Jörg Knoll, Universität Leipzig, Mai 1999


Zertifizierung als Selbstversuch

Verwunderung ("Mußten Sie das machen - oder haben Sie es selber gewollt?"); Fragen nach dem Vorgehen ("...wie geht denn das?"); Informationswünsche zum dem Verhältnis von Aufwand und Ertrag ("...lohnt sich das?") - in dieser Mischung bewegen sich im persönlichen Gespräch die Reaktionen auf die Zertifizierung des Leipziger Lehrstuhls für Erwachsenenpädagogik nach DIN EN ISO 9001. Ausgesprochene Skepsis war auch zu hören allerdings erst zweimal ("...alle anderen Bemühungen um Qualität werden dadurch infrage gestellt" und "...die Bildungspolitik könnte das als Druckmittel benutzen"). Schriftliche Anfragen kamen von solchen Universitäts- oder Fachhochschuleinrichtungen, die an die Einführung eines eigenen Qualitätsmanagementsystems denken oder bereits daran arbeiten; als Interessenten wurden bislang Lehrstühle und Betriebseinheiten aus Geistes- und Wirtschaftswissenschaften sowie aus der Medizin registriert, außerdem Hochschulverwaltungen.

1. Selbstversuch und Praxisbezug

Die erwähnten Reaktionen zeigen, daß es inmitten aller Diskussionen um Qualität an Hochschulen ein Interesse an konkreter Erprobung gibt. Hier setzt das Leipziger Projekt an. Die äußeren Gegebenheiten sind rasch genannt:

Das Projekt "Einführung eines Qualitätsmanagementsystems nach DIN EN ISO 9000 ff. an der Professur für Erwachsenenpädagogik der Universität Leipzig mit Zertifizierung" wurde vom 1. August 1997 bis 31. Dezember 1998 unter Leitung von Prof. Dr. Jörg Knoll durchgeführt. Es wurde ein Qualitätsmanagementsystem nach DIN EN ISO 9001 eingerichtet, im Qualitätshandbuch der Professur dokumentiert und am 28. Oktober 1998 durch die "CERTQUA - Gesellschaft der Deutschen Wirtschaft zur Förderung und Zertifizierung von Qualitätssicherungssystemen in der Beruflichen Bildung mbH" zertifiziert. Um die Übertragung der Projektergebnisse zu fördern, wurde eine Arbeitshilfe erstellt: "Qualitätsmanagement an Universitäten - Leitfaden zur Einführung eines Qualitätsmanagements nach DIN EN ISO 9000 ff. im Arbeitsbereich von Professuren bzw. Lehrstühlen (Schwerpunkt: Lehre)". Die Ergebnisse fließen seit 1. April 1999 in eine "Qualitätsmanagementagentur" ein. Sie bietet Professuren und anderen Betriebseinheiten der Universität Leipzig als Supportstruktur Entlastung und Anleitung vor allem in der Phase der Entwicklung eines situationsgerechten Qualitätsmanagements. Im Rahmen spezifischer Vereinbarungen wird der erwähnte "Leitfaden" als Arbeitsinstrument eingesetzt.

Der Anlaß des Projektes lag in der Praxis. Seit einiger Zeit arbeiten Einrichtungen der Erwachsenen- bzw. Weiterbildung daran, Qualitätsmanagementsysteme nach ISO 9000 ff. einzurichten. Mehrere Einrichtungen in Leipzig und Sachsen sind mittlerweile zertifiziert. Die Professur für Erwachsenenpädagogik wurde immer wieder um Beratung gebeten. Daraus entstand die Idee, in die Problematik tiefer einzudringen, als dies durch Analyse von Texten und Begleitforschung möglich ist; sich also in die Innenseite der Prozesse zu begeben, selber ein Qualitätsmanagementsystem einzurichten und sich der Zertifizierung zu stellen, um von da aus dann Schlüsse für die Bildungsarbeit und speziell die Erwachsenenbildung zu ziehen.

Der Selbstversuch gewann eine Eigendynamik: Es zeigte sich, daß das hier erprobte Modell von Qualitätsmanagement anregende Aspekte für die inhaltliche Arbeit enthält.

2. Zum Grundgedanken

Eine einfache "Übertragung" von ISO 9000 ff. (etwa durch bloße "Übersetzung" der Qualitätselemente) auf die inhaltliche Arbeit in der Universität stößt bald an Grenzen. Gleiches gilt für die Erwachsenen- bzw. Weiterbildung. Deshalb ging das Projekt anders vor: Es wurde der Grundgedanke von Qualitätsmanagement erfaßt und von da aus eine Konkretisierung für die Gegebenheiten und das Lehr-Lern-Geschehen an einer Professur entwickelt.

Demnach bezieht sich ein Qualitätsmanagementsystem auf alle Tätigkeiten, Prozesse und Strukturen, mit denen etwas geschaffen wird (z.B. eine Dienstleistung). Seine Aufgabe ist es, die Qualität der Tätigkeiten usw. zu sichern, weil dadurch die Qualität des Ergebnisses gesichert wird. Das ist die überschaubare Grundidee von ISO 9000 ff.

In diesem Zusammenhang des Projektes wurde geklärt, aber nicht in den Mittelpunkt gerückt, was angesichts der Herkunft von ISO 9000 ff. bedeutsam ist: das Verständnis von "Produkt" und "Kunde". In der Universität - wie generell im Bildungsbereich - besteht die Besonderheit, daß

Die "Kunden" sind hier also Mit-Produzenten des Ergebnisses der Dienstleistung. Solche Besonderheiten führen nicht dazu, vom Begriff "Kunde" Abstand zu nehmen. Sie verlangen aber eine differenzierte Sichtweise. Dies leistet die sog. Prozeßorientierung. Hierbei ist es wesentlich, zwischen der Prozeß- und der Ergebnisqualität zu unterscheiden. In der Prozeßorientierung wird davon ausgegangen, daß die Prozeßqualität ausschlaggebend für das Erreichen der Ergebnisqualität ist - im Sinne der Sequenz: Die konkrete Veranstaltung findet statt. Daß sie stattfindet - also das Ereignis - , ist das Ergebnis von Tätigkeiten und Prozessen. Wie diese vorauslaufenden Tätigkeiten und Prozesse gestaltet und gesichert worden sind, ist nun wesentlich mitentscheidend für die Art und Weise, wie das Ereignis geschieht.

Im Zentrum der Qualitätsprüfung stehen also die Prozeßverläufe und -teile, die zur gewünschten Qualität des Ergebnisses führen (sollen). Somit stellen die Qualitätsziele im Sinne der Norm Prozeßziele dar, die durch die DIN EN ISO 9000 ff. geprüft werden: Die Norm bewertet die festgesetzte Qualität der Handlungsschritte (= Prozeßqualität), wodurch die Qualität der Handlungsergebnisse (= Ergebnisqualität) gewährleistet wird.

3. Arbeitsaufgaben und Gestaltungsmöglichkeiten

Gesamtsicht der Arbeit
Wesentlich für das Projekt war es, eine Gesamtsicht der Arbeit am Lehrstuhl "Erwachsenenpädagogik" zu formulieren. Ob dies ernsthaft und tatsächlich geleistet wird, ist der Prüfstein für die Entwicklung von sinnvollem und hilfreichem Qualitätsmanagement (gerade auch nach ISO 9000 ff.) in der Bildungsarbeit.

Im Falle des Leipziger Projektes geschah dies durch die Entwicklung eines Verständnisses der Arbeit als Dienstleistung. Als solche wurde definiert: "Schaffung von Lernsituationen in bezug auf das Lehren und Lernen mit Erwachsenen". Sie wurde wiederum in Teildienstleistungen gegliedert, und zwar: "Lehrveranstaltungen/Bildungs- und Fortbildungsveranstaltungen", "Anleitung und Beratung", "Prüfung als Lernprozeß", "Projekte", "Gremienarbeit", "Veröffentlichungen". Hierfür wurden Erstreckungsbereiche bestimmt: Studierende, Mitarbeiter/-innen der Universität, Mitarbeiter/-innen im Handlungsfeld Erwachsenen bzw. Weiterbildung, bestimmte Zielgruppen in Gesellschaft und Öffentlichkeit. Das Qualitätsmanagementsystem des Lehrstuhls konzentriert sich auf den Kernbereich "Studierende".

Dafür, wie diese Dienstleistung erbracht wird, wurde das Modell eines Dienstleistungskreises entworfen (mit den Hauptstationen "Entwicklung", "Realisierung", "Sicherung" und "Kontinuierliche Verbesserung"). DIN ISO 9004-2 bot die grundlegende Orientierung, ließ sich aber stark vereinfachen. Dieser Dienstleistungskreis verbindet sich mit einem "Teilprozeßkreis": Jede einzelne Station im Dienstleistungskreis ist in sich wiederum nach den Teilprozessen "Planung", "Durchführung einschließlich Auswertung", "Dokumentation" und "Verbesserung" zu gestalten.

Für die Gesamtsicht der Arbeit ist außerdem das sog. Qualitätselement 1 aus dem ISO-Normensystem bedeutsam. Hier geht es darum, die "Qualitätspolitik, eingeschlossen ihre Zielsetzungen und ihre Verpflichtung zur Qualität", festzulegen und zu beschreiben. Das hieß (und heißt für jeden Versuch, ein Qualitätsmanagementsystem im Zusammenhang mit Lehr-Lern-Prozessen einzurichten):

Sichern und strukturieren
Für den Arbeitsalltag ist das Qualitätselement 2 der ISO-Norm bedeutsam. Es fordert, "ein QM-System ein(zu)führen, (zu) dokumentieren und aufrecht(zu)erhalten". Dieses System bezieht sich auf alle Tätigkeiten. Prozesse und Strukturen, mit denen ein Ergebnis geschaffen wird (z.B. eine Dienstleistung).

Zum Qualitätsmanagement gehört die Einrichtung eines Ablaufplanes mit bestimmten Arbeitsstationen. Im Fall des Lehrstuhls wird dieser sog. Qualitätsplan auf den Jahreslauf bezogen; er umfaßt bestimmte Typen von Konferenzen, in die Studierende und z.T. auch externe Gäste einbezogen werden, um dadurch Bedarf und Interessen sowohl im Handlungsfeld als auch im Studium Raum zu geben und in die Entwicklung einfließen zu lassen.

In einem Qualitätsmanagementsystem im Anschluß an das Modell der ISO-Norm werden außerdem die übrigen Qualitätselemente wichtig und in ihrer Konkretisierung für die Universität bzw. für die Erwachsenen-/Weiterbildung anregend. Hier sei nur eine Auswahl genannt:

4. Zum Ertrag

Zur Frage nach dem Ertrag, die in manchen Reaktionen mitschwingt, sei eine kleine Zwischenbilanz angefügt.

  1. Qualitätsmanagement stellt eine Gesamtperspektive für in sich sinnvolle Einzelansätze bereit, insbesondere Evaluation, Organisationsentwicklung, Personalentwicklung, Controlling, Marketing.
  2. Einrichtung eines Qualitätsmanagementsystems bedeutet: Klären, Beschreiben , Dokumentieren, Gestalten, Überprüfen. Die Bewußtheit für die eigene Arbeit nimmt zu:

An allen diesen Stellen sind Entscheidungen nötig. Das Qualitätsmanagementsystem - auch nach ISO 9000 ff. - legt nicht fest, wie etwas entschieden wird; es verlangt allerdings, daß entschieden wird.

  1. Durch Klären, Beschreiben, Dokumentieren, Gestalten, Überprüfen, Entscheiden fördert ein Qualitätsmanagementsystem Abbau von Beliebigkeit, Erhöhung der Selbstbindung, mehr Transparenz für Teilnehmende bzw. Studierende und Mitarbeiter/-innen.
  2. Qualitätsmanagement braucht Sicherungselemente. DIN EN ISO 9001 hat in dem Lehrstuhlprojekt geholfen, dazu zu kommen. Von da aus lassen sich Verdichtungen und zentrale Ansätze weitertransportieren. Hierfür gibt es an der Universität Leipzig mittlerweile einen interessanten Beleg: Der Leitfaden für den großen Lehrbericht wurde nach der Grundstruktur des Dienstleistungskreises neu konzipiert und in diesem Sinne bereits praktiziert. Die Qualitätselemente 1 - 20 sind eine Hilfe (und im Falle der Zertifizierung auch eine Notwendigkeit) zur Klärung und Gestaltung im Detail. Eine Gesamtsicht für die Einbindung und Umsetzung dieser Elemente ist allerdings notwendig. Sie ist in den Elementen 1 und 2 angelegt. Darüber hinaus empfiehlt sich das Modell des Dienstleistungskreises in Verwendung von DIN ISO 9004-2. Ein mögliches Problem liegt darin, daß die einzelnen Elemente isoliert gesehen werden. Gerade das meint Qualitätsmanagement von der Idee her nicht: Es geht nicht um die Formalisierung und Bürokratisierung von Prozessen. Es geht vielmehr darum, sie zu prüfen und zu gestalten im Sinne von "angemessen im Blick auf das, was geschaffen und erreicht werden soll".
  3. Qualitätsmanagementsystem und Zertifizierung sind getrennt zu sehen. Für das Leipziger Projekt war die Zertifizierung eine wichtige Fremdkontrolle - im Sinne von: Es ist nicht nur der Selbsteinschätzung anheimgestellt, ob die Einrichtung eines Qualitätsmanagementsystems (in diesem Fall nach ISO 9000 ff.) praktikabel ist. Aber diese Außensicht läßt sich auch anders gestalten, z. B. kollegial.
  4. Ein Qualitätsmanagementsystem läßt sich sinnvoll nur einrichten, wenn alle einbezogen werden, die die Arbeit mittragen. Das gilt für die Universität (Studentische und Wissenschaftliche Hilfskräfte, Tutoren, die Mitarbeiterin im Sekretariat) ebenso wie für Einrichtungen der Erwachsenen- bzw. Weiterbildung. Das muß von Anfang an geschehen, d.h. schon bei der Beschreibung von Tätigkeiten und Prozessen. Diese Mitarbeiterorientierung eröffnet Gestaltungs- und Verantwortungsräume. Das Verständnis für die gemeinsamen Sache steigt deutlich. Insofern ereignet sich Motivation als inneres Sich-Bewegen, als Dabei-Sein ("Inter-esse") und nicht als "Von-außen-bewegt-werden".

Jörg Knoll: Zertifizierung als Selbstversuch. Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-1999/knoll99_01.htm. Gedruckt in: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, Heft III/1999, S. 51–52
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid