DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Fakten, Fakten, Fakten

Was ist und wozu brauchen wir Virtualität?

Udo Thiedeke

Dr. Udo Thiedeke, Soziologe und Künstler, leitet seit 1986 die künstlerisch/wissenschaftliche Projektruppe ArtBit. Bis September 2000 war er am DIE verantwortlich für das kulturelle Bildungsprojekt „Vom Grafik-Design zum künstlerischen Arbeiten in Netzen" und ist sei November 2000 „Beauftragter für die Medienkonzeptentwicklung" am DIE. Er ist zudem Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Universität Mainz.

Was bedeuten Virtualisierungsprozesse im Kontext von Bildung? Welche gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Auswirkungen lassen sich prognostizieren? Welche Folgen hat Virtualisierung für Identitätsbildung und Kommunikation der Menschen? - Udo Thiedeke setzt sich mit den Begriffen Virtualität und Virtualisierung auseinander, zeigt subtile, zugleich aber umfassende gesellschaftliche Veränderungen auf und begründet, weshalb der Umgang mit Virtualität am Übergang von einer Industrie- zur Informationsgesellschaft notwendig ist.

Abstract:
What do we mean by virtualization, virtuality and virtual reality? The author sets out to establish the meaning of virtuality as the realm of the possible, containing many possible instances of the real world, of which reality is just one manifestation. Virtuality, considered as the construction of a parallel, if only imaginary, reality, has manifested itself in the form of works of the imagination, such as plays, poetry or painting, long before electronic data processing took it beyond the borders of art and into everyday life. The author explores how the concept of a virtual world of possibilites affects the individual's concept of self as well as of society, and what skills will be necessary in order to prosper in a virtualized society.


Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün - und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern den Augen gehört.

(Heinrich v. Kleist: „Die Marquise von O")1

Was ist Virtualität?

Da haben wir das Durcheinander. Niemand weiß etwas Genaues. Jedoch - das Wort ist überall. In unterschiedlichsten Kontexten ist jetzt von Virtualität, Virtualisierung und virtueller Realität die Rede.2 Da werden Firmen virtuell organisiert, Maschinen virtuell gesteuert, es gibt virtuelle Liebe und virtuelle Identitäten. Selbstverständlich sind Städte virtuell und soziale Beziehungen, man arbeitet in virtuellen Büros, geht in virtuellen Läden einkaufen und kann sich in virtuellen Hochschulen fortbilden. Schließlich ist die ganze Gesellschaft virtuell geworden.

Abgesehen davon, dass bei diesen sprachlichen Verwendungen von Virtualitätskennzeichen keine genauere Begriffsbestimmung nachzuweisen ist, liegt der Verdacht nahe, Virtualität und virtuelle Realität seien schlicht Modebegriffe. Virtualität ist ein Phänomen des Computerzeitalters und somit „cyberaktuell". Auffallend häufig taucht der Verweis auf Virtualisierung in Verbindung mit anderen Bezeichnungen auf, die ebenfalls eine gewisse Konjunktur haben, wie etwa Chaos, Selbstorganisation, Cyberspace, Internet, Kreativität, Flexibilität etc. Hier wird etwas bezeichnet, was scheinbar zugleich diffus ist, aber jegliche Horizonte des Denkens und Handelns öffnet, indem es uns aus den Fesseln physischer und sozialer Faktizitäten befreit.

Hier soll nichts mehr an Spekulation hinzugefügt werden, das Wort ist vielmehr im Kontext zu bestimmen und damit als Begriff zu präzisieren. Ich möchte Virtualität von seinem lateinischen Wortstamm „virtus" ableiten, was sich mit „Tugend", aber auch mit „Vermögen" übersetzen lässt. Virtualität ist also ein Zustand der Möglichkeit, dessen, was realisiert werden kann und in der Reichweite des Denkens und Handelns liegt, sich aber nicht realisieren muss. Indem Gegebenheiten eintreten, die die bisherigen Grenzen unserer Wirklichkeit erweitern können, und wir dieser Gegebenheiten gewahr werden, virtualisiert sich diese Wirklichkeit. Wenn wir mit einer Wirklichkeit konfrontiert sind, die sich nur noch aus Möglichkeiten der Überschreitung des Gewohnten zusammensetzt, können wir vom Entstehen einer virtuellen Realität ausgehen.

Virtualität ist also ein Zustand der „Vermöglichung" des bisher Gegebenen und Gewohnten. In der Virtualität zeigen sich Alternativen zum Verwirklichten. Virtualisierung ist der Prozess, in dem die Grenzen der gültigen Wirklichkeit ins Mögliche verschoben werden, und virtuell sind Dinge, Zusammenhänge und Beziehungen, wenn ihr wesentliches Merkmal die Möglichkeit der Überschreitung bisher in diesen Bereichen geltender Grenzen ist.

Virtualität hält Möglichkeitshorizonte offen, weist Optionen auf, die vorher nicht oder nicht in dieser Weise bestanden haben und die jetzt zur Verfügung stehen und somit an die Realität heranrücken. Dabei weist Virtualität ein artifizielles Moment auf. Sie ist in ihrer Abweichung von den gewohnten Rahmenbedingungen herbeigeführt, ja hergestellt. Es handelt sich bei virtuellen Sachverhalten um Fakten (Gemachtes) und nicht um Daten (Gegebenes). Genauer gesagt handelt es sich um konstruierte Wirklichkeitsalternativen.3

Um Virtualität zu erreichen, sind Techniken der Virtualisierung einzusetzen. Als wichtigste Virtualisierungstechniken sind Inszenierung und Simulation zu benennen. Inszenierung meint das künstliche Herstellen oder Herbeiführen von außeralltäglichen Wahrnehmungssituationen, etwa das Aufbauen einer Bühne, die den Einblick in eine andere Wirklichkeit vermittelt, die Komposition eines Bildes oder Musikstücks, die das Unbeobachtbare beobachtbar machen oder Ordnungen einer imaginären Welt als Konstruktionen vorführen. Eng mit der Inszenierung verwandt ist die Technik der Simulation, die im Bereich der Computeranwendungen zumeist mit der Virtualität selbst gleichgesetzt wird. Simulation ist die Nachkonstruktion oder der realitätsadäquate Vorgriff auf Wirklichkeiten. Ziel der Simulation ist also eine möglichst hohe Wirklichkeitsähnlichkeit. Eine Totalsimulation würde demzufolge ihren virtuellen Charakter verlieren. Sie wäre die Wirklichkeit und keine Möglichkeit mehr, oder zumindest nicht mehr als künstlich Gemachtes zu erkennen.

Ich erkundigte mich nach dem Mechanismus dieser Figuren, und wie es möglich wäre, die einzelnen Glieder derselben und ihre Punkte, ohne Myriaden von Fäden an den Fingern zu haben, so zu regieren, als es der Rhythmus der Bewegungen, oder der Tanz, erfordere?
Er antwortete, dass ich mir nicht vorstellen müsse, als ob jedes Glied einzeln, während der verschiedenen Momente des Tanzes, von dem Maschinisten gestellt und gezogen würde.

(Heinrich v. Kleist: Über das Marionettentheater)4

Von Daten zu Fakten

Unter diesen Gesichtspunkten ist die Begegnung mit Virtualität oder virtueller Realität nicht neu. Sie ist zumindest so alt wie die Geschichte der Kunst. Kunst ist als der Teilbereich menschlichen Handelns und der Gesellschaft anzusehen, der sich per definitionem mit dem Verfertigen von Künstlichem beschäftigt. Kunst hat die Funktion, imaginäre Ordnungen zu entwerfen und damit die Grenze zwischen verwirklichter Wirklichkeit und möglicher Wirklichkeit aufzuzeigen (vgl. Luhmann 1995, S. 236).

Ihr Virtualisierungspotenzial wird darin wahrnehmbar, dass sie mittels Inszenierung und Simulation - also offensichtlicher Wirklichkeitskonstruktion - Grenzen der Wirklichkeit überschreitet. Die alltägliche Wirklichkeit, die durch räumliche, zeitliche, soziale oder sachliche Einschränkungen der Möglichkeiten gekennzeichnet ist, wird durch die Vorstellung und Aufführung künstlerischer Imagination geöffnet. Die Virtualisierung konzentriert sich dabei im Artefakt, z. B. einer Bühnenaufführung, einem literarischen Text, einem Bild, einem Musikstück, in künstlerischen Filmen, Videos oder Computerszenarien.

Virtualität, ja noch nicht einmal Virtualisierung und virtuelle Realität sind demzufolge Erfindungen oder modische Ereignisse des Computerzeitalters oder der Informationsgesellschaft. Warum dann die Aufregung? Die Aufregung, die sich in Virtualisierungseuphorie - etwa der Computerindustrie - oder in Virtualisierungsphobie - z. B. in den Mahnungen von Pädagogen, Wissenschaftlern, Politikern zum Wirklichkeitsverlust - niederschlägt, rührt daher, dass Virtualität aus dem Bereich künstlerischer Imagination „ausgewandert" ist. Virtualitätserfahrungen werden verallgemeinert, und damit schreitet die Vermöglichung verschiedenster Realitätsbereiche voran (vgl. Thiedeke 1997, S. 322f.) Bleibt die Frage, wie es dazu kommen konnte.

Die Ursache für eine weit ausgreifende Virtualisierung, die Ursache dafür, dass Wirklichkeit ersichtlich vom Datum zum Faktum wird, liegt in der Verbreitung leistungsfähiger Computertechnik. So erlaubt die Digitalisierung von Wirklichkeit die Manipulation und Konstruktion eben dieser Wirklichkeit. Sie kann gleichsam universalcodiert in digitale Punktmengen zerlegt und so von ihren physikalischen Einschränkungen abgelöst
werden, dass sie in fast beliebiger Form wieder als willkürliche Punktmenge zu einem Wirklichkeitsentwurf rekombinierbar ist. Damit wächst die Komplexität der Wirklichkeit, indem jetzt mehr und andere Wirklichkeitsalternativen zur Verfügung stehen, die nicht alle zugleich realisierbar, aber alle zugleich gegeben sind.

Die Irritation durch Virtualisierung ist also eine mehrfache. Virtualität tritt nicht mehr nur in Spezialbereichen der Kunst (in Artefakten), der Medizin (in psychischen Pathologien), der Politik (in Gesellschaftsentwürfen) oder der Religion (in der Inszenierung von Transzendenzerfahrungen) zu Tage. Sie ist vielmehr mit dem Virtualisierungspotenzial der Computer und dem alles verknüpfenden Internet zum Gegenstand alltäglicher Welterfahrung geworden. Die Virtualisierung der Wirklichkeit ist zumindest potenziell universell und stellt die Sicherheit von Grenzen und Daten in Frage.

Und der Vorteil, den diese Puppe vor lebendigen Tänzern voraus haben würde? Der Vorteil? Zuvörderst ein negativer, mein vortrefflicher Freund, nämlich dieser, dass sie sich niemals zierte. - Denn Ziererei erscheint, wie Sie wissen, wenn sich die Seele (vis motrix) in irgend einem andern Punkte befindet, als in dem Schwerpunkt der Bewegung. (...) Solche Mißgriffe (...) sind unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.
(Heinrich v. Kleist: Über das Marionettentheater)

Von Wissen zu Nichtwissen

Wenn eine derart umfassende Virtualisierung der Lebenswirklichkeit möglich wird, so sind Folgen für die Konstitution und die Entwicklung der Gesellschaft zu erwarten. Obwohl diese Veränderungen nicht marginal sind, ist es doch fraglich, ob man eine Gesellschaft, die ihre Kommunikation auf virtualisierungsfähige Kommunikationstechniken stützt und die virtuelle Szenarien zur Planung und Realisation gesellschaftlicher Lebenswelt benutzt, als virtuelle Gesellschaft bezeichnen sollte.5 Wäre dies doch eine Gesellschaft, die nur noch der Möglichkeit nach vorhanden ist. Demgegenüber verwirklicht auch die Informationsgesellschaft, deren Reproduktion von der Instabilität und Dynamik flüchtiger Informationen bestimmt ist, soziale Strukturen, Normen und Gesetze oder persönliche Bindungen, deren Möglichkeitsbereich eingeengt und festgelegt ist. Im gesellschaftlichen Rahmen ist demnach nur von einer Virtualisierungstendenz der Realität auszugehen, allenfalls könnte man von einer virtualisierten Gesellschaft sprechen.

Eine solche Gesellschaft ist auch nicht dadurch virtualisiert, dass sich ihr Raumkonzept ändert und die Reproduktion der Gesellschaft fortan im Cyberspace stattfindet (vgl. Bühl 1997, S. 11, 68f.). Kommunikationsmedien und Transportmittel sind schon seit langem zur Überwindung des Raumes und der Zeit eingesetzt worden, und dies ist uns spätestens seit Heines dictum von der Eisenbahn, durch die der „Raum getödet" wird, geläufig (Heinrich Heine, zit. in Briegleb/Stahl 1974, S. 449). Um Raum- und Zeiterfahrungen zu virtualisieren - man könnte z. B. möglicherweise schnell nach Paris fliegen, um dort den Abend in der Oper zu verbringen -, ist mithin kein Cyberspace nötig. Dessen reduzierte Simulationsleistungen lassen vor allem im Internet den Raumersatz auch nur bedingt interessant erscheinen. Die gesellschaftliche Veränderung, die mit der Virtualisierung einhergeht, ist subtiler und umfassender zugleich.

Zuerst ist dabei ein medientheoretisches Argument zu beachten. Mit der Verbreitung von Computermedien verändert sich die mediale Grundlage der gesellschaftlichen Kommunikation. So hatte der Buch- und Zeitungsdruck eine Informationsordnung erzeugt, die linear sequenzierte, rational begründete und prüfbare Weltbeschreibungen ermöglichte. Auch die elektronischen Massenmedien Rundfunk und Fernsehen setzen diese kausale Weltbeschreibung in ihren vermittelten Inhalten so lange fort, wie sie als Sender-Empfänger-Medien operieren. Auf dieser Basis ist ein Denken in vernunftbegründeten Ursache-Wirkung-Zusammenhängen und in historischen Dimensionen möglich. Die Weltwahrnehmung ist selektiv und logozentrisch.

Mit den Computermedien wird jedoch die Codierung der Weltbeschreibung von der Textbeschreibung auf numerische Formalisierung, d. h. auf Digitalisierung umgestellt. Die Wirklichkeit wird in einen universellen Zahlencode zerlegt, der in mathematischen Formeln beschreibbar ist und algorithmisch manipuliert und rekombiniert werden kann. Die volle Leistung dieser De-/Rekombination ist allerdings erst durch Maschinen zugänglich, die einfache Rechenoperationen so schnell ausführen, dass sich die Benutzer von den Problemen der Kalkulation befreien können.

Durch eine erhöhte Abstraktion der Weltbeschreibung und die Verlagerung der Informationsordnung und -prozessierung auf eine maschinelle Ebene werden nun erhebliche Freihheitsgrade der Weltbeschreibung gewonnen. Sie wird zu einer Weltkonstruktion, zu einem Möglichkeitsraum der Kommunikation weiterentwickelt. Dieser ist sensorisch ohne spezifische Codierungs- und Decodierungstechniken wie Lesen und Schreiben zugänglich und kann dort, wo das simulatorische Potenzial virtueller Welten ausgespielt werden kann, auch die Immersion, den umfassenden Einbezug der Kommunikationsteilnehmenden, zulassen. Sie haben fortan die Möglichkeit, potenzielle Weltbeschreibungen nicht nur zu lesen, sondern zu betreten, zu verändern und in ihnen - zumindest zeitweilig - zu leben.

Damit entsteht auf der Ebene der Kommunikationsteilnehmer ein Weltzugang, der sich in den Bereich der Nichtlinearität erweitert. Das ist z. B. an Texten nachzuvollziehen, die im Internet mittels Hyperlinks verknüpft werden und über ihre lineare Textstruktur jetzt in einen Bedeutungsraum verweisen, der assoziativ zugänglich und vernetzt ist.

Mikrosozial ergibt sich aus der Virtualisierung der Gesellschaft die Möglichkeit, Wirklichkeitsperspektiven zu wählen, denen eine Realisierungswahrscheinlichkeit zukommt, und sich Handlungsoptionen zu schaffen. Konkret bedeutet dies, etwa bei der Kommunikation in Computernetzen an unterschiedlichen Arbeits-, Kultur- oder Spielzusammenhängen gestaltend teilzunehmen und dies aufgrund der virtuellen Präsenz, befreit von den sozialen und physischen Einschränkungen realweltlicher Körperlichkeit zu tun, was bislang unmöglich war. Hier bieten sich Möglichkeiten der Identitätskonstruktion, des Identitätsexperiments, der multiplen Teilnahme oder des sozio-technischen Stellvertreterhandelns.

Meso- und makrosozial treten soziale Bindungen oder kollektive Erfahrungen in Erscheinung, die von physischen und normativen Einschränkungen entlastet sind. So sind experimentelle Gruppenbildungen möglich, deren normative Grundlagen ausgehandelt und bei Nichtgefallen oder Scheitern aufgegeben und neu erfunden werden können. Es ist die Ansammlung und Verbreitung von Spezialwissen möglich, das in Prozessen des Selbstlernens außerhalb etablierter Bildungsinstitutionen erworben und in selbstorganisierten Netzwerken ausgetauscht wird. Schließlich öffnet die Gesamtgesellschaft durch die Virtualisierung von Beobachtungs- und Planungsprozessen ihren selektiv verengten Sinnhorizont in Richtung auf Nichtwissensbestände, Simulationen und Abschätzungen von Wirklichkeitsszenarien. Die Weltwahrnehmung der virtualisierten Gesellschaft ist demzufolge komplex und assoziativ.

Zudem, sprach er, haben diese Puppen den Vorteil, dass sie antigrav sind. (...) Er versetzte, dass es dem Menschen schlechthin unmöglich wäre, den Gliedermann darin auch nur zu erreichen. Nur ein Gott könne sich, auf diesem Felde, mit der Materie messen; und hier sei der Punkt, wo die beiden Enden der ringförmigen Welt in einander griffen.
(Heinrich v. Kleist: Über das Marionettentheater)

Brauchen wir Virtualität?

Durch die gesellschaftliche Entwicklung wurde Virtualität zumindest zu einem „offen"-sichtlichen Phänomen der Lebenswelt. In Hinblick auf die Komplexität einer Gesellschaft, die sich von einer Industrie- zur Informationsgesellschaft entwickelt und die ihre positiven wie negativen Wirklichkeitsoptionen ausgeweitet hat, ist der Umgang mit Virtualität eine Notwendigkeit, um Zukunftsverläufe möglichst folgenlos für die Gegenwart zu erproben. Die Vermöglichung, die mit der Virtualisierung eintritt, erlaubt es, experimentell mit Zukunft, aber auch mit Nichtwissensbeständen umzugehen, das heißt, nicht nur die Simulation von Materialien und Entwürfen zu nutzen oder inszenatorisch Wirklichkeitsbilder als Ereignisse sinnhafter Orientierung aufscheinen zu lassen, sondern auch die Vielfalt von Wissensalternativen aufzuzeigen, die aus unseren Entscheidungen folgt. Virtualität eröffnet den Zugriff auf Verwirklichungspotenziale.

Virtuelle Sozialbeziehungen, die Virtualisierung von physischer Präsenz oder die Loslösung von den Daten der Wirklichkeit, wie sie z. B. in der virtuellen Wirtschaft nicht nur durch Delokalisierung, sondern durch die Ablösung der Werterwartungen von den Produktionsverhältnissen eintritt, erlauben eine Ausdehnung gesellschaftlicher Prozesse in konstruierte Möglichkeitsräume. Damit tritt eine kontexgebundene Erweiterung der Kontrolle wahrscheinlicher Wirklichkeit ein.

Dieser auf Virtualität abgestellte Auswahl- und Entscheidungsmodus gesellschaftlichen Handelns erfordert allerdings einen anderen Bezug zur Wirklichkeit. Wirklichkeit erscheint jetzt als Entwurf, als Vorläufiges, immer auch anders Mögliches. Wirklichkeit ist ein perspektivischer Ausschnitt, und das adäquate Wissen, um sich in diesem Ausschnitt zurechtzufinden, ist in hohem Maße von veränderbaren Bedingungen abhängig.

Der Umgang mit virtueller Realität in einer virtualisierten Gesellschaft ist daher nicht nur reicher an Möglichkeiten, er ist auch unsicherer. Um mit Virtualität umzugehen, sind besondere Fähigkeiten erforderlich. Ohne die Fähigkeit, die Wahrscheinlichkeit von Wissen und Szenarien abzuschätzen, ohne die Fähigkeit zum Spiel mit Alternativen und zur gestaltenden Konstruktion ist kaum eine Integration in eine virtualisierte Gesellschaft denkbar. Dies aber sind Fähigkeiten, die in unseren Schulen und Hochschulen eher als zweitrangig gelten. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich in einer virtualisierten Gesellschaft auch der Bildungsbereich den Herausforderungen der Vermöglichung von Wirklichkeit stellen muss.

Wir sehen, dass in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt. - (...) so findet sich auch (...) die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.
Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.
(Heinrich v. Kleist: Über das Marionettentheater)

Anmerkungen

1 Zitiert nach: Sembdner 1993, S. 634.

2 Vgl. als zufällige Beispiele der teilweise willkürlichen Verwendung von „virtuell" oder „Virtualität": http://www.bwl.univie.ac.at/bwl/scholz/UE3/rrot/new.html

3 Im Zusammenhang mit dem „digitalen Schein" verweist z. B. Villém Flusser auf diesen Wechsel von Daten zu Fakten (vgl. Flusser 1998, S. 203).

4 Alle Zitate aus Heinrich von Kleist: „Über das Marionettentheater", nach dem Online Dokument http://www.gutenberg.aol.de/kleist/marionet/mario001.htm

5 So stützt etwa Achim Bühl seine These von der „virtuellen Gesellschaft" im Kern auf Spekulationen Stanislav Lems zu Erzeugungen phantomatischer Realität, die in „keiner Weise von der normalen Realität unterscheidbar sind, aber doch anderen Gesetzen unterliegen" (Bühl 1997, S. 70).

Literatur

Briegleb, Klaus/Stahl, Karl-Heinz (Hrsg.) (1974): Heinrich Heine: Lutetia. In: Sämtliche Schriften, Band 5. München

Bühl, Achim (1997): Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyberspace. Opladen u. a.

Flusser, Villém (1998): Medienkultur. Frankfurt/M.

Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.

Sembdner, Helmut (Hrsg.) (1993): Heinrich Kleist. Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band. 9. Aufl., München

Thiedeke, Udo (1997): Medien, Kommunikation und Komplexität. Vorstudien zur Informationsgesellschaft. Opladen u. a.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Juli 2001

Udo Thiedeke, Fakten, Fakten, Fakten. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/32001/positionen1.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp

 

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