DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

„Das Reale im Virtuellen und das Virtuelle im Realen entdecken!"

Gespräch mit Dr. Mike Sandbothe über über den scheinbaren Gegensatz zwischen virtuellen und realen Welten

Dr. Mike Sandbothe ist Privatdozent für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (www.uni-jena.de/ms; mike.sandbothe@uni-jena.de). Derzeit vertritt er eine Professur für Medienpädagogik an der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Sprach-, Zeichen- und Medienphilosophie, Medienethik, Medienpädagogik, Pragmatismus, Zeit- und Wissenschaftsforschung. - Das DIE-Gespräch mit Mike Sandbothe (M.S.) über die Bedeutung und das künftige Verhältnis von virtuellen und realen Welten, ethische Fragen sowie die Aufgaben von Weiterbildung führten Svenja Möller und Richard Stang (DIE).

DIE: Herr Sandbothe, was verstehen Sie unter dem Begriff „Virtualisierung"?

M.S.: Lassen Sie mich zunächst sagen, was darunter im Allgemeinen verstanden wird. Zumeist meinen wir mit „Virtualisierung", dass in den derzeit global entstehenden Wissensgesellschaften künstliche Welten eine zentrale Rolle spielen, die aus digital prozessierten Daten bestehen. Als Philosoph verbinde ich mit dem Begriff noch andere Assoziationen. Begriffsgeschichtlich steckt in „Virtualität" das lateinische Wort virtus, also Tüchtigkeit, Potenz, Möglichkeit. Dadurch kommt eine Bedeutung von „Virtualität" ins Spiel, die heute nicht ausreichend berücksichtigt wird, mir aber sehr wichtig erscheint: Virtuelle Welten sind Räume, die Möglichkeiten erschließen! Das Virtuelle, verstanden als das Potenzielle oder Optionale, stellt ein alternatives Szenario dar, durch das die schon aktualisierte Wirklichkeit in Bewegung gebracht werden kann. Wichtig scheint mir, diese virtuellen Räume als Experimentierfelder zu sehen, die ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern in Veränderungsmöglichkeiten für die reale, also die bereits aktualisierte und insofern scheinbar nicht mehr virtuelle Welt haben.

DIE: Sie sprechen von der realen Welt als der „scheinbar nicht mehr virtuellen Welt". Wie ist das zu verstehen?

M.S.: Die reale Welt ist eben nicht im eigentlichen Sinne „nicht virtuell", sondern wenn man die philosophische Tradition im Blick hat, dann ist seit Aristoteles klar, dass das Wirkliche selbst immer Potenziale seiner Weiterentfaltung in sich enthält. Das Wirkliche im aristotelischen Sinne ist also ein Prozess der Aktualisierung von Potenzialen, der nie an ein Ende kommt. Wirklichkeit hat man eigentlich erst verstanden, wenn man ihre prinzipiell virtuelle, entwicklungshafte Dimension, ihre prozessuale Struktur verstanden hat. Daher ist die Lehre, die wir als Gesellschaft aus der neuen Bedeutung virtueller Welten ziehen können, die, dass Wirklichkeit in einem größeren Maße gestaltbar ist, dass unser Umgang mit Wirklichkeit pragmatischer sein kann, als er es heute ist.

DIE: Das bedeutet aber auch, dass Sie das nicht nur auf die technischen Apparate bezogen sehen, sondern mit dem Begriff einen grundsätzlichen Aspekt von menschlicher Gestaltungsfähigkeit verbinden?

M.S.: Richtig. Ich halte es für wichtig, in den aktuellen Debatten diesen traditionellen, philosophischen Begriff der virtualitas, der potentia bzw. der aristotelischen dynamis stärker ins Spiel zu bringen. Dabei geht es mir nicht um diese alteuropäischen Begriffe. Mit ihrer Hilfe lässt sich nur gut klarmachen, dass das Virtuelle eben schon Bestandteil unseres alltäglichen Verständnisses von Wirklichkeit ist und dass es darauf ankommt, das Virtuelle im Realen und das Reale im Virtuellen zu erkennen und miteinander zu verflechten. Dazu können uns die neuen Virtualitätstechnologien Anstöße geben.

DIE: Sind für Sie Alltagsphänomene beschreibbar, die Sie da einordnen würden?

M.S.: Ein ganz grundlegendes Phänomen der Bedeutung von Virtualität lässt sich dadurch verdeutlichen, dass wir uns als Menschen in gewisser Weise je schon als Möglichkeitswesen entworfen haben. Das heißt, wir verstehen uns - etwa in dem, was wir jetzt gerade tun: uns miteinander unterhalten, ein Gespräch über ein bestimmtes Thema in einem bestimmten Kontext führen - immer schon von Zukunftsentwürfen her, also von virtuellen Möglichkeiten unserer eigenen Lebensgestaltung, von Berufszielen, von Hoffnungen und Wünschen her, die unser Handeln mitprägen. Wir realisieren das, was wir hier und heute tun, vor einem Horizont von Virtualität, also von optionalen Zukunftsentwürfen. Es ist eine Grundverfassung des Möglichkeitswesens Mensch, dass wir uns in unserer realen Gegenwart eigentlich nur situieren und verstehen können, wenn wir schon einen Entwurf gemacht, uns einen Horizont eröffnet haben. Meine eigene Identität konstituiert sich von einem Virtuellen, von einem Zukünftigen, von einem noch nicht Realen her.

DIE: Wenn man das jetzt auf den technischen Kontext bezieht: Welche Perspektiven eröffnen sich daraus für die Bereiche von Identitätsbildung und Kommunikation?

M.S.: Das lässt sich sehr schön an den jetzt schon weit verbreiteten interaktiven Kommunikationsdiensten verdeutlichen. Ich meine die Abenteuer- und Lernlandschaften der MUDs (Multi User Dungeon/Dimension) und MOOs (MUD Object Oriented). Dabei handelt es sich um einfache schriftbasierte Kommunikationsformen, in denen phantastische Welten entworfen oder reale Welten nachgebildet werden. Das geschieht in einer optionalen Form. Die MUD- und MOO-Welten werden im digitalen Simulationsraum permanent in Bewegung gehalten. In dem so entstehenden virtuellen Kommunikationsfeld werden Umgangsformen, Bekanntschaften und Beziehungen ausprobiert, die im realen Raum so nicht hätten entstehen können. In den virtuellen Kommunikationslandschaften können wir mögliche Versionen unserer selbst, also mögliche Identitäten spielerisch entwickeln. Es ist eine wichtige Aufgabe unserer Bildungsinstitutionen, den Menschen zu zeigen, wie diese virtuellen Welten Bestandteil ihrer eigenen Realität werden können. Das Spiel mit alternativen Identitäten im Netz muss keine „Zwei-Welten-Geschichte" sein. Das wird leider häufig so verstanden und auch praktiziert: Da ist die virtuelle und da ist die reale Welt und beides hat nichts miteinander zu tun. Das hieße dann: Im Virtuellen mache ich das, was ich im Realen nicht geschafft habe, und leide dann am Realen, weil das Virtuelle so schön ist. Statt das Verhältnis von Realität und Virtualität als „Zwei-Welten-Geschichte" zu verstehen, geht es vielmehr darum, in Bildungskontexten zu lernen, wie man im virtuellen Raum etwas ausprobiert, was man im realen Raum und in realen Gemeinschaften dann auch umsetzen kann.

DIE: Haben Sie da ein Beispiel?

M.S.: Sherry Turkle erzählt in ihrem berühmten Buch „Leben im Netz" die Geschichte von Ava. Ava ist eine 30-jährige Studentin, die bei einem Autounfall ihr rechtes Bein verloren hat. In ihrem realen Leben fiel es ihr seither schwer, Freundschaften zu Männern und vor allem sexuelle Beziehungen aufzubauen. Im Netz jedoch hat sie gelernt, sich als ein Mädchen zu beschreiben, das eine Beinprothese hat. Auf dieser Basis konnte sie in verschiedenen MUDs virtuelle Freundschaften zu Studenten entwickeln und als einbeiniger „character" virtuelle sexuelle Erfahrungen machen. Das hat ihr dabei geholfen, auch im wirklichen Leben ihre Behinderung anzuerkennen und auch außerhalb des Netzes wieder glückliche sexuelle Beziehungen aufbauen zu können. Das ist ein Beispiel, durch das sehr deutlich wird: Es gibt diese Formen der pragmatischen Rückbindung virtueller Erfahrungen in die reale Identität.

Realität versus Virtualität?

DIE: In der ganzen Mediendiskussion kommt der Ethikaspekt zu kurz: Auf der einen Seite wird „Innovation" ganz hoch gepriesen, Medien sollen genutzt werden, auf der anderen Seite wird nicht bedacht, dass darin auch Probleme liegen könnten. Wo haben Sie ethische Bedenken?

M.S.: Ich neige dazu, mich - neben dem sozusagen restriktiven Ethikbegriff, der immer verbunden wird mit Gefahren und Risiken - auch für einen positiven Ethikbegriff auszusprechen, der schon von Aristoteles in seiner „Nikomachischen Ethik" entwickelt worden ist. Ethik heißt hier, sich mit den Bedingungen zu befassen, die erfüllt sein müssen, damit Individuen und Gesellschaften ihre Möglichkeiten optimal entfalten können. Das ist im Grunde auch der Begriff der freiheitlich-liberalen Ausrichtung demokratischer Kulturen, auf den man sich in der Moderne gesellschaftlich zunehmend einigen konnte; also Sicherstellung der Entfaltungschancen von möglichst vielen Menschen, ohne dass dadurch die Enwicklungsmöglichkeiten anderer Menschen eingeschränkt werden. Wenn man diesen positiven Begriff von Ethik zugrunde legt, dann ist da eine ganz enge Verbindung zu dem, was ich anfangs sagte. Wenn wir eine Technologie haben, die es uns erlaubt, Möglichkeiten unserer selbst auf neue Weise spielerisch-virtuell auszutesten, ist das natürlich ein Schritt voran mit Blick auf die Realisierung von Formen guten Lebens, eine positive ethische Dimension. Und jetzt kom
me ich zu dem rigideren Ethikbegriff, auf den Sie anspielen. Wenn man mehrere Versionen seiner selbst kennen lernen kann, also mehr von dem zulässt und durcharbeitet, was man mit Freud das „Unbewusste" nennen könnte, eröffnet sich damit ja dieser ganze Raum verdrängter möglicher Versionen meiner selbst. Wenn es nicht gelingt, diese unbewussten Identitäten auf eine sinnvolle und auch für die reale Welt lebbare Weise mit der realen Identität bewusst zu vernetzen, kann es enorme Probleme in der realen Welt geben. Internetsucht ist ein konkretes Phänomen von kompensatorischen Nutzungsformen des Netzes. Sie entsteht dann, wenn Menschen eben nur in der virtuellen Welt diese anderen Versionen ihrer selbst realisieren können und gar keine Chance sehen, diese untergründigen Aspekte ihres eigenen Ichs auch in der realen Welt umzusetzen. Diese Schizo-Struktur, die in der Internetsucht zum Ausdruck kommt, wird natürlich auch durch manche Verwendung des Virtualitätsbegriffs (z. B. in den Medien) unterstützt. Da wird ja immer wieder die Zwei-Welten-Story erzählt: Realität versus Virtualität. Diesem dualistischen Verständnis von Realität und Virtualität als zwei beziehungslosen Reichen, die nichts miteinander zu tun haben, gilt es entgegenzuwirken. Das ist eine ganz zentrale Aufgabe von Bildungs- und Weiterbildungsinstitutionen.

DIE: Worin liegt deren Aufgabe genau?

M.S.: Ich bin der Ansicht, dass die Bildungs- und Weiterbildungsaufgaben angesichts der tiefgreifenden Dimensionen, die sich mit den neuen Medien verbinden, nicht allein in der Vermittlung von Wissen, also dem sogenannten „lebenslangen Lernen" bestehen. Es sollte vielmehr zugleich darum gehen, Menschen, welche die neuen Medien nutzen, mit einer Haltung und mit einem Verhältnis zu sich selbst auszustatten, das es ihnen erlaubt, diese neuen Potenziale auch vernünftig für ihre eigene Wirklichkeit und für die lokalen Gemeinschaften, in denen sie leben, zu nutzen. Das ist Medienkompetenz im eigentlichen und pädagogisch anspruchsvollen Sinn: die Fähigkeit, das Reale im Virtuellen und das Virtuelle im Realen zu entdecken. Aus diesem Grund setzt die Vermittlung von Medienkompetenz im Umgang mit den neuen Medien Face-to-face-Kommunikation als zentralen Bestandteil der Unterrichtssituation voraus. Durch die direkte Rückkopplung mit der Face-to-face-Kommunikation lässt sich auf anspruchsvolle Art und Weise einüben, wie virtuelle Erfahrungen, die wir in einer zugleich auch realen und lokalen Gruppe machen, in diese Gruppe und in die außerhalb des Netzes existierenden Identitäten und Anerkennungsverhältnisse zurückgebunden werden können.

DIE: Worin liegen dann die Qualitäten der Neuen Medien?

M.S.: Viele Formen der Präsentation von Wissen durch digitale oder hypertextuelle Anwendungen sind so strukturierbar, dass auch viel stärker individuelle Eigenheiten in Lernprozessen umgesetzt werden können. Man ist nicht in ein vorgegebenes Schema mit einem einzelnen Lehrer oder einer einzelnen Lehrerin gepresst. Man hat - wenn es ein gutes Hypertext-Programm ist - die Möglichkeit, auch seine individuellen Lernpfade zu entwickeln, seine Fähigkeiten sehr spezifisch zu schulen. Also da ist auf der Werkzeugebene ein enormes Potenzial. Aber der ganze Bildungsmarkt, der sich jetzt im Moment entwickelt, ist mir in gewisser Hinsicht zu werkzeughaft. Wenn ich den Begriff „pragmatisch" verwende, habe ich sehr stark den amerikanischen Pragmatismus von John Dewey im Hinterkopf, der ja auf die Nützlichkeit von Wissen und von Wissenswerkzeugen für die Gestaltung demokratischer Formen des Zusammenlebens zielte. Was dem in Deutschland vorherrschenden Pragmatismus derzeit noch fehlt, ist das Bewusstsein für die Bedeutsamkeit nicht nur kurzfristig-wirtschaftlicher, sondern auch und vor allem nachhaltiger, d. h. politisch-demokratischer Nützlichkeitserwägungen. Die kommen mit ins Spiel auf dieser tiefgreifenden, kulturellen Ebene. Ich kann die Neuen Medien für mich und für die Gestaltung eines guten Lebens nur dann wirklich nutzen, wenn ich auch die beschriebene Tiefendimension zu bewältigen lerne, die in dem inneren Zusammenhang von Realität und Virtualität zum Ausdruck kommt. Dafür sind in den Bildungs- und Weiterbildungsinstitutionen andere Anforderungen von Bedeutung als nur die werkzeughafte Nutzung von Lernprogrammen und Tele-Teaching.

DIE: Wozu - denken Sie - sollten die Neuen Technologien in diesem Zusammenhang genutzt werden?

M.S.: Die zentrale Aufgabe von Bildung und Weiterbildung besteht darin, Zusammenhänge zwischen virtuellen und realen Formen des Lehrens und Lernens herzustellen. Man kann das Netz ja sehr schön nutzen, um Gemeinschaften zu entdecken, herzustellen und weiterzuentwickeln. Wichtig ist dabei, dass es Brücken gibt, welche die Rückbindung dieser im Netz entstehenden Gemeinschaften an reale und lokale Kontexte ermöglichen. Dieses Wechselspiel zwischen virtueller und realer Gemeinschaft konkret umzusetzen, ist auch für die Weiterbildung eine wesentliche Aufgabe. Meine eigene Erfahrung in der Lehre ist die, dass virtuelle schriftbasierte Kommunikationsformen mit Blick auf den Face-to-face-Unterricht zu einer gewissen Demokratisierung der Interaktion führen können. Man lässt sich nicht mehr so stark von den klassischen Autoritätsindikatoren leiten, welche die alltägliche Kommunikation prägen, was Alter, Aussehen, Kleidung, den selbstbewussten Blick oder die laute Stimme angeht. Es setzt sich dann viel mehr durch, was Qualität hat, was ein Argument und für die Gruppe wichtig ist, was die Diskussion voran bringt.

DIE: Inwiefern haben Sie erfahren, dass dieser Effekt tatsächlich eintritt?

M.S.: Insofern, als Studierende, die sonst kaum eine Stimme hätten im realen Seminargespräch, jetzt ernster genommen werden, weil man weiß, was sie zu schreiben hatten in der schriftbasierten Interaktion. Leute mit intellektuellen Potenzialen haben oft nicht die Fähigkeit, sich in einem Seminar zu artikulieren. Sie artikulieren sich aber unter Umständen in schriftbasierten Kommunikationsformen, wenn man diese in der Lehre einsetzt. Da entwickelt sich etwas in der virtuellen Interaktion, das in der realen Welt so keine Artikulation finden würde. Und die Aufgabe des Lehrers ist es, diesen Studierenden zu helfen, auch in der realen Kommunikation ihre Stimme zu finden. Das ist genau so ein Beispiel, wenn einer in schriftlich basierter Kommunikation merkt: „Oh, meine Güte, es wirkt ja, es kommt ja an. Ich liege ja mit meinen Gedanken gar nicht so daneben, wie ich dachte. Ich kann ja die Gruppe richtig begeistern!" Diesen Menschen dazu zu verhelfen, das im Kontext der virtuellen Kommunikation ausgebildete Selbstbewusstsein auf das reale Gespräch unter Anwesenden auszuweiten - das ist eine ganz wichtige Aufgabe, die damit zu tun hat, den vermeintlichen Zwei-Welten-Bruch zwischen Virtualität und Realität aufzuheben. Derzeit besteht in Deutschland allerdings die Gefahr, dass man diese vermeintliche Kluft stattdessen bildungspolitisch forciert, indem man reale und virtuelle Bildungsprozesse rigide voneinander trennt oder womöglich - wie manchen besonders sparsamen Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikern das vorschwebt - die realen durch die virtuellen Bildungsprozesse ersetzt.

DIE: Sehen Sie die Gefahr der Trennung in zwei Welten auch bei einer technischen Weiterentwicklung in Richtung dreidimensionale Welten, in denen ich agieren kann?

M.S.: Auch wenn die dreidimensionalen Welten einmal effektiver nutzbar sind - im Moment läuft das ja alles noch sehr langsam und sehr wenig auf einer Basis, die man breitenwirksam nutzen könnte -, aber angenommen, die virtual reality technology im engeren Sinne setzte sich mehr durch, dann wird es immer noch einen Unterschied geben zwischen der realen Taktilität und der simulierten Taktilität, also zwischen der realen Wahrnehmung und der virtuellen Wahrnehmung. Es wird weiterhin um die Frage gehen, wie man diese verschiedenen Wahrnehmungsformen zueinander ins Verhältnis setzen kann. Zugleich werden auch die schriftbasierten Räume weiterexistieren, wie ich sie vorhin beschrieben habe. Ich halte diese schriftbasierte Kommunikation wirklich für eine sehr spannende Form, nicht nur für eine Vorform einer dann mal ausgereiften 3-D-Audiovisualität, sondern für etwas, das einen großen Eigenwert hat. Wenn sich die Technologie weiter entwickelt, muss man sehen, wie sich sinnvolle Zusammenhänge und kreative Übergänge zwischen den realen und den weiter ausdifferenzierten virtuellen Welten herstellen lassen.

DIE: Wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die vorhandenen digitalen Lernangebote ein?

M.S.: Digitale Lernprogramme heute sind sinnvoll als Werkzeuge für die Vermittlung von Wissen, haben ihre Grenzen aber da, wo es um die Fähigkeiten geht, zu lernen, wie man mit diesen neuen Formen des Wissens umgeht und sie auf sein reales Leben zurückbezieht. Gerade die Formen der internetbasierten Informationsbeschaffung sind solche, die Fähigkeiten bei den Nutzern voraussetzen, die im klassischen Unterrichtssystem bisher kaum vermittelt wurden. Medienkompetenz im Umgang mit dem Internet bedeutet, Informationen mit unklaren Quellen - Daten mit Herkünften, die ich nicht ohne Weiteres klären kann - selbstbewusst bewerten und auf meine Interessen zurückbeziehen zu können. Das frontale, auf bestimmende Urteilskraft abstellende Unterrichtssystem, wie wir es bisher in unseren Schulen und Universitäten haben, vermittelt primär die Fähigkeit zu wissen, welche Informationen in welche Schublade gehören. Man kann auf der Basis schubladenorientierter Bildung aber nur sehr schlecht mit Informationen umgehen, für die es möglicherweise gar keine Schublade gibt, bei denen das einzige Kriterium zur Unterscheidung zwischen Sinn und Unsinn, zwischen Nützlichkeit und Irrelevanz in mir selbst und der lokalen Gemeinschaft zu finden ist, innerhalb derer ich lebe und lerne. In diesen Fällen bedarf es einer Fähigkeit, die Kant „reflektierende Urteilskraft" genannt hat. Was in vielen digitalen Lernprogrammen stattfindet, ist eigentlich nur eine Übertragung der klassischen Form der bestimmenden Urteilskraft, also der Schubladenkultur, auf die Welt des Netzes. Das bereitet nicht wirklich auf die Komplexität des Internet vor. Denn ein kompetenter Umgang mit dem Netz setzt reflektierende Urteilskraft voraus.

Reflektierende Urteilskraft als Voraussetzung

DIE: Wie kommt diese reflektierende Urteilskraft zustande?

M.S.: Die Vermittlung reflektierender Urteilskraft findet in der individuellen Zuwendung zwischen Lehrenden und Lernenden statt, in der kleinen, lokalen Gruppe, in der man sich real aufeinander einlassen kann. Als Lehrer sollte man viel klarer berücksichtigen, dass, wenn man einem Studierenden etwas beibringen will, man erst einmal wissen muss: Wo kommt derjenige eigentlich her, welche Fragen hat er, auf was will er hinaus, in welcher konkreten Hinsicht könnte das, was ich ihm beibringen möchte, für ihn wichtig sein? Wie kann ich sein Interesse wecken für das Wissen, das ich ihm vermitteln möchte? Dazu muss ich ihn persönlich gut kennen. In den USA ist es durchaus üblich, dass Lehrende und Lernende sich sehr häufig auch außerhalb der Seminarsitzungen zum Gespräch im Arbeitszimmer des Professors oder der Professorin treffen. Erst wenn ich die individuellen Eigenarten und persönlichen Zugänge der jeweils einzelnen Studierenden kenne, kann ich Wissen effektiv so ver
mitteln, dass ich den Lernenden zugleich die Fähigkeit mit auf den Weg gebe, Wissen reflektierend zu bewerten und sinnvoll zu nutzen. Deshalb ist „Transmedialität" ein wichtiges Stichwort. Es besteht da eine ganz enge Beziehung zwischen Face-to-face-Kommunikation als Medium und der virtuellen Kommunikation als Medium. Das sind zwei Medien, die sozusagen im transmedialen Bezug zueinander stehen. Man kann in dem einen Medium den sinnvollen Umgang mit dem jeweils anderen lernen.

DIE: Wie würden Sie so ein zukünftiges Bildungsszenario mit Blick auf die Bildungsinstitutionen sehen?

M.S.: Eine zentrale Voraussetzung für die Etablierung anspruchsvoller virtueller Bildungswelten ist, dass zunächst erst einmal die realen Bildungswelten in Deutschland auf Vordermann gebracht werden. Das gilt sowohl in der Weiterbildung als auch im schulischen und akademischen Bildungsbereich. Wenn man in der virtuellen Welt den Standort Deutschland stark machen will mit Leuten, die Ideen haben und sich kompetent im Netz bewegen können, dann muss man zugleich den realen Bildungsstandort Deutschland auf Vordermann bringen. Denn Letzterer ist das entscheidende Instrument, um die Medienkompetenzen für die virtuellen Welten zu entwickeln. Der Grundfehler, der im Moment gemacht wird, ist der, sich von der amerikanischen Bildungsindustrie überreden zu lassen, viele Millionen und Milliarden in eine virtuelle Bildungskultur zu investieren, ohne die entsprechenden Investitionen in die reale Bildungskultur vorzunehmen. Das verfestigt die faktische Rückständigkeit der deutschen Bildungslandschaft und damit auch des Wirtschaftsstandorts Deutschland im Verhältnis zu anderen Standorten. Statt nun den eigenen Weg zu wählen und aus den Erfahrungen, die in den USA gemacht worden sind, Nutzen zu schlagen, kauft man jetzt in Amerika schon gescheiterte Projekte auf, statt von vornherein diese transmediale Schiene zu gehen - das heißt, beide Bildungsräume in enger Interaktion miteinander zu entwickeln. Das ist eine wichtige Zukunftsaufgabe in Sachen Bildung. Auch in Deutschland wird diese Aufgabe in manchen Bildungsinstitutionen bereits bewusst angegangen. Das geschieht vor allem an den privaten Universitäten. Ich denke da an Witten-Herdecke oder an die neu entstehende International University in Bremen. Das sind Institutionen, die genau dieses Wechselspiel von kleinen lokalen, intensiv miteinander arbeitenden Gruppen und virtuellen Bildungswelten sehr ernst nehmen. Unsere Massenuniversitäten neigen eher dazu, ihren Massencharakter mit Hilfe von virtuellen Technologien noch weiter auszubauen. Diese ganze Power-Point-Kultur, die sich als medienkompetent gibt, ist nur die Übertragung von Einwegkommunikationsstrukturen, die wir aus dem Fernsehen kennen, auf die Welt der Bildung - und genau das Gegenteil zu der von mir erwähnten Aufgabe einer Demokratisierung und Öffnung von Kommunikationsprozessen.

Im Oktober 2001 erscheint das neue Buch von Mike Sandbothe: „Pragmatische Medienphilosophie" (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001). Weitere Publikationen zum Thema (als Hrsg.): „Zeit-Medien-Wahrnehmung" (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994); „Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten" (Köln: Halem-Verlag 2000); „Die Renaissance des Pragmatismus" (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000).


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Juli 2001

Svenja Möller, Mike Sandbothe, Richard Stang, Das Reale im Virtuellen und das Virtuelle im Realen entdecken!
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/32001/gespraech.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp