DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Periphere Region

Lernende Regionen am innerdeutschen Rand?

Matthias Pfüller

Prof. Dr. Matthias Pfüller arbeitet als Hochschullehrer für „Bildung und Kultur in der Sozialen Arbeit“ in Sachsen und als Leiter der Projektgruppe „Gedenkstättenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern“ in Schwerin; er ist stellvertretender Vorsitzender der Kommission Erwachsenenbildung im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten.

Wie war die Situation in den Regionen der ehemaligen DDR und des ehemaligen Westens? Welchen Verlauf nahm ihre Entwicklung nach und durch die „Wende“? In welchem Kontext stehen strukturelle Schwierigkeiten einer Region und „Lernen“? Matthias Pfüller wagt sich an die Beantwortung dieser Fragen und riskiert eine Prognose für die Zukunft.

Abstract: Matthias Pfüller outlines the historical development of central and peripheral regions in the former GDR and former West Germany. Both qualities are found to be relatively persistent. Still, there have been successful attempts at bringing centre and periphery closer together, such as the FRG „educational offensive“ in the 1960s and similar efforts in the GDR. Since the 1990s, however, Germany’s inner dissimilarities have not been further reduced, but are rather on the increase. The author doubts that this will change as the EU is extended eastward. Against this background he argues in favour of intensive efforts in basic and further education.

Im Sommer dieses Jahres (2001) gab es Grund zum Jubeln für die neuen Bundesländer – Freude für Leipzig (und gleichzeitig Trauer für Schwerin): BMW entschied sich dafür, dort – und an keinem anderen europäischen Standort – ein neues Werk für ungefähr 5.000 Mitarbeiter/innen aufzubauen. Der Bundeskanzler zeigte sich befriedigt; es sah so aus, als sei die Kritik seines Parteifreundes und Bundestagspräsidenten, Wolfgang Thierse, widerlegt, der kurze Zeit vorher erklärt hatte, die wirtschaftliche und soziale Lage in den neuen Bundesländern stehe kurz davor, negativ „umzukippen“. Wie sieht es also aus? Sind die neuen Bundesländer nun die „verlängerte Werkbank“ oder nicht? Anders gefragt: Gehören sie zur „inneren Peripherie“ der benachteiligten Gebiete, oder haben sie aufgeholt?

Die „innere Peripherie“ in Deutschland nach der „Wende“

Die Leser/innen in der „alten“ Bundesrepublik wissen, was deren Regionen innerer Randständigkeit waren: Ostfriesland etwa, der Bayerische Wald oder das Hannoversche Wendland – Regionen, deren Probleme sich beispielsweise in den damals als sehr hoch erscheinenden Arbeitslosenzahlen um ca. 12% ausmachen ließen. Auch die Bewohner/innen der ehemaligen DDR wussten gut, wo ihre strukturschwachen Gebiete lagen, die innere „Entwicklungshilfe“ brauchten: Die Lausitz, die Priegnitz und große Teile Mecklenburg-Vorpommerns etwa erhielten solche Hilfe durch den gezielten Aufbau von Kombinaten und durch die Entsendung von „Erfahrungsträgern“ für einen solchen Aufbau, u. a. aus Sachsen und aus Berlin (was im Übrigen viel zu deren notorischer Unbeliebtheit beitrug).

„Innere Randständigkeit“ oder „innere Peripherie“ zeigte sich aber nicht nur am „Industriebesatz“. Sie war gleichzeitig auch immer eine nachhaltige Strukturschwäche. In der alten Bundesrepublik gab es dafür den länderinternen Finanzausgleich, der beispielsweise in den 1950er und 1960er Jahren dafür sorgte, dass Bayern aus der Randständigkeit herauskam (woran man sich dort heute nicht mehr so gern erinnern möchte). Ein anderes Beispiel, an dem sich erwies, dass die Hilfe nicht immer nachhaltig wirken kann, waren die alten „Zonenrandgebiete“ oder auch Ostfriesland: Dass in Emden ein VW-Werk gebaut wurde, förderte die Region ebenso wenig durchschlagend wie die ohnehin etwas exotisch wirkende, aber sehr erfolgreiche Meyer-Werft in Papenburg. Andere „Fördermaßnahmen“ fielen den Regierenden gar schmerzhaft auf die Füße, wie z. B. die Versuche, in Gorleben oder Wackersdorf kräftige Kerne der Atomindustrie in benachteiligte Regionen zu implantieren.

Seit der „Wende“ hat sich das Bild etwas verschoben: Die Randständigkeit in den alten Bundesländern zeigt sich als doch recht relativ (wenn auch keineswegs als aufgehoben), während scheinbar alle neuen Bundesländer inzwischen als bedenklich strukturschwach erscheinen. Oder doch nicht? Ist nicht etwa die Industrieregion Berlin oder gerade das klassische Industrieland Sachsen doch in der Lage, den Rückstand aufzuholen, der durch die DDR-Misswirtschaft und die fragwürdigen Experimente der Treuhand entstanden ist und vertieft wurde? Anders gefragt: Kann man strukturelle Benachteiligung und Rückstand in den Regionen der inneren Peripherie in Deutschland durch Wirtschaftsförderung, strukturelle Investitionen und „Lernen“ überhaupt aufholen?

Zentren, Peripherie und „Lernen“ in Deutschland

Die Wirtschafts- und Industriegeschichte in Deutschland seit etwa 1850 ist selbstverständlich auch die Geschichte eines stetigen, komplexen, auch soziokulturellen Lernprozesses, der sich u. a. auch regional durchdifferenziert hat. Sehr bald war klar, dass sich Zentren des Fortschritts herausbildeten – so u. a. im klassischen frühkapitalistischen Wachstumsgebiet Sachsen, in Berlin, im Ruhrgebiet usw. – , in denen sich nicht nur Technologie, Wirtschafts- und Finanzkraft, sondern auch Wissen, Kultur und Bildung bündelten. Diese Herausbildung von Zentren erwies sich als stabil – was einmal Zentrum war, blieb es in der Regel auch weiter im Industrialisierungsablauf; wenige kamen hinzu, und einige schwächten sich ab (wie das Ruhrgebiet oder die norddeutsche Wer ftenregion).

Ebenso stabil blieb der Charakter derjenigen Regionen, die in eine Reservefunktion den Zentren gegenüber eintraten: Reservenan Arbeitskräften, an Erholungsraum, von notwendigen Rohstoffen wie Wasser, aber auch Reserveraum für Müll, für Militär usw. Diese Reserveräume waren die „innere Peripherie“ – und blieben sie auch. Wie mit den Ländern der „Dritten Welt“ gab und gibt es „ungleichen Tausch“: Trotz allen Finanzausgleichs und aller Förderung fließt weniger an Geld und Ressourcen in die innere Peripherie, als von dort aus in die Zentren geht.

Selbstverständlich ist das kaum ein Problem, solange es ökonomische „Schönwetterzeiten“ gibt. Dunklere Wolken zeichnen sich ab, wenn es – wie in den frühen 1960er Jahren – zu strukturellen Defekten kommt. Damals war es die von Georg Picht auf den Begriff gebrachte „Bildungskatastrophe“, die verkürzt am Beispiel illustriert etwa besagte, dass eine begabte katholische Bauerntochter aus dem Bayrischen Wald (sie hätte übrigens beinahe auch in der DDR aus der Lausitz stammen können) eine sehr schlechte bildungsbiographische Prognose hatte und der deutschen Begabtenreserve nicht nützen konnte.

Es hat sich weiter herausgestellt, dass man zwar mit großem Aufwand und vielen Mitteln an einzelnen Faktoren wie z. B. „ Bildung“ etwas ändern kann. Andere, strukturelle Änderungen jedoch verlangen in langen, günstigen konjunkturellen Phasen eine jahrzehntelange Anstrengung. In Bayern, z. T. auch in einigen Gebieten Baden-Württembergs hat das zu Erfolgen geführt – allerdings nicht immer im Sinn einer Industrialisierung mit dem Gewicht einer zentralen Funktion, sondern häufig auch im Sinn der Entstehung eines relativen Wohlstands im Rahmen der Reservefunktionen, die zunehmend wichtiger wurden, wie z. B. agrarische Veredelungswirtschaft, oder im Status eines gehobenen Naherholungsgebiets, das auch für Ansiedlungen und Zuzüge interessant wurde (wie z. B. der Landkreis Lüchow-Dannenberg, in dem sich Journalisten, Künstler und Alternative anzusiedeln begannen).

In der ehemaligen DDR hat die SED das klassische Industrialisierungsmuster zu entwickeln versucht, ohne immer auf die kapitalistische Standortlogik Rücksicht zu nehmen. Die Industrieansiedlungen und der Hafenausbau im heutigen Mecklenburg-Vorpommern ergaben sich aus den Anforderungen an das Wirtschaftsgebiet DDR im Sinne einer Realisierung des „ Sozialismus in einem halben Land“ – und nicht aus Ressourcenorientierung oder gar einer innerdeutschen Arbeitsteilung in Produktion und Distribution. Allerdings hat das die bestehenden Zentralitäts-Funktionszuweisungen nicht nachhaltig verändern können. Eine dauerhafte Veränderung ergab sich jedoch in zwei Punkten: Die staatlich-planwirtschaftlichen Regelungen verlangsamten die Landflucht bedeutend, und die Herausbildung einer neu strukturierten Bildungsreserve durch das Bildungssystem der DDR erwies sich als ausgesprochen erfolgreich.

Dennoch bleibt festzuhalten: Die Zentren und internen Peripherien, die ihren Status bereits in der Frühphase der Industrialisierung gewonnen haben, ändern diesen Status entweder nur sehr langsam und im Zuge größerer internationaler Gewichtsverlagerungen, oder sie verbessern bestenfalls den gegebenen Status quantitativ, nicht jedoch qualitativ. Hat sich das nun seit der Wende geändert, und werden sich die Perspektiven etwa aufgrund der neuen technologischen (und auch politischen) Gegebenheiten verschieben?

Die neue Bundesrepublik und die EU

In der neuen Bundesrepublik seit 1990 hat sich das schon deutlich erkennbare Süd-Nord-Gefälle verstärkt: Die altindustriellen Zentren des Nordens und Westens sind in ihrer Bedeutung abgesunken, die neuen Industrie- und Dienstleistungsorte im gesamten Süden (d. h. südlich des Mains) sind aufgestiegen. Daran hat auch der Hinzutritt der neuen Bundesländer nichts geändert. Neu hat sich ein West-Ost-Gefälle ergeben, das nicht nur die neuen Bundesländer insgesamt betrifft, sondern sich im Großen und Ganzen innerhalb dieser Länder auch noch einmal wiederholt (abgesehen vielleicht von Thüringen). Dazu kommt, dass sich das bereits in der DDR bestehende Süd-Nord-Gefälle nicht etwa erledigt hat, sondern ungefähr in die Verhältnisse der 1950er Jahre zurückgefallen ist: Alte Kerne, wie z. B. das mitteldeutsche Chemierevier, wurden bestätigt, neue Industriegebiete, wie etwa in Mecklenburg-Vorpommern, wurden fast komplett zurückgebaut (mit der Ausnahme von Rostock).

Dieser strukturelle Nachteil wird sich nach allen zur Ver fügung stehenden Daten und Prognosen in absehbarer Zeit auch nicht verändern. Insofern ist Wolfgang Thierse eher recht zu geben als dem Kanzler Gerhard Schröder: Die Situation verschlimmert sich strukturell eher, als sie sich verbessert. Dafür nur ein (deutschlandintern wichtiges) Beispiel: Inzwischen gibt es zweifellos eine gute (Aus-)Bildungsstruktur in den neuen Ländern. Die Ergebnisse kommen ihnen jedoch kaum zugute, weil es keine Arbeitsplatzangebote für die so qualifiziert ausgebildeten jungen Leute gibt. Das gilt vor allem für junge Frauen, die inzwischen durchschnittlich 55% eines Abiturjahrgangs stellen: Sie gehen häufig in die alten Bundesländer, wo man sie zumeist auch gut brauchen kann. Eine einzige Fabrik von BMW kann daran kaum etwas ändern: Es gibt auch bei Berücksichtigung der Zulieferindustrien keine großen „Mitnehmereffekte“ mehr wie etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts.

Diese Situation wird sich innerhalb der EU nach deren Entwicklungsgesetzmäßigkeiten nicht sehr bedeutend ändern. Sowohl im ökonomischen wie auch im bildungskulturellen Bereich dominiert eine klare Marktorientierung. Fördermöglichkeiten für die Herausbildung einer quantitativ besseren Ausstattung in den Gebieten der inneren Peripherie sind zwar auch vorgesehen, sie sind aber tendenziell eher unbeträchtlich, wenn es darum geht, eben diejenigen Faktoren zu ändern, die das Leben in dieser Peripherie attraktiv machen. Das ist um so bedauerlicher, als gerade die neuen Technologien im Prinzip eine Verlagerung von Arbeitsplätzen insbesondere im Dienstleistungsbereich ermöglichen könnten, so dass es zu einer Rückwanderung in die innere Peripherie (und nicht nur in die „Speckgürtel“ der bestehenden Zentren und Großstädte) kommen könnte. Um aber hier gewichtigere Änderungen herbeiführen zu können, müssten in der Verwaltung ebenso drastische Paradigmenwechsel im ökonomisch-strukturellen Denken stattfinden wie in der Wirtschaft selbst.

Die Umbrüche für die Bundesrepublik sind noch längst nicht beendet. Auch wenn wir annehmen wollen, dass uns die Einführung des Euro und die fortgesetzte Durchdringung mit neueren Technologien nicht nachhaltiger „erschüttern“, als das bisher schon der Fall ist – wir werden mit der anstehenden Osterweiterung der EU einer Entwicklungslogik ausgesetzt, die zwar sicherlich im Sinn der Friedens-, vielleicht auch der Umwelt-Sicherung und -Bewahrung überzeugend ist, aber wahrscheinlich nicht im Sinn einer Behebung unserer internen Ungleichgewichte.

Ein Blick auf die Verschiebungen im ökonomischen Kraftfeld der EU zeigt, dass die Verlagerung des Gewichts der Zentren in den Süden der BRD auch geographisch sinnvoll ist. Zur Zeit bündeln sich dort die wirtschaftlichen Energien, allerdings ohne in einem grundsätzlich situationsverändernden Maßstab Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn für die Ziel-1-Fördergebiete der bisherigen EU die Unterstützung ausläuft, wird sich ein weitaus höherer Druck als bisher dahingehend ergeben, dass die Gebiete, die sich jetzt im Status der inneren Peripherie befinden, eine neue Rolle und Funktionsbestimmung finden, die sich wirtschaftlich, sozial und kulturell attraktiv darstellt. Dafür gibt es bisher keine Rezepte, weil das Problem völlig ungenügend wahrgenommen und definiert wird. Es gäbe reiche Betätigungsfelder für Grund-, Fort- und Weiterbildung, für Bildung überhaupt – unter anderem auch deswegen, weil nur Bildung in der Lage sein kann, ethnisch-kulturelle, religiöse und andere Spannungen präventiv mäßigend zu beeinflussen, woran ja auch die Wirtschaft ein Interesse haben müsste. Gerade hier versagt jedoch bisher auch die EU, die solche Bildungsaufgaben fast ausschließlich unter dem Aspekt der Arbeitsmarktbezogenheit sieht. Das wiederholt sich leider in den neuen Bundesländern ganz ausgeprägt; insofern ist mit Blick auf die Erweiterung der EU leider doch viel Skepsis gerade hinsichtlich der Regionen der internen Peripherie angebracht: Dort hat sich die Fremdenfeindlichkeit oft deutlicher entladen, als es in den Zentren zugelassen wurde. Wir können nur hoffen, dass sich das alles nicht zu einem erheblichen Problem für Regierungs- und Steuerungsfähigkeit auswächst.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Dezember 2001

Matthias Pfüller, Periphere Region. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/12002/periphere_region.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp