DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

„Begegnung mit dem Unerwarteten"

Gespräch mit Hannelore Jouly

Hannelore Jouly ist Direktorin der Stadtbücherei in Stuttgart, wo derzeit mit der „Bibliothek 21" ein neuartiges Bibliotheks- und Lernzentrum konzipiert wird. Dabei spielt bei der Entwicklung veränderter Lernarrangements u.a. der Einsatz Neuer Medien eine wichtige Rolle. - Das DIE-Gespräch mit Hannelore Jouly (H.J.) über Lernarchitektur als konzeptionelle und mediale Planung, Gestaltung, Vernetzung von Lernräumen und Lernmöglichkeiten führte Richard Stang (DIE).

DIE: Frau Jouly, die Stadtbücherei Stuttgart soll ein multimediales Lernzentrum werden, und in diesem Zusammenhang ist auch ein neues Gebäude geplant. Was verbinden Sie mit dem Begriff „Lernarchitektur"?

H.J: Das ist eine wunderbare Frage. Wir planen in Stuttgart gerade eine neue Bibliothek - die Bibliothek 21. Wir haben im Rahmen eines europäischen Architektur-Wettbewerbs nun einen Entwurf ausgewählt, der zeigt, wie diese Bibliothek aussehen könnte. Es ist ein sehr ungewöhnliches Haus, das schon durch die außergewöhnliche Ausstrahlung fokussiert, was „Lernarchitektur" räumlich sein kann. Es hat wirklich etwas sehr Verlockendes, zu sagen, lebenslanges und selbstgesteuertes Lernen findet in einem Haus statt, für das ein Architekt eine spezielle Form erfunden hat, eine Form, die Altes und Neues miteinander verknüpft.

DIE: Die Architektur des neuen Hauses bildet aber nur den Rahmen.

H.J.: Das Haus allein ist es natürlich nicht. Die Architektur im engeren Sinne des Wortes ist es auch noch nicht. Lernarchitektur - wie wir sie verstehen - wird definiert durch Lernateliers zu einzelnen thematischen Schwerpunktbereichen, durch Kunsträume - dazu gehören Musik, Literatur und bildende Kunst - sowie durch das Kindermedien-Zentrum. Diese Lernateliers und die Kunsträume werden durch Flanierwege, durch Inszenierungen der unterschiedlichsten Art miteinander verbunden. Das ist jetzt die innenräumliche Lernarchitektur. Und da müssen wir natürlich weiter in die Ateliers und die Kunsträume hineingehen. In unserer Imagination ist es so, daß wir dort nicht einfach Tische und Stühle hinstellen wollen, sondern daß wir uns wünschen, mit kreativen Designern nach ungewöhnlichen Formen der Raumgestaltung zu suchen, hier auch Lernumgebungen zu schaffen, die von besonderer Stimulanz sind.

DIE: Gehen der Begriff und die Vorstellungen, die sich mit Lernarchitektur verbinden, auch über die räumliche Gestaltung hinaus?

H.J.: Jetzt können wir noch ein bißchen weiter in das Detail, in den Kern vordringen. An dieser Stelle bedeutet Lernarchitektur, was an Material zum Lernen zur Verfügung gestellt wird und wie es zur Verfügung gestellt wird. Es ist die Spezialität unserer Bibliothek, daß wir Printmedien und alle Art von elektronischen Medien und Datennetze miteinander verknüpft anbieten. Sie werden präsentiert für Menschen, die lernen wollen, durchaus auch stimuliert durch Architektur und Inszenierung der Bibliothek. Wesentlicher, unentbehrlicher Faktor sind die Mitarbeiter/innen der Bibliothek, die Hilfestellung geben, motivierend Wege weisen. Wir können nicht eigene Kurse und ähnliches anbieten, wir sind vielmehr ein Ort der Animation, wir sind der Schatzbehälter für alle Materialien und der Verbindungsknotenpunkt zu weiteren Experten mit besonderem Know-how - und diesen Transfer wollen wir immer weiter entwickeln. Das ist dann auch Architektur - etwa so wie Stadtplanung. Vielleicht ist das eine neue Art von Lernplanung.

"Das Lernen öffnen"

DIE: Sie beschreiben Lernarrangements, die auch selbstgesteuertes Lernen erfordern und fördern sollen. Wie sehen Sie das Konzept von selbstgesteuertem Lernen? Welche Angebote machen Sie in diesem Zusammenhang?

H.J.: Ich denke, die Bibliothek sollte wirklich für alle Lernbedürfnisse zu jeder Zeit offen sein. Und wir wollen auch für - nahezu - jedes Thema Anlaufstelle sein. Durch unsere Lernateliers und durch unsere Kunsträume fassen wir Interessenschwerpunkte zusammen, wie sie sich heute darstellen. Ein wichtiger Bereich ist zum Beispiel alles, was mit Beruf und mit Wirtschaftsentwicklung zu tun hat. Ein anderer wichtiger Komplex ist das Sprachenlernen, ein weiterer Bereich eines solchen Lernateliers ist moderne Technologie, wir haben aber auch ein Atelier, das sich mit Stuttgart und der Region beschäftigt, und so weiter. Es sind acht verschiedene Lernateliers, die bestimmte Bereiche thematisieren und wo innerhalb der Ateliers alle Medien vorhanden sind. Selbstverständlich werden wir gezielt schulbezogene Angebote machen: Dies ist jetzt das Material, das du für einen bestimmten Prüfungsabschluß brauchst. Wir möchten jedoch das Lernen viel weiter öffnen, nicht nur auf Schul- oder andere Bildungsabschlüsse ausrichten. Wichtig ist mir, Lernen zu begleiten, das aus Lebenszusammenhängen notwendig wird.

DIE: Welche Rolle spielen die neuen Medien in ihrem Konzept?

H.J.: Im Augenblick sind etwa 20 Prozent unserer Angebote elektronisch, und wir beobachten - wie könnte es anders sein - eine sehr, sehr starke Nutzung des Internets. Wir haben die letzte Zeit dafür genutzt, das Internet zu erschließen und kreative Formen im Umgang mit Internet zu entwickeln. Jetzt wollen wir auch gezielte Recherche-Angebote machen, zunächst für die Bereiche Beruf und Wirtschaftsinformation. Eine Besonderheit sind unsere literarischen Internetprojekte. Sie sind eingeladen, mal vorbei zu surfen.

DIE: Wie gestaltet sich dann der Zugriff auf die unterschiedlichen Medien?

H.J.: Die Stadtbücherei hat keinen Raum, wo nur die Computer stehen, und keinen Raum, wo nur die Bücher stehen, sondern die Angebote sind sehr bewußt integriert. Und diese Integration wird von Jung und Alt mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit angenommen, von den Jüngeren vielleicht schneller, aber auch die Älteren finden, denke ich, durch die Mischung leichter Zugang.

"Mitarbeiter, die Freude an Veränderung haben"

DIE: Wie gehen die Menschen, die hier arbeiten, mit diesen Veränderungen um? Bedarf es da neuer Qualifikationen, bedarf es sozusagen auch einer neuen Architektur der Profession?

H.J.: Mit Sicherheit! Seit wir uns in den elektronischen Markt hineinbegeben haben, seit wir die Internet-Nutzung anbieten, haben wir eine wirklich erstaunliche Steigerung von Fragen unserer Besucher, die allerdings nicht allein darauf abzielen, wie benutze ich das Internet. Das schon auch, und da haben wir Angebote, um zu helfen, sondern die Fragen gehen jetzt auf einmal vertieft in sachliche Themen. Da kommt es vor, daß jemand sagt: Ich möchte eigentlich mal Goethe kennenlernen, was sollte ich denn da als erstes lesen? Das heißt: Die Mitarbeiter der Bibliothek müssen sich stärker fachlich spezialisieren, zumindest in einer großen Zentralbibliothek wird der Allround-Bibliothekar keine Chancen mehr haben. Außerdem müssen die Mitarbeiter ständig ihre technologischen Kenntnisse ausweiten. Wir haben ein weitgefächertes Schulungsprogramm in der Bibliothek - mit der Weiterqualifizierung kommt man nie an ein Ende.

DIE: Gehört dazu auch ein neues Bewußtsein, eine veränderte Einstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

H.J.: Genau, und das ist vielleicht sogar noch wichtiger: Wir brauchen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Freude haben an „Zukunft", an der Veränderung und an der Chance, die in einer Bibliotheksarbeit dieser Art stecken, um aktiv Zukunft mitzugestalten, zusammen mit unseren Besuchern. Wir brauchen - und wir haben das zum Glück auch - Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ungewöhnliche Ideen haben, die kreativ sind. Alles, was zum traditionellen Bild des Bibliothekars nicht unbedingt gehört. Die früheren bibliothekarischen Sach- und Fachkenntnisse gehören inzwischen der Vergangenheit an. Wir brauchen Menschen mit einer großen Kommunikationsfähigkeit, Menschen, die einfach Freude haben, mit Besuchern, aber auch mit anderen Bildungseinrichtungen zusammenzuarbeiten. Ich beobachte, daß aus diesem Zusammenspiel auch wieder ganz viel positiv für uns zurückkommt. Da kommen viele Impulse, die wieder unserer Entwicklung dienen, und das geht vielleicht anderen Institutionen genauso. Solche Öffnungen, wie wir sie gerade erleben, können wie ein Schneeball-System in einer Stadt wirken und Impulse geben, die, wenn es denn gutgeht, wirklich auch eine Stadtarchitektur verändern könnten.

DIE: Sie würden also sagen, daß das Personal noch stärker als früher eine Beratungsfunktion bei der Aneignung von Wissen hat?

H.J.: Zweifellos! Und da haben wir zu lernen von den Pädagogen, da sind wir zunächst nicht die Spezialisten. Aber ich denke, da werden wir auch immer sehen, wo unsere Grenzen sind, das gehört zum Lernen dazu. Wir können und wollen hier niemals selber Kurse abhalten. Und wir müssen auch bestimmte Fragestellungen immer an Experten weiterreichen. Wir verstehen uns im Grunde als diejenigen, die die Vernetzer sind, und dazu muß man natürlich auch eine Menge wissen, zum Beispiel wie man vernetzt. Aber wir sind nicht diejenigen, die Unterricht in irgendeiner Weise, weder einzeln noch in Gruppen, anbieten wollen und können.

DIE: Das heißt: Architektur auch über die Perspektive der Vernetzung?

H.J.: Zweifellos ja.

DIE: Sie haben schon einige Beispiele geschildert, wie Sie an die Veränderungen, die Sie in bezug auf Lernorganisation und Lernumgebungen erwarten, herangehen wollen. Wohin gehen ihrer Meinung nach Entwicklungstendenzen in den Bereichen Lernorganisation und Lernumgebungen?

H.J.: Ich möchte auf einen Punkt hinweisen, der mir so besonders wichtig ist und den wir hier auch mit dem Begriff „Innovatives Lernen" beschreiben. Die große Chance, die in einer Bildungseinrichtung und einer Kultureinrichtung wie der Bibliothek liegt, besteht darin, daß man zwar das eine sucht, aber etwas ganz anderes finden kann. Daß beim Besuch der Bibliothek die Begegnung mit dem Unerwarteten stattfinden kann, daß sich aus dieser Begegnung eben mehr entwickeln kann als das reine strukturierte Lernen. Da spielen auch die Bereiche, die ich Kunsträume nenne, eine große Rolle. Die Begegnung mit Künstlern und mit den künstlerischen Angeboten ist für mich in der Verzahnung zu dem Sach- und Fachwissen eine ganz außerordentlich wichtige, innovative Komponente.

"Innovatives Lernen"

DIE: Das ist eine interessante Perspektive. Können Sie diesen Begriff des innovativen Lernens konkretisieren?

H.J.: Innovatives Lernen ist Teil unserer „Philosophie", eine Idee, deren Ausprägung wir beobachten und analysieren wollen. Ich höre von Unternehmensberatern, daß sie besonders gerne mit Kultureinrichtungen Unternehmensberatung betreiben, weil sie, die eben auch in festen Strukturen arbeiten, in der Begegnung mit der Kultur Mut bekommen, auch ihre gelernten Strukturen umzuwerfen. Und ich glaube, das ist überhaupt der wesentliche Punkt für die Zukunft, wenn wir gefordert sind, mit komplexen, scheinbar unlösbaren Problemen umgehen zu müssen. Ich höre hier von einer großen Softwarefirma, daß es ganz wichtig wäre, auch die Softwareentwickler immer wieder mit Kunst in Begegnung zu bringen, damit sie eben Chancen haben, aus diesen Strukturen, in denen sie beinahe Tag und Nacht arbeiten, auch wieder auszubrechen. Das ist für mich der Akzent oder Impuls, der aus der Untersuchung des Club of Rome über innovatives Lernen herauskommt. Es interessiert mich sehr: Wie läßt sich dies dann auch in einer „Lernarchitektur" noch stärker wahrnehmbar machen, ohne daß wir jetzt hier ein Ausrufezeichen hinhängen oder den Zeigefinger heben und sagen: Bevor du etwas über Computer wissen willst, dann guck‘ dir erst Bilder von Künstlern an. So ist das nicht gemeint. Ich denke, das muß einfach ein Fluß sein, ein Fluß, der auch Vergnügen und Spaß bereitet.

"Experimentierbühne Bibliothek"

DIE: Sind für Sie Begriffe wie Experiment und Innovation eine zukunftsweisende Perspektive für Lernprozesse?

H.J.: Unbedingt. Das sind die Überschriften, unter denen wir jetzt auch schon arbeiten. Und das möchte ich gerne auch weiter betreiben. Es sollte in diesem Bereich auch verstärkt Forschungsarbeit geleistet werden, um Experimentierfelder beschreiben und weiterführende Experimente realisieren zu können. Die Förderung von Lernexperimenten wäre mir in diesem Zusammenhang ein wichtiges Anliegen.

DIE: Sie machen ja bereits in Ihrer Institution Experimente. Wie wird es von den Lernenden oder von den Menschen, die sich neues Wissen aneignen wollen, angenommen?

H.J.: Wir haben insgesamt eine außerordentlich positive Rückmeldung von unseren Besuchern. Wir haben ständig steigende Besucherzahlen, wir haben auch ständig steigende Ausleihzahlen, und wir haben tatsächlich die steigenden Ausleihzahlen nicht allein wegen elektronischer Medien, sondern auch mit Printmedien. Also ein Trend, der eigentlich anders ist, als es manche Zukunfts-Horrorvisionen erscheinen lassen. Wir können, seit wir diese Experimentierbühne Bibliothek eröffnet haben, bemerken, daß unser Publikum jünger wird. Und vielleicht auch ein bißchen „schriller", jedenfalls ein bißchen anders als das traditionelle Bibliothekspublikum. Das finde ich auf jeden Fall spannend. Wir bemerken aber auch - aber das ist einfach eine Erfahrung, die viele Bibliotheken machen -, daß die Benutzung der Bibliotheken bei Menschen, die über 50 sind, nachläßt. Das ist ein Punkt, der mich sehr interessieren würde: Woran liegt das eigentlich? Ich glaube nicht, daß es an unseren neuen Experimenten liegt, sondern daß da noch andere Gründe dahinterstecken, aber das müßte untersucht werden.

Ein weiterer Punkt ist für mich auch spannend: Wie können wir die Menschen, die sich manchmal melden, daß sie mitarbeiten möchten, die aus irgendwelchen Gründen im vorzeitigen Ruhestand sind oder nur teilweise arbeiten, die aber eine Fülle von Expertenwissen haben, wie können wir die auch in unser Expertennetz mit aufnehmen?

DIE: Das führt gleich zur nächsten Frage: Welche Funktionen können zukünftig denn Bildungsinstitutionen oder Kultureinrichtungen wie die Bibliotheken in dieser Gesellschaft oder in einer „Stadtarchitektur" einnehmen?

H.J.: Was ich mir wünsche ist, daß unsere Bibliothek ein Lieblingsort in Stuttgart ist. Ich sage das erstmal so emotional. Daß es ein gastlicher Ort ist, wo sich jeder Bürger mit jeder Frage hinwenden kann oder wo man gerne vorbeikommt, weil man willkommen ist. Zugleich aber erwarte ich von uns, daß wir hochprofessionell alle Materialien, die für das Lernen notwendig sind, bereithalten oder beschaffen können oder die Wege zu diesen Materialien anbieten können. Ich wünsche mir, daß wir eine Atmosphäre schaffen, die auch in der Kombination von Kunsträumen und Lernateliers so ist, daß man da geradezu fasziniert würde, Lernprozesse aufzugreifen. Und ich wünsche mir, daß es in der Bibliothek so viele Kommunikationsmöglichkeiten gibt, daß man nicht sagt: Ich kann eigentlich alles auch von zu Hause abrufen, sondern: Ich gehe in die Bibliothek, denn ich treffe Menschen, mit denen ich mir etwas zusammen vornehmen kann. Oder: Ich treffe mich mit Freunden, Bekannten in der Bibliothek.

DIE: Heißt das auch: Sie wollen der starken Individualisierung ein Stück weit dadurch entgegentreten, daß Sie ein bestimmtes Arrangement gestalten, in dem auch Kommunikation gefördert wird?

H.J.: Ganz genau! In einer Bibliothek muß man sich im allgemeinen nicht anmelden, wenn man beispielsweise zu einem Expertengespräch geht, man kommt vorbei, man guckt mal und kann auch leicht wieder gehen. Es scheint mir so, daß viele Menschen sich nicht unbedingt festlegen möchten. Und eine Bibliothek legt nun mal nicht fest. Da kann man schauen, kann sich entscheiden: Das Thema interessiert mich oder die Menschen interessieren mich. Es kann auch jeder individuell zu uns kommen, kann einen wunderbaren individuellen Platz in der Bibliothek finden und ist trotzdem mittendrin im Leben. So wie im Café vielleicht. Das scheint mir auch so ein Charakteristikum zu sein für eine Großstadt: Man will sich nicht ständig „outen" müssen - um das Wort mal zu benutzen -, aber man möchte doch mit anderen zusammensein. Und daraus kann viel entstehen. Das merken wir jetzt schon, daß sich schon Gruppierungen finden, die gemeinsame Interessen haben und sich dann hier verabreden, und zwar ohne daß wir es gesteuert haben. Das finde ich eigentlich sehr schön.

"Kommunikation initiieren"

DIE: Noch mal unter der Architektur-Perspektive betrachtet: Heißt das, es ist wichtig, die Schwellenangst auch durch räumliche Arrangements zu mindern?

H.J.: Ja. Ich denke, daß die Schwellenangst auch gar nicht mehr so groß ist, wie man das früher beschrieben hat. Aber natürlich ist es wichtig, keine Schwellen aufzubauen, es ist wichtig, neugierig zu machen. Und es ist wichtig, daß jeder Besuch in der Bibliothek oder von Bildungseinrichtungen - jetzt sage ich es noch einmal so emotional - auch beglückend sein sollte. Man sollte keine negativen Erfahrungen machen. Man macht so viele negative Erfahrungen in der Großstadthektik, aber wenn man in die Bibliothek geht, dann sollte es eigentlich immer etwas Gutes sein, wo man sich darauf freut und wo man allein oder mit der Familie oder mit Freunden hingeht.

DIE: Dabei müssen Sie aber sehr individuellen Zugängen zum Lernen gerecht werden. Wie beziehen Sie diesen Aspekt in Ihre Planungen ein?

H.J.: Wir haben schon jetzt und werden in der neuen Bibliothek Plätze für den einzelnen haben, der intensiv arbeitet, sowie Möglichkeiten für kleinere und für größere Gruppen. Wir bemerken schon, daß bei den Einzelarbeitsplätzen häufig mal ein anderer über die Schulter schaut - und auf einmal ist das eigentlich gar kein Einzelarbeitsplatz mehr, sondern es entwickelt sich etwas Gemeinsames, auch zwischen den Generationen. Das Bemerkenswerte in der Bibliothek ist, daß man da nicht ein Programm vorher entwerfen muß, sondern daß sich das von alleine ergibt. Da helfen die Jüngeren den Älteren in der einen Sache oder auch mal umgekehrt. Wir haben in der Neugestaltung hier im Haus einen sehr großen Tisch in die Mitte gestellt, um Kommunikation zu initiieren. Ich war nicht überzeugt, ob das wirklich gut funktioniert, daß sich die Menschen so nebeneinander setzen. Das Erstaunliche ist: Es funktioniert, und ich sehe auf einmal, daß so über Eck auch etwas Kommunikation entsteht. Und wer dann als einzelner dazwischen sitzen möchte, soll es tun - ich glaube einfach, diese freien Spielräume so zwischen „ich will das jetzt mal wirklich alleine arbeiten" oder „ich will das mit anderen Menschen zusammen machen", „ich will mir meinen eigenen Zeittakt geben" -, das ist für die Art, wie wir leben in dieser Zeit, und vielleicht ist es auch für die nächste Zukunft schon etwas Charakterisierendes.

DIE: Sie machen allerdings auch Angebote, die einen Zeittakt vorgeben, wo zu bestimmten Zeiten spezifische Angebote stattfinden.

H.J.: Ja. Wir hatten früher eigentlich ausschließlich literarische Veranstaltungen. Seit uns das Thema lebenslanges Lernen auf eine neue Weise umtreibt, haben wir damit begonnen, zu Expertengesprächen einzuladen, und zwar im laufenden Bibliotheksbetrieb, um eben auch diese zufällige Begegnung mit dem Experten zu ermöglichen - und das mit erstaunlich großem Erfolg. Das sind dann ganz unterschiedliche Themen. Ein Thema jetzt war „Sonnenfinsternis", ein Thema war „Solarfahrräder", aber es gab auch ein Thema „Das Glück" oder „Hochbegabte Kinder" - und da kommen erstaunlich viele Menschen. Der Experte soll keinen Vortrag halten, sondern soll ein paar Impulse geben, und dann entsteht daraus ein Gespräch, das gutes Niveau hat und erstaunliche Intensität. Und es stehen dann jeweils Materialien, Bücher, Medien bereit, so daß man das Angesprochene vertiefen kann. In unserer zukünftigen Konstruktion kann man sich vorstellen, daß eine andere Bildungseinrichtung, zum Beispiel die Volkshochschule, darauf eingehen könnte und sagt: Wenn ihr jetzt schon einmal angefangen habt, dann bieten wir euch an, das Thema auf die eine oder andere Weise weiter zu vertiefen, wo und wie auch immer. Dabei sind dann Zeittakte vorgegeben sind. Zeittakte haben wir im Augenblick auch bei der Internet-Benutzung. Ansonsten wäre mein Wunsch, daß die Bibliothek der Zukunft - und wir sind auf dem Weg in die Zukunft - eigentlich ein Ort ist, wo immer etwas los ist, wo man so durchgehen kann, auf Menschen trifft, die ihr Wissen und Denken anbieten, auf Ideen trifft, in unterschiedlichen Inszenierungen und Ausstellungen immer wieder neu thematisiert, immer wieder neu präsentiert.

"Open-End-Area"

DIE: Dieser sehr offene und flexible Zugang zu Information und Wissen verlangt auch nach einer sehr flexiblen Organisationsstruktur. Könnten Sie sich vorstellen - unabhängig von finanziellen Problemlagen -, so etwas auch rund um die Uhr als Angebot zu realisieren?

H.J.: Das ist eigentlich meine Lieblingsvorstellung, das rund um die Uhr zu tun. Unsere neue Bibliothek hat in unserer Vorstellung Öffnungszeiten von morgens um 10.00 Uhr bis abends um 20.00 Uhr, aber wir denken uns auch eine Open-End-Area, wo Open-End-Angebote gemacht werden, und dies von morgens um 7.00 Uhr bis 24.00 Uhr.

DIE: Was kann man sich unter Open-End-Area dann vorstellen?

H.J.: Das müssen wir im Detail noch weiter ausarbeiten. Aber in dieser Open-End-Area werden auf jeden Fall Internet-Zugänge vorhanden sein, es werden auf jeden Fall Zeitungen aus der ganzen Welt angeboten werden. Ich denke mir, daß wir auch eine bestimmte Literaturauswahl immer neu zusammenstellen, damit man, wenn man das denn möchte, nachts noch einen Krimi lesen kann. Es wird das Café geöffnet sein vom ersten Frühstück bis zum Mitternachtscocktail, und wir werden auch Möglichkeiten schaffen, um Dienstleistungen der Bibliothek in dieser Zeit anzufordern. Da fällt uns aber bestimmt noch mehr ein, bis wir diese Bibliothek gebaut haben.

DIE: Das heißt, Lernen in Arrangements, wo Erlebnis, Ereignis und Wissensaneignung zusammenkommen?

H.J.: Genau um dieses Zusammenspiel geht es. Man unterscheidet nicht, jetzt fängt das eine an und dann das andere. So ist ja unser Leben: Erleben, Erfahren, Reflektieren gehen ineinander über. Ich denke, daß in der Bibliothek genauso unterschiedliche Ebenen des Erfahrens, Denkens, Lernens ineinanderfließen. Vielleicht manchmal in einer Zufälligkeit, aber nie beliebig, sondern immer mit einem hohen Qualitätsanspruch dahinter. Genau darin würde ich eine der größten Herausforderungen für eine neue Lernarchitektur sehen.