Susanne Offenbartl die_logo1a.gif (1181 Byte) August 1999


Lernarchitektur und Vergesellschaftung

Historisch ist mit Lernarchitektur eher die Vorstellung von Holzbänken verbunden, die auf eine Tafel gerichtet sind, vor der das zu Lernende verkündet wird. Dieser gesellschaftlichen Disziplinierung wurde bei Bedarf mit dem Rohrstock nachgeholfen, dem Wissen nicht nachgespürt, sondern per Trichter die vorgesehene Portion in die Köpfe eingefüllt.

Wie sehr materielle Raumgestaltung und intendierte Lerninhalte zusammenhängen, wird heute noch in alten Schulgebäuden deutlich, die den Lehrplan autoritärer Gesellschaftsstrukturen baulich umsetzten und daher stark an Kasernen erinnern. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen dem Lernen und der Herausbildung einer Gesellschaft hat Jean-Jacques Rousseau geschrieben: "Gute soziale Einrichtungen entkleiden den Menschen seiner eigentlichen Natur und geben ihm für seine absolute eine relative Existenz. Sie übertragen sein Ich in die Allgemeinheit, so daß sich der einzelne nicht mehr als Einheit, sondern als Glied des Ganzen fühlt und angesehen wird." (Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, 1762).

Auch die derzeitige Erwachsenenbildung erfüllt eine vergesellschaftende Funktion, natürlich mit ganz anderen Zielvorstellungen und baulichen Umsetzungen. Besonders augenfällig ist diese integrierende Funktion in der beruflichen Bildung. Drei Tendenzen treiben dabei die Entwicklung der Lernarchitekturen:

Die Lernarchitekturen spiegeln diese Herausforderungen im wesentlichen durch den Einsatz neuer (Kommunikations-)Medien. Durch die Auflösung des räumlichen und zeitlichen Lernzusammenhangs zwischen Menschen, die sich lernend treffen, verschwindet das Spezifische der klassischen Lernarchitekturen: die materielle und inhaltliche Ausgestaltung eines Raumes, in dem zu bestimmten Zeiten von mehreren Personen das Gleiche gelernt wird. Im Internet beispielsweise entstehen virtuelle Lernwelten, die nur noch wenige Fixpunkte setzen: Sie eröffnen einen Raum der Möglichkeiten, dessen konkrete Ausgestaltung in jedem einzelnen Lernprozeß durch jeden einzelnen Lernenden wieder neu entsteht. Jeder Lernende gestaltet eine eigene, individuelle Lernarchitektur aus dem Baukasten, der im Internet vorgefunden wird. Die Fragen: Wer lernt? Warum? Wozu? Wie? In welcher Tiefe und Breite? Mit wem? Wann? Wo? entziehen sich zunehmend dem Einfluß der Anbieter.

Dennoch tragen die virtuellen Lernkulturen zur Vergesellschaftung der Individuen und zur ständigen Rekonstruktion der Gesellschaft bei. "Der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen" (Ulrich Beck, Risikogesellschaft, 1986). Darüber hinaus gibt es auch im Internet Anzeichen von "Baustandards" und "Baustilen". Beispielsweise bietet das GMD-Forschungszentrum Informationstechnik eine Lernoberfläche an, die von Bildungsanbietern an die eigenen Bedarfe angepaßt und von den Lernenden selbstgesteuert ausgefüllt werden kann (http://bscw.gmd.de/). Das versteckte Lernziel dieser mit öffentlichen Geldern entwickelten Lernarchitektur ist das selbstgesteuerte Lernen selbst. Alles andere ist variabel, gestaltbar, individuell. Der persönliche Hintergrund und die Motivationen der Lernenden können völlig inhomogen sein. Die Breite und Tiefe der Lernprozesse gestalten die Lernenden selbst. Die Nutzung dieser Lernarchitektur aber wird zum integrierenden Ereignis.

Der Erwachsenenbildung kann der Einsatz von (Kommunikations-)Medien neuen Auftrieb geben, da die lernenden Erwachsenen nicht wie Schüler/innen während eines relativ fest definierten Teils ihrer Zeit in einem räumlich festgelegten Lernzusammenhang stehen und die Lernsituation mit anderen Verwendungsformen der Zeit an anderen Orten (Arbeit, Familie, Hobby ...) konkurriert. Die Grenze zwischen Arbeiten und Lernen verschwimmt. Das heißt nicht nur, daß Imperative aus dem Arbeitsleben in Lernsituationen einfließen, sondern auch, daß Aspekte von Lernen in die Arbeitssituation getragen werden können. Virtuelle Lernarchitekturen machen dies räumlich und zeitlich möglich, da sie raum- und zeitunabhängig sind. So bietet z.B. der Internet-Service am DIE (http://www.die-frankfurt.de/esprid/) Dokumente und Kommunikationsmöglichkeiten online an. Mitarbeiter aus Forschung und Praxis der Erwachsenenbildung können mit diesem Angebot an ihren Arbeitssituationen orientiert lernen.

Der Umbau der Erwachsenenbildung in Richtung virtueller Lernarchitekturen wird ihren aufklärerischen Stil verwässern und gleichzeitig den Lernenden neue Wege anbieten. Ihre sozial integrierende Wirkung wird sie nur behalten, wenn sie die gesellschaftliche Tendenz zu virtuellen Möglichkeitsräumen mit gestaltet. Ohne diese Weiterentwicklung könnte die Erwachsenenbildung zu einem Ziel historischer Rundfahrten zur Geschichte der Aufklärung werden.


Susanne Offenbartl: Lernarchitektur und Vergesellschaftung. Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-1999/offenbartl99_09.htm. Gedruckt in: DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung, Heft IV/99
Dokument aus dem Internet-Service des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. – http://www.die-frankfurt.de/esprid