Drittel der Deutschen bereit wären, auf die Straße zu gehen und mit Gewalt zu erzwingen, dass die Benzinpreise sinken, und dass bei uns dieselben Zahlen sind, dann können Sie sagen: Das ist zunächst ein Franzose und das ein Deutscher, in der gemeinsamen Definition aber sind sie Autofahrer. Zu erkennen, dass man verschiedenen Identitäten angehörig ist, dass man viele Identitäten hat, ist der Beginn von Bildung. Und der ist schwer unterzubringen in einer Zeit, wo, während wir uns unterhalten, gerade ein Bürgerkrieg an der Elfenbeinküste beginnt. Und der verläuft nach ethnischen Identifizierungen: Man ist nicht Mann, man ist nicht Frau, man gehört dieser oder jener Volksgruppe an, und das ist das einzig Wesentliche. Deswegen ist die erste Bildung die Selbstdistanznahme.

DIE: Sie haben mit der sarkastischen Darstellung der Europäer als Benzinverbraucher auf ein Problem hingewiesen: Wir können zwar einen Bedarf definieren, aber gibt es auch ein Bedürfnis nach Bildung?

A.G.: Das kann geweckt werden. Da sollen die Erzieher nicht nachgeben. Sie sollen versuchen, das zu beeinflussen. Und als Randbemerkung: Ich bin aufgezogen worden und habe jahrzehntelang unter dem Leitbegriff der Aufklärung und der Toleranz gelebt. Heute kann ich das Wort Toleranz manchmal nicht mehr hören, denn Toleranz bedeutet heute: Mir ist egal, was du tust, vorausgesetzt, dir ist egal, was ich tue. Das ist nicht Toleranz, das ist Abdankung. Der Erzieher, sei es Vater, Mutter oder Lehrer, der dich nicht beeinflussen will, ist nicht tolerant, er dankt ab. Und das scheint mir wesentlich zu sein, denn es gibt heute viele Abdankungen, übrigens vor allem seit 1968. Da hat die große Abdankung begonnen: Wir sollen die Kinder nicht beeinflussen, das Kind soll frei sein - aber man ist nie frei. Auch das Kind ist schon im Mutterleib von seiner Umwelt beeinflusst worden. Aus den eigenen Bedingungen, die jeder Mensch mitbringt, rauszukommen durch kritisches Distanznehmen zu sich selbst, das ist wirklich das Wesentliche bei der Bildung. Es gibt daran einen größeren Bedarf, als öffentlich gesagt wird. Ich sehe das auch bei Jugendlichen in Deutschland, in Frankreich und auch in anderen Ländern. Sie sind oft nicht nur konsumorientiert. Also stellen sich Fragen. Nur muss man ihnen diese Fragen stellen. Ich denke da an vor zwei Jahren, als ich hier vor Abiturklassen einer katholischen Mädchenschule gesprochen habe. Eine Gruppe Mädchen kam nachher zu mir, und sie sagten: „Danke! Sie haben von ethischen Fragen und Problemen gesprochen, die sich uns stellen. Hier spricht man nur davon, ob wir das Abitur bestehen oder nicht." Ich habe mit vielen meiner Kollegen seit Jahren Streit gehabt, weil die sagen, Professoren hätten lediglich Wissen zu vermitteln, und ich sage, das ist nur ein Teil der Aufgabe. Der andere Teil ist, dass ich meine Studenten zum Beispiel darauf aufmerksam mache, dass ihnen nicht viel Zeit bis zu ihrem Tod bleibt und dass ihnen freisteht, was sie mit ihrer Zeit anfangen.

DIE: Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland zur Zeit eine wiederbelebte Debatte um Bildungspolitik und gleichzeitig auch in der Praxis einen Trend zur Privatisierung in der Bildung. Gibt es so einen Trend in Frankreich auch?

A.G.: Ja, das hat es immer gegeben. Nur ein Beispiel: In meinem Institut du Politique ist die formation continue, die Weiterbildung, erstens das Einzige, was wirklich Geld einbringt, und zweitens hat es sich so entwickelt, dass wir jetzt jedes Jahr 400 bis 500 Kurse haben. Das gilt für alles, also auch für technische Kurse. Aber ich mache da regelmäßig Veranstaltungen mit Reflexionen über Politik und Ethik. Jetzt habe ich für 160 Polizisten Reflexionen über deren Beruf gemacht. Das wird auch in allen deutschen Polizeischulen gemacht. Und es gibt da eine große Nachfrage.

DIE: Sehen Sie eine Gefahr, dass sich in einer Wissensgesellschaft neue Segmentierungen in der Gesellschaft auftun?

A.G.: Unbedingt. Obwohl jetzt einer der Vorteile des Lernens per Internet darin besteht, dass man ausbrechen kann. Der Trend zur Anhäufung von viel unbedeutendem Wissen ist ziemlich furchtbar. Aber das ist vor allem für die Geisteswissenschaften von Bedeutung. Die Physiker und auch die Informatiker stellen sich diesen Fragen.

DIE: Wenn sich solche Begriffe, wie wir sie derzeit in Deutschland diskutieren - „Informationsgesellschaft", „Wissensgesellschaft", „Lerngesellschaft" - aneinander reihen, dann fehlt eigentlich in der ganzen Bezeichnung und Zuschreibung für die Gesellschaft der Begriff „Bildungsgesellschaft". Das sagt niemand.

A.G.: Ja, „Lerngesellschaft" gefällt mir sowieso nicht, denn Lernen ist immer ein bisschen traurig. Ich würde sagen, alles sollte zur Freude führen.

DIE: Wir veranstalten in unserem Institut im Dezember ein öffentliches Forum zum Thema „Zukunftsfelder der Weiterbildung", an dem Wissenschaftler, Praktiker und Weiterbildungspolitiker teilnehmen. Drei Zukunftsfelder haben wir in der Veranstaltungsvorbereitung herauskristallisiert: einmal alles, was mit neuen Informationstechnologien, neuen Medien zu tun hat, zweitens die Veränderungen des Verhältnisses zwischen Arbeits- und Privatleben mit dem Schlagwort „Patchwork-Biografie", mit der nicht mehr linearen Berufsbiografie, sondern einer, die durch Brüche wie Arbeitslosigkeit, Mobilitätsschübe
etc. unterbrochen und gekennzeichnet ist. Und ein drittes Feld ist das Zusammenleben der Menschen, auch in einer multikulturellen Gesellschaft. Halten Sie diese drei Felder für richtig gewählt?

A.G.: Ja, aber für mich ist das Wesentliche das dritte. Ich liebe allerdings das Wort „multikulturelle Gesellschaft" nicht, denn - und da gebe ich Herrn Merz recht - wir haben eine Leitkultur. Das geht von Nathan dem Weisen über Hambach bis zum Grundgesetz. Das ist unsere gemeinsame Kultur. Und jeder, der zu uns kommt, hat sich den Gesetzen dieser Kultur zu unterwerfen. Die Versklavung der Frau ist gegen unsere Kultur. Vor drei oder vier Jahren hat unser Oberster Gerichtshof bestätigt, dass ein Mann zu Recht verurteilt wurde, weil er seine Frau verstoßen hatte, und er meinte, das dürfe er als Mohammedaner. Das Gericht sagt da, das darf er nicht in der französischen Kultur. Ich fürchte das Wort „multikulturell", weil das Ghettoisierung, aber auch Selbstghettoisierung mit sich bringt. Und bei uns wie bei Ihnen bin ich dafür, dass die Mädchen - nicht die Lehrerinnen - Kopftuch tragen sollen und dürfen, wenn dabei nicht ein Druck auf die nicht-kopftuchtragenden moslemischen Mädchen entsteht. Denn in der Schule werden sie dazu sozialisiert, eben nicht multikulturell zu leben. Wenn sie ausgestoßen werden, gehen sie in die islamischen Schulen. Es gab einen französischen Schriftsteller, der sagte: „Ich verlange von euch die Freiheit im Namen eurer Prinzipien, und ich verweigere sie euch im Namen meiner Prinzipien." So sollte es nicht mehr sein im Islam.

DIE: Sie sagten: An der Stelle stimmen Sie dem Begriff der „Leitkultur" zu. An welcher Stelle stimmen Sie denn nicht zu?

A.G.: Wenn Herr Merz das Wort erwähnt, heißt das ungefähr: Wir müssen für den Stammtisch verständlich sein, wir Deutsche haben eine Kultur. Die Franzosen sind da viel schlimmer. Die Ausländer müssen sich dann anpassen an unsere Kultur. Da ist man letzten Endes so weit wie in Bayern, wo die Sprachprüfung für Ausländer auf einer Ebene steht, dass ein Durchschnittsdeutscher sie auch nicht bestehen würde. Und dann fordert man also die Leitkultur. Das ist dann das, was man im Durchschnitt in Deutschland weiß und was die anderen wissen sollten. Aber die meisten Deutschen wissen es auch nicht.

DIE: Gibt es eine solche Begrifflichkeit in Frankreich?

A.G.: Also in Frankreich würde man sagen, die französische Kultur ist besser als alle anderen! Ich würde sagen, der französische Hang ist die Selbstüberschätzung und der deutsche die Selbstbemitleidung. Der beste belgische Witz - was bei Ihnen die Ostfriesenwitze sind, sind bei uns die belgischen Witze -, der lautet: Man kaufe Franzosen für das, was sie wert sind, und verkaufe sie für das, was sie sich dünken! Also, das Beispiel Frankreich ist da nicht sehr gut. Außer in unserem Erziehungssystem, wo noch der gegenseitige Respekt beigebracht wird, nicht überall, aber doch weitgehend, in der Grundschule und in der Vorschule, wo man den ganzen Tag über behütet wird und wo man auch lernt, zusammenzuleben. So sind beispielsweise von unseren fünf Enkelkindern vier in der Grundschule. Sie bekommen alle sechs Wochen Zeugnisse ausgehändigt, nicht nur für das, was sie leisten, sondern auch dafür, wie sie in der Gemeinschaft sind. Und das sind Klassen, wo gut die Hälfte nicht französisch ist. Wir sind in einer Gemeinschaft, wir kümmern uns um Schwächere: Das - finde ich - ist Bildung.

DIE: Das heißt also, eine Gesellschaft, die gemeinsame Grundlagen hat und die auf eine Verständigung von unterschiedlichen kulturellen Akzentuierungen, Identitäten aus ist?

A.G.: Ja, aber ich habe viele Identitäten. Ich bin Mann und nicht Frau. Es verschafft mir in der französischen Gesellschaft unverdiente Vorteile, in Deutschland auch. Ich bin Beamter und kann nicht arbeitslos werden. Das ist eine ganz besondere soziale Identität. Ich bin alt. Meine vier Söhne arbeiten für mein Ruhestandsgeld. Meine Identität schlechthin ist die Summe aller Identitäten plus etwas, was ich bin. Ich kann ein anderes Beispiel geben: Mein Vater war in Frankfurt Kinderarzt, Professor an der Uni, Leiter eines Kinderkrankenhauses, SPD-Wähler, Freimaurer und israelitischer Konfession. Hitler hat seine Identität auf die jüdische reduziert. Aber es gibt auch die Selbstabkapselung, wenn jemand sagt: ich und wir, und dann kommen erst die anderen. Das ist die Gefahr beim Wort „multikulturell".

DIE: Was kann Bildung zu einem vernünftigen Zusammenleben beitragen?

A.G.: Nun, ich denke, Goethe hat ein großes Wort gesagt: Die größte Tugend sei die Ehrfurcht. Damit bin ich einverstanden, vorausgesetzt, die Ehrfurcht wird definiert als Ehrfurcht vor den Schwächeren. Was mir in Deutschland besonders auffällt momentan bei all den Ausschreitungen und Grausamkeiten: Es geht ja nicht nur gegen Ausländer, es geht gegen Schwache. Es werden Körperbehinderte verprügelt! Sprachgewandte Intellektuelle sollten die Sprachschwachen besser respektieren, ebenso wie die Professoren ihre Studenten besser respektieren sollten! Dazu auszubilden, andere zu respektieren, scheint mir sehr wesentlich zu sein. Und nicht nur in der Besonderheit, sondern da, wo sie eben anders sind, weil sie nicht dieselben Chancen gehabt haben.

DIE: Ich will noch einmal auf das Zusammenleben mit anderen zurückkommen. Es gibt eine These, die besagt, der zunehmende Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik sei auch eine Konsequenz der Europäisierung.

A.G.: Das ist natürlich totaler Quatsch. Ja, ich kann es nicht höflicher ausdrücken. Hier eine kleine Geschichte: Vor fünfzig Jahren gab es bei uns eine ganz hervorragende soziologische Untersuchung in einer kleinen Stadt in Südfrankreich, in Vienne sur le Rhone. Bei 500 Grundschülern wurde zum Beispiel die Frage gestellt: „Sind die ... intelligent?" Und alle schrieben: die Franzosen. Und dann kam die Frage: „Mit wem
wollt ihr nicht in die Schule gehen?"
Und am Schluss der Liste: Nicht mit Juden (es gab keine Juden in der Stadt), nicht mit Schwarzen, nicht mit Arabern, nicht mit Karoliern. Was sind Karolier? Die gab es nicht, sie sind erfunden worden von den Soziologen. Sie wollten sehen, ob die Kinder auf etwas reagieren, was sie nicht kennen konnten, weil es sie nicht gab. Totale Ablehnung! Und das weist nicht darauf hin, dass man gegen die Karolier war, sondern dass man das, was man nicht kennt, ablehnt. Und je weniger man davon weiß, desto mehr lehnt man es ab. Nehmen Sie junge Leute aus der ehemaligen DDR, die als erste Erfahrung der demokratischen Grundordnung die Arbeitslosigkeit gehabt haben. Warum sollten die an eine Grundordnung glauben? Bei uns gibt es Tausende von jungen Leuten, die Franzosen, aber nordafrikanischen Ursprungs sind. Die leben in Vororten unter Bedingungen, wo sie nie rauskommen. Warum sollten die an einen Rechtsstaat glauben?

DIE: Wenn ich Ihr Buch „Deutschland in Europa" am Schluss richtig verstanden habe, dann erinnern Sie stark daran, dass man zu Werten erziehen muss. Glauben Sie, dass so etwas auch in der Weiterbildung mit Erwachsenen eine Rolle spielt?

A.G.: Ja. Man soll davor auch keine Angst haben. Es stellen sich doch die meisten Menschen Fragen. Und wenn wir sagen, diese Fragen können wir nicht behandeln - zum Beispiel, weil sie privat sind - dann empfinde ich das auch wieder als eine Abdankung. Warum lebe ich? Was mache ich mit meinem Leben? Ich habe da eine atheistische Antwort, aber die Fragen stellt sich jeder früher oder später. Und die sie sich nicht stellen, müssen dazu gebracht werden, sich dazu zu stellen. Das ist Pädagogik, auch mit Erwachsenen. Ich habe neulich auf der 100-Jahr-Feier der Handwerkskammern gesprochen, und in diesen Festreden spreche ich wie am Ende meines Buches: Es geht ja nicht nur darum, dass ihr nur in eurem Fach ausgebildet werdet. Und dann die große traditionell deutsche Gefahr, die pietistische Verwechslung von Beruf und Berufung: Das kann nicht genügend bekämpft werden.

DIE: Wie meinen Sie das in diesem Zusammenhang?

A.G.: Ich erinnere mich noch an den Film „Heimat" von Edgar Reitz über das deutsche Dorf im Hunsrück, wo der Protagonist nach dem Zweiten Weltkrieg ungefähr die Frage stellt: „Was haben denn diese guten Leute getan, dass sie es verdient haben, diese Katastrophe zu durchleben?" Was sie getan haben? Sie haben die Politik anderen überlassen. Und sie haben im obrigkeitlichen Sinn gesagt: Die Obrigkeit weiß schon, was sie tut. Ich bin ein braver Mann, ich übe meinen Beruf gut aus, bin nett zu meinen Kindern und gut zu meiner Frau. - Übrigens, ich habe lange über Spener gearbeitet. In den zehntausend Seiten von Briefen habe ich einmal etwas über seine Frau gefunden, die ihm elf Kinder geschenkt hat: „Sie hat mich nie gestört", schreibt er seinem Freund am Ende seines Lebens.

DIE: Ich komme noch auf ein anderes Buch von Ihnen zurück: „Politik erklären". Das ist älter, aber ...

A.G.: Ich habe das Glück in meinem Leben, dass ich mich seit dem Alter von zwölf oder dreizehn Jahren in meinen Grundpositionen nie verändert habe. Und deswegen habe ich manchmal eben Schwierigkeiten, Leute zu verstehen, die sich andauernd ändern, auch politisch. Meinen Studenten habe ich dreißig, vierzig Jahre lang gesagt: Ich bekomme Halsweh wegen euch: Solange ihr Studenten seid, muss ich nach links blicken, um euch zu sehen. Kaum seid ihr hier raus, muss ich nach rechts blicken.

DIE: Es gibt viele Menschen, die wünschen, dass man sich stärker in der politischen Weiterbildung engagiert. Und gerade aufgrund von militantem und menschenverachtendem Rechtsextremismus wird das auch wieder aktuell. Ich sehe da - vorsichtig gesagt - auch eine Funktionalisierung von politischer Bildung. Oder zynisch formuliert: Immer dann, wenn etwas Schlimmes passiert, ruft man nach der politischen Bildung als Feuerwehr, aber ansonsten interessiert sie wenig. Wie können wir denn in einer komplexeren Gesellschaft, wo nichts mehr sicher ist, was früher einmal sicher war, wo sich im privaten Bereich und im beruflichen Umfeld, im politischen Umfeld eine ungeheure Komplexität auftut, Politik erklären?

A.G.: Also, zuerst einmal meine Definition von Politik: Die Politik ist für mich das Edelste, was es in einer Gesellschaft gibt. Das sind die Ziele und die Mittel, die sich eine Gemeinschaft gibt, um zu versuchen, die eigene Zukunft zu meistern. Politik heißt zuerst einmal: Wie wird meine Zukunft gestaltet, und darf ich da mitmachen? Und inwiefern mache ich da mit? Alles was ich tue, macht mit. Wenn ich nämlich nicht wähle, mache ich auch mit. Und indem ich meinen Nachbarn beschimpfe, mache ich auch mit.

DIE: Dennoch haben wir Probleme, Menschen für politische Fragen in der Weiterbildung zu interessieren. Liegt das an der Art der Sprache?

A.G.: Ich habe Ihre Zeitschrift noch nicht gelesen. Ich hoffe, sie ist in Deutsch geschrieben und nicht in Bildungsdeutsch. Denn hier gibt es zum Teil eine ganz furchtbare pädagogische Sprache, die kein Mensch in Frankreich mehr versteht. Bei den Soziologen und Politologen in Deutschland hat es sich ein bisschen gebessert. Einer der Gründe, warum ich so oft nach Deutschland eingeladen werde, ist, dass ich deutsch spreche und nicht politologisch und nicht soziologisch.

DIE: Wenn Sie auf das fachsprachliche Vermittlungsproblem hinweisen, dann - habe ich Sie da richtig verstanden - ist das ein versteckter Ratschlag an die Pädagogen, die Sprache der Menschen zu sprechen?

A.G.: Nein, es ist keine Abdankung, auch da nicht. Wenn ich zum Beispiel mit Jugendlichen spreche - ich habe ihnen gesagt: Ich hoffe verständlich zu sein, aber ich werde nicht eure Sprache sprechen. Es gibt dafür einen Grund, denn wenn ich eure Wörter benutze, dann bin ich nicht mehr ich. Die Kinder lernen übrigens in unserer vornehmen Kulturgesellschaft, zweisprachig zu sein. Was sie auf dem Schulhof sprechen, ist nicht das, was sie zu Hause sprechen.

DIE: Sie haben mehrfach in Bezug auf Toleranz den Begriff „Abdankung" benutzt. Können Sie diesen Begriff noch einmal erläutern?

A.G.: Was ist ein Erzieher, der nicht erzieht? Was sind Eltern, die sagen: Wir lassen sie völlig gewähren? Ich sage nicht, dass sie sie einsperren sollen, ich sage nicht, dass sie sie peitschen sollen. Aber sie sollen sich doch die Frage stellen: Üben wir einen Einfluss aus? Im Allgemeinen wird der Einfluss ausgeübt, indem man etwas vorlebt. Und ich sage mal so: Ein Lehrer und Erzieher sollte freudig sein. Denn das ist ansteckend, das hilft.

DIE: Freudig sein. Vorhin sagten Sie: die Menschen ernst nehmen, die Menschen stärken. Worin besteht denn für Sie Bildung, die die Menschen darin unterstützt, die Zukunft der Gesellschaft vernünftig zu gestalten?

A.G.: Zuerst einmal heißt das, den Wert der Vernunft herausstellen. Das heißt, alles, was Aberglauben ist, bekämpfen, und wir sind in einer sehr abergläubischen Gesellschaft. Da bin ich völlig auf der Seite von Priestern und Pfarrern, die sagen, es glaubt keiner mehr an Religion, aber alle spielen im Lotto oder fragen nach Horoskopen bei der Zeitung und so weiter. Bei uns hat es sich herausgestellt, dass François Mitterand, Präsident der Französischen Republik, eine Wahrsagerin hatte, die ihn beriet. Ich will sagen: Die Vernunft ist wichtiger. Vernunft aber heißt - und da bin ich wieder beim Beginn - zuerst einmal Distanz zu sich selbst. Und ich zitiere immer Kants Definition der Aufklärung. Die geht völlig in diese Richtung, die Distanznahme zu sich selbst, um sich nichts auferlegen zu lassen. Also zu seiner eigenen Umgebung Distanz entwickeln. Wenn ich eine Formel hätte als Erzieher, wäre das Ganze einfacher. Aber die Antwort ist schwierig. Wie kann ich befreien, ohne zu entwurzeln? Entwurzeln heißt gesellschaftslos machen, das ist Irrsinn. Aber befreien heißt die Distanznahme dazu. Und das ist sehr schwierig. Das ist etwas, was zum Beispiel in Deutschland etwas zu viel gemacht worden ist, weil das negative Bild der Deutschen von draußen kam, und man musste sich dazu stellen. Aber zum Beispiel die Selbstdistanz der allzu pro-israelischen Juden ist noch nicht erfolgt. Die Selbstdistanzierung von Serben und Kroaten ist nicht erfolgt. Und zum Abschluss vielleicht die Geschichte, die ich gerne erzähle. Als mein Buch „Verbrechen und Erinnerung" auf französisch in der Originalausgabe 1989 erschien, war noch kein Krieg in Jugoslawien. Ich bekam zwei Briefe - einen von einem kroatischen katholischen Priester und einen von einem serbischen orthodoxen Priester, die ich sehr brutal beantwortet habe, weil beide mir vorwarfen, ich hätte zu wenig von den Verbrechen gesprochen, die gegen ihre Gemeinschaft von den anderen verübt worden seien. Ich habe beiden geantwortet: Wenn ihr wähnt, Christen zu sein, solltet ihr eure Gemeinschaft darüber aufklären, was in deren Namen der anderen zugefügt worden ist! Das ist Aufklärungsarbeit, das ist Vernunft.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Dezember 2000

Alfred Grosser, Klaus Meisel, Distanznahme zu sich selbst ist das wichtigste Bildungsziel!.
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/12001/gespraech.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp