Winfried Heidemann, Hans-Böckler-Stiftung, Dezember 2000
Diskontinuierliche Erwerbsbiografien im Spiegel der europäischen Berufsbildung
Statement zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder der Weiterbildung"
1. Die europäischen Akteure orientieren sich am Wandel der Erwerbsarbeit
Europäische und internationale Berufsbildungs- und Beschäftigungspolitik wird ganz wesentlich von den Annahmen institutionell sich wandelnder Erwerbsarbeit, sich auflösender Normalarbeitsverhältnisse, der Abkehr der Arbeit von Lebensberufen oder des ständigen Berufs- und Arbeitsplatzwechsels angetrieben. Die Akteure orientieren sich offenbar schon längst an einem Bild diskontinuierlicher Erwerbsarbeit, auch wenn es in manchen Einzelheiten unscharf oder spekulativ sein mag. In den einschlägigen Dokumenten – vom EU-Weißbuch "Auf dem Wege zur kognitiven Gesellschaft" über die beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU, die Erklärung des Ratsgipfels von Lissabon im März 2000 und das soeben vorgelegte EU Memorandum zum Lebenslangen Lernen bis hin zu den vorbereitenden Arbeiten für eine Bildungsministerkonferenz der OECD im Frühjahr 2001 – schlägt sich dies in der Entwicklung von individueller Beschäftigungsfähigkeit, von Selbstverantwortung für die eigene Personalentwicklung und von Unternehmungsgeist nieder.
Wenn man die Entwicklungen auf dem Gebiet der Weiterbildung in Europa in den letzten Jahren mit dem Bild vergleicht, das wir 1995 in unserer Darstellung der Situation der Weiterbildung gezeichnet haben, dann stellt man fest: Die Bedingungen für Weiterbildung – und ich beziehe das hier vorrangig auf berufliche Weiterbildung - haben sich angesichts wirtschaftlichen Strukturwandels, einer wissensbasierten Ökonomie und gesellschaftlicher Wandlungen (Stichwort: Individualisierung) stark gewandelt. Wir beobachten einen Paradigmenwechsel von der Angebots- zur Nachfrageorientierung. Nicht mehr die Fragen und Probleme der Anbieter von Weiterbildung, sondern die der Nachfrager, seien es Individuen oder institutionelle Nachfrager (Betriebe) stehen im Mittelpunkt. Damit einher geht eine stärkere Betonung der Eigenverantwortung für den persönlichen Bildungsprozess.
Angesichts der neueren Entwicklungen wird das klassische Modell der Ressourcenaufbringung für die Weiterbildung, wie es für die meisten europäischen Länder beschrieben wurde, zunehmend obsolet. Dieses sah grob so aus: Die Arbeitgeber zahlen die für die betriebliche Entwicklung nötige Weiterbildung, die Individuen zahlen die Weiterbildung für die persönliche berufliche (Karriere-)Entwicklung, der Staat zahlt die Weiterbildung der Arbeitslosen. Doch bereits lange förderten die Betriebe auch individuelle Weiterbildung ihrer Beschäftigten, zahlten Beschäftigte auch für betrieblich nützliche persönliche Weiterbildung, förderte der Staat betriebliche und auch (allerdings weniger) individuelle Ausgaben für Weiterbildung. Unter dem Einfluss der sich ändernden arbeitsbiografischen Muster löst sich das traditionelle finanzielle Ressourcenmuster weiter auf. Anzeichen dafür sehen wir in fast allen Ländern Europas.
Angesichts dessen muss die Aufbringung der Ressourcen neu organisiert werden. Dabei sind allerdings neben den finanziellen auch die Ressourcen Zeit, Organisation des Lernprozesses (in Bildungseinrichtungen wie am Arbeitsplatz) einzubeziehen. Ferner muss eine Stärkung der individuellen Verantwortung – die ja auch einem aufgeklärten Menschenbild entspricht – mit einer Politik der Befähigung der Individuen – einem "Empowerment" – einhergehen. Welche Anregungen bieten hier Entwicklungen in Europa? Während wir Mitte der 90er Jahre noch in vielen Ländern Bemühungen zur Einrichtung kollektiver Fonds – tarifvertraglicher oder öffentlicher Art - sahen, finden wir heute verstärkt individuelle Bildungskonten in der Diskussion und in Erprobung. Individuen sparen auf (Bank-)Konten für die Teilnahme an Bildungsmaßnahmen an, die meist öffentlich, aber auch von Arbeitgebern, gefördert werden. In Österreich gibt es in verschiedenen Bundesländern Erfahrungen mit einem "Bildungskonto" seit Mitte der 90er Jahre, in Großbritannien baut die Labour-Regierung seit 1999 ein System von Individual Learning Accounts auf, in Schweden hat eine Regierungskommissarin soeben ein Modell für individuelle Bildungskonten mit steuerlicher Förderung vorgeschlagen, das im kommenden Frühjahr vom Parlament beschlossen werden soll. Die OECD versucht den Gedanken der Bildungskonten unter dem Aspekt der Mobilisierung privater Ressourcen zu pushen. Eine Auswertung erster Erfahrungen zeigt jedoch:
- Individuelle Lernkonten sind kein geeignetes Instrument für eine entscheidende Vermehrung von Ressourcen,
- sie können öffentliche Finanzierung und Finanzmittel der Arbeitgeber nicht ersetzen,
- aber sie sind ein Mittel zur Förderung individueller Bereitschaft der Teilnahme an Weiterbildung und
- zur Stärkung der Position des Individuums auf dem Weiterbildungsmarkt und zur Eröffnung bislang nicht vorhandener Wahlmöglichkeiten.
Als ich vor einigen Monaten die Beteiligung eines deutschen Pilotprojektes an einem von Großbritannien initiierten europäischen Lernkonten-Projekt sondierte, wurde mir in einem verantwortlichen Landesministerium entgegnet: "Dies wäre eine Systemveränderung. Denn wir fördern nicht Individuen, sondern Betriebe und Bildungsträger." Dies zeigt, wie weit Deutschland noch hinter der Entwicklung in Europa her ist.
Winfried
Heidemann: Diskontinuierliche Erwerbsbiografien im Spiegel der europäischen
Berufsbildung. Statement zum DIE-Forum Weiterbildung 2000 "Zukunftsfelder
der Weiterbildung". Online im Internet – URL: http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/doc-2001/dieforum_heidemann_01.htm
Dokument aus dem Internet-Service Texte
Online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung e. V. –
http://www.die-frankfurt.de