DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

"Bewusstseinsprozesse einleiten, um Lernblockaden aufzulösen"

Gespräch mit Evelyn Krings (E.K), Michaela Visosky (M.V.) und Christian Rietschel (C.R.)

Deutschunterricht steht im Mittelpunkt des vom Arbeitsamt finanzierten Qualifizierungslehrgangs zur Berufsorientierung für anerkannte arbeitslose Asylanten und Migranten an der Volkshochschule Rüsselsheim. – Das DIE-Gespräch über Lernwiderstände mit den Deutsch-Lehrerinnen Evelyn Krings (E.K), Michaela Visosky (M.V.) und dem Lehrgangsleiter Christian Rietschel (C.R.), auch zuständig für die sozialpädagogische Begleitung des einjährigen Lehrgangs, führten Susanne Offenbartl und Herbert Bohn (DIE).

 

DIE:  Worum geht es in Ihrer Maßnahme, und woher kommen die Teilnehmer?

C.R.:  Wir haben anerkannte Asylbewerber, die zum ersten Mal dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, wie man so schön sagt, und wir haben arbeitslose Migranten, die hier qualifiziert werden für den Arbeitsmarkt. Sie kommen aus aller Herren Länder – aus der Türkei, aus Marokko, Eritrea, Somalia, Afghanistan, Griechenland, aber auch aus Russland oder der GUS. Schwerpunkt ist Deutschunterricht, und dann gibt es eine Menge an Berufsorientierung, Berufsfindung, Vorstellungs- und Bewerbungstraining, Institutionskunde, Fachpraxis, Computer.

DIE: Kommen die Teilnehmer freiwillig oder werden sie vom Arbeitsamt "geschickt"?

C.R.: Die Teilnehmer kommen alle freiwillig zu uns. Und sie haben völlig unterschiedliche Voraussetzungen: Da sind Menschen, die in ihren Heimatländern oder in ehemals "befreundeten Bruderländern" studiert haben, bis hin zu Leuten, die nie eine Schule besucht haben.

DIE: Dann kann man davon ausgehen, dass es Lernprobleme, Lernschwierigkeiten, aber auch Lernwiderstände gibt. Worin bestehen diese?

M.V.: Ich hatte oft Schwierigkeiten mit Teilnehmern, weil ich einfach gemerkt habe, dass die Motivation zum Lernen fehlt. Das äußern sie auch selbst. Sie sagen: Ich möchte Deutsch lernen. Sie fragen sich dabei aber, für was und in welchem Zusammenhang. Lernwiderstände gibt es aber auch selbst bei denen, die motiviert sind. Eine ganz große Schwierigkeit bei unseren Teilnehmern ist das soziale Umfeld, in dem sie leben, und die Probleme, mit denen sie leben. Sie haben solche großen Probleme in ihrem privaten Leben, in ihrem sozialen Leben, und bringen diese Probleme mit in den Unterricht. Dadurch sind sie wirklich teilweise stark gehandicapt. Oft fehlt die Motivation, aber selbst wenn sie da ist, merkt man einfach: Sie gehen ein paar Schritte nach vorne und es geht immer wieder nach hinten zurück.

DIE: Auf welchen Ebenen liegen die Probleme?

E.K.: Die Probleme liegen meistens auf einer Ebene, die uns zum Teil verschlossen bleibt, die schwierig für uns zu erschließen ist und die auch oft nur mit psychosozialer Betreuung und sozialer Pädagogik irgendwie aufscheint. Sehr oft sind Integrationsprobleme damit verquickt, also in der Familie, im Beruf, auch in der Lerngruppe, die sich bildet für ein Jahr. Es sind verschiedene mögliche Mikrokosmen, wo Störungen sein können, die das Lernen stark beeinträchtigen.

DIE: Wie erfahren Sie von diesen Problemkreisen? Sprechen die Teilnehmer darüber?

C.R.: Bevor die Kurse neu anfangen, mache ich mit jedem Teilnehmer ein Eingangsgespräch, um ein bisschen was über den sozialen Hintergrund zu erfahren. Da kommen meistens schon ganz viele Punkte zum Vorschein, wie z.B. völlige Überschuldung, Familienprobleme, zu lange schon arbeitslos, Kriminalität. Dann Statusprobleme, vor allen Dingen bei den anerkannten Asylbewerbern, die ein Studium absolviert haben. Sie sprechen häufig drei, vier Fremdsprachen, aber nicht Deutsch, und haben natürlich erst einmal Vorstellungen davon, was sie hier alles machen könnten. Und sie blockieren sich damit völlig selbst, blockieren sich manchmal auch im Unterricht, weil sie meinen, eigentlich müssten sie an ihre Karriere hier nahtlos anschließen können. Das muss man erst mal abbauen.

DIE: Sie haben es aber doch nicht hauptsächlich mit Hochschulabsolventen zu tun?

M.V.: Nein, es gibt auch völlig Lernunerfahrene, die nie in der Schule waren oder vielleicht nur zwei, drei Jahre in die Schule gegangen sind, die also gar nicht wissen, wie sie lernen können. Aber wir haben relativ viele Akademiker bei uns mit der Blockade: Wir sind hier eigentlich unterfordert, eigentlich müssten wir etwas ganz anderes machen. Und dann sieht man selbst bei lernerfahrenen Akademikern, dass es auf einer ganz anderen Ebene Blockaden gibt. Nicht nur "ich bin unterfordert", sondern weil die sozialen Probleme so stark sind.

DIE: Was bedeutet das konkret?

M.V.: Ein Teilnehmer etwa, der vorher Wirtschaftswissenschaften in Prag studiert hat, musste erst mal Tschechisch lernen, hatte sein Studium dort abgeschlossen. Er hatte seine Schwierigkeiten bei einem Gespräch dann auf den Punkt gebracht: Er musste erst einmal lernen, die Möglichkeiten, die er hierzulande in völlig anderen Berufsfeldern hat, realistisch einzuschätzen. Dann war er motiviert und offen dafür: Er hat gesagt, er macht alles, er will arbeiten. Er macht jetzt eine Umschulung zum Altenpfleger. Der hat gesagt, er kann es einfach nicht mehr leisten – es reicht ja nicht, in den Unterricht zu kommen und sich hier hinzusetzen, und das aufzunehmen. Das ist kein Lernen, sondern es muss ja dann weitergearbeitet werden. Er musste einsehen, dass er jetzt nicht mehr so lernen kann wie früher. Und zwar noch nicht einmal vom Alter, sondern einfach von seinem Umfeld her: Er hat Familie und Kinder, und da bleibt ihm kaum noch Zeit, das alles aufzuarbeiten.

C.R.: Wir haben Teilnehmer im Alter von ungefähr 26 bis 56, also eine relativ große Spanne. Deswegen ist auch die Kategorisierung von Lernwiderständen schwierig, weil natürlich eine Hauptursache die Umstände sind, in denen die Leute leben. Das ist eine ganz zentrale Kategorie.

DIE: Welche anderen Lernblockaden erleben Sie?

M.V.: Wenn zum Beispiel jemand das, was er gestern prima konnte, am nächsten Tag gar nicht mehr kann. Wenn er an der Tafel steht und nicht mehr weiß, wie er "Wie geht es dir?" schreiben kann, obwohl er es vorher perfekt konnte, und noch viel kompliziertere Sachen. Widerstände äußern sich auch etwa in der Form, dass Teilnehmer deutlich signalisieren: Ich will nicht gefragt werden.

C.R.: Oder der Herr T., der eigentlich zu jeder Minute betont hat, dass er hier überhaupt nichts gelernt hat. Dass wir Lehrer ganz entsetzlich wären und dass er jetzt zum Arbeitsamt geht und sich darüber beschwert. Man konnte ihm dann immer sagen: Sie hätten mal hören müssen, wie Sie zu Anfang gesprochen haben. Wir haben daraus eine Konsequenz gezogen, indem wir diesmal alle Teilnehmer auf Kassette aufgenommen haben, um ihnen am Ende vorzuführen, wie sie am Anfang gesprochen haben.

M.V.: Ich habe das für mich so gewertet, dass es auch einfach ein Nachfragen nach besonderer Zuwendung von Seiten dieses Teilnehmers war. Der brauchte unheimlich viel, also hat er sich fast alles hier abgeholt in den acht Stunden täglich, was man so brauchen kann. Der war ziemlich einsam im Grunde.

"Eigene Mäuerchen gebaut"

DIE: Wie gehen Sie denn mit solchen Phänomenen um? Sprechen Sie die Leute direkt darauf an?

M.V.: Sicher. Nur sind die Probleme oft sehr vielschichtig. Ein Teilnehmer etwa hatte deutlich Probleme mit sich selber, also psychische Probleme. Er war nicht lernunerfahren, aber er hatte nicht die Fähigkeit, seine Lernerfahrungen so zu organisieren, dass er davon auch profitieren konnte. Ich bin eigentlich erst zum Schluss dahinter gekommen: Da hat sich jemand die eigenen Mäuerchen gebaut.

E.K.: Anspruch und Wirklichkeit klaffen oft sehr drastisch auseinander. Manche Teilnehmer sind auch sehr ehrgeizig. Oft habe ich es nicht geschafft, damit richtig umzugehen. Also oft Kapitulation, manchmal diese klassischen Ganz-oder-gar-nicht-Lösungen: gehen oder bleiben.

C.R.: Mit den Akademikern kann man darüber reden, da kann man sagen: Wenn ihr nicht in der Lage seid, alles, was ihr bisher gemacht habt, zu vergessen, und mit einem völlig neuen leeren Kopf überlegt, was ihr hier machen könnt mit euren Qualifikationen, werdet ihr hier keinen Fuß auf die Erde kriegen. Das kann und muss man so klar mit denen bereden. Der Statuswechsel ist für diese Gruppe eine ganz zentrale Frage. Wir haben Teilnehmer vom Vier-Sterne-General bis zum Archäologen, bis zum Wirtschaftswissenschaftler. Viele, die nur im "falschen System" studiert haben. Im Moment haben wir auch eine ganze Menge Ingenieure, aber auch Diamantenhändler, Baustellenhilfsarbeiter ...

DIE: Wäre es nicht sinnvoller, die Akademiker und Nicht-Akademiker zu trennen?

C.R.: Das ist nicht sinnvoll, weil manche Teilnehmer z.B. aus der Türkei, andere aus Russland kommen, die haben zum Teil eine sehr gute Schulausbildung. Die halten im Lerntempo und in der Fähigkeit, den Stoff zu verarbeiten, mit solchen Akademikern absolut Schritt. Und die Lernschwierigkeiten betreffen auch durchaus Akademiker. Das kann man gar nicht so trennen.

E.K.: Dann gibt es diejenigen, die aus Arbeitsverhältnissen ausgeschieden sind. Manche sind abgefunden worden, andere sind einfach gekündigt worden, weil sie Stress hatten. Alle außer den anerkannten Asylanten haben hier schon mal gearbeitet, deshalb finanziert sie das Arbeitsamt. Es geht um Reintegration in den Arbeitsmarkt nach einer Qualifizierung.

C.R.: Es gibt eine andere Gruppe von Teilnehmern, die entlassen worden sind, die unter unheimlich starkem finanziellen Druck stehen, die wahnsinnig intensiv Arbeit suchen. Die sind von diesem Gedanken zum Teil so besessen, dass da nichts anderes in den Kopf reingeht. Und da versuchen wir ihnen klarzumachen, dass wir hier etwas für sie tun können in Richtung Arbeit suchen. Über das Internet kommen wir in den Computer des Arbeitsamtes, man kann die Teilnehmer daneben setzen, und die haben das Gefühl, das ist wie im Arbeitsamt, nur mit viel besserer Beratung und wesentlich gemütlicher. Da kann man auch Barrieren abbauen, indem die nämlich sehen: "Die nehmen das sehr ernst, was wir hier wollen", und dann sind sie auch bereit, sich im Unterricht mehr und mehr zu öffnen.

E.K.: Und die persönliche Arbeitsbiographie wird auch berücksichtigt. Oft sind da ganz massive Brüche, zum Beispiel wenn jemand noch fünf Jahre nach einer Kündigung immer noch da hängt. Da müssen sich Bewusstseinsprozesse vollziehen, die die Teilnehmer zum Teil alleine nicht leisten können.

C.R.: Das ist übrigens ein Punkt, warum es gut ist, dass nur Männer in dem Kurs sitzen. Würde da eine Frau sitzen, würden sie über ihre Arbeitsbiographien so nicht reden.

E.K.: Man würde sich ja auch zum Teil schämen: Wenn man aus klassisch patriarchalischen Strukturen kommt und die Versorgerrolle innehatte, ist das so demaskierend.

DIE: Können Sie konkrete Fälle schildern, bei denen Lernwiderstände positiv aufgelöst worden sind?

M.V.: Im Unterricht kann man das Lernen nur bis zu einem bestimmten Punkt beeinflussen, und zwar ganz gut. LetztesJahr im Deutschunterricht hatten wir zwei Gruppen, und wir konnten auch ganz unterschiedlich mit diesen Gruppen arbeiten. Die Gruppe war klein, das waren sechs bis acht, das war natürlich optimal, man konnte auf sie eingehen. Dann weiß man wirklich, wo die Schwierigkeiten sind. Da kam bei einem bestimmten Teilnehmer ein Punkt, wo es nicht mehr weiterging mit dem Lernen.

C.R.: Er hatte dann aus eigenem Antrieb Arbeit gesucht und gefunden, und nachdem er die Arbeit hatte, ging es ihm ganz hervorragend. Dann war er hinterher, sein Deutschzertifikat zu kriegen, weil er sich für den Vorarbeiterkurs anmelden wollte. Das hat er auch geschafft.

E.K.: Bei diesem speziellen Teilnehmer ist mir aufgefallen, unter welch enormem finanziellen oder sozialen Druck er stand. Er musste auch mit sich vereinbaren, vorher so was wie Heilpraktiker gewesen zu sein in Pakistan und jetzt als Bauhelfer, Küchengehilfe oder Flughafenreinigungspersonal zu arbeiten, auf solche Jobs sich jetzt langsam einzuschießen. Das ging bei ihm letztlich positiv aus.

DIE: Sicher erleben Sie auch Fälle, in denen Widersprüche zwischen Können und Wollen, zwischen sozialer Situation und Lernen als Lernwiderstände auftreten, die dann nicht positiv aufgelöst werden können?

C.R.: Ja, beim "General". Der war in der afghanischen Regierung so etwas wie Staatssekretär. Hatte uns immer Bilder gezeigt, wie er im Mercedes mit Standarte gesessen hat in Uniform. Er war sehr umgänglich, aber die Sprachfortschritte waren minimal. Der hatte sich in verschiedene Krankheiten geflüchtet, und wir hatten versucht, mit ihm darüber zu reden, aber wir konnten ihn nicht rausholen. Ihm zu sagen: Vergiss deine Vergangenheit, mach etwas Neues, das kam bei ihm nicht an. Er versuchte im Gegenteil, mir gegenüber diese patriarchalischen Verhältnisse zu übertragen aus seiner Heimat. Ich war im Grunde genommen sein "Minister" hier, zu dem er als General immer gehen konnte. So richtig mit allen Schikanen. Ich hatte die Rolle des Ministers, aber aus seinem Eck konnte ich ihn auch mit martialischer Befehlsgewalt nicht herausholen. Er entzog sich uns, und wir konnten ihn auch nicht vermitteln.

DIE: Empfinden manche Teilnehmer das Lernen oder die Aufforderung, sich zu beteiligen, als Zumutung?

E.K.: Herr B. hat das heute wörtlich so formuliert: "Beachten Sie mich nicht, aber ich will nichts sagen. Ich kann auch nichts sagen".

M.V.: Oder dass jemand immer da ist, aber nicht wirklich. Es gibt viele Formen, sich zu entziehen.

E.K.: Etwa eine Arbeitsanweisung nicht zu befolgen, aber auch nicht zu stören.

C.R.: Oder auch der Versuch, sich hin und wieder in den Mittelpunkt zu setzen, auf sich aufmerksam zu machen, Zuwendung zu bekommen. Das hat Herr T. doch sehr stark gebracht. Aber letztlich hat er es dann geschafft, irgendwann doch sein Grundstufenzertifikat in Deutsch als Fremdsprache zu machen und sich einen Umschulungsplatz selbst zu organisieren. Irgendwann hat er die Kurve gekriegt. Das war ein unheimlich intelligenter Typ, der aber irgendwie nicht klar kam mit diesem Schülerdasein.

E.K.: Der hat auch immer irgendwie durchscheinen lassen, dass er sehr reich ist und besondere Geschäfte macht. Das war ein russischer Ingenieur. Der hat damit auch immer ein bisschen kokettiert. Die Statussymbole waren alle da. Das war auffällig im Vergleich zu unseren anderen Teilnehmern, die sehr knapp leben müssen.

DIE: Sind Fälle wie der "General" oder ein russischer Ingenieur nicht eher exotische Beispiele?

M.V.: Nein, durchaus nicht. Wir erleben immer wieder, dass sich Menschen entziehen. Wie etwa Herr C., ein anerkannter Asylbewerber, ein Kurde. In einer Projektwoche waren wir im Unterricht nur zu dritt. Da war der Mann anwesend. Und die Woche danach, auch wenn er dann noch körperlich anwesend war, war der dann eigentlich gar nicht mehr da. Immer wenn die Möglichkeit dazu besteht, sich über sich selbst zu äußern, dann geht das ohne Schwierigkeiten. In dem Moment, in dem sie sich selber einbringen können, dann ist es auch egal, was drum herum ist, dann ist der Lernfortschritt enorm.

Anwesend und doch nicht da: eine Doppelbotschaft

E.K.: Das ist natürlich eine besondere Herausforderung für den, der unterrichtet. Wer immer eine Krankmeldung bringt und nicht da ist, ist einfach weg. Aber wer körperlich anwesend ist und doch nicht da ist – das ist eine Doppelbotschaft, und die richtet sich an uns. Das ist sehr schwer. Manchmal kommt man da halt ein bisschen weiter, manchmal nicht.

DIE: Kennen Sie Situationen, wo Teilnehmer Lernwiderstände regelrecht hegen und pflegen und nicht aufgeben wollen?

C.R.: Die Akademiker pflegen das sehr oft. Sie formulieren es auch: Ich habe studiert und ich kann gut Sprachen ...

E.K.: Ja, aber kein Deutsch! Ich denke an Herrn E., der sagt oft, wenn ich etwas erkläre: Also, so hätte er das aber noch nicht gehört. Die Leute auf der Straße sprechen so und so und so. Es kommt eigentlich in jeder Stunde vor, dass er irgendwelche Beispiele von seiner sogenannten Straße bringt. Oft sind die mir unbekannt, er beharrt aber heftig darauf und behauptet partout: "Die Leute sprechen aber so, und warum lernen wir das jetzt anders? Warum muss ich das jetzt so lernen, wie du sagst, Lehrerin, wenn doch die Leute ganz anders sprechen?". Ich empfinde das als eine kleine Masche, als eine Art Widerstand, etwas anzunehmen, was ich ihm nicht aufdrücken will, was ich aber nur zertifizieren kann, wenn es richtig ist.

C.R.: Oder Herr T., den wir vorhin erwähnt haben, der immer sagt: "Ich habe nichts gelernt". Das ist eine vorzügliche Pflege seiner Lernbarrieren.

DIE: Wie sehen sich die Teilnehmer selbst, die mit solchen Lernwiderständen kämpfen, und wie werden sie von den anderen gesehen?

C.R.: Das hängt sehr von der einzelnen Persönlichkeit und der jeweiligen Gruppe ab. Die anderen leiden natürlich zum Teil darunter. Die Akademiker erkennen natürlich hin und wieder die Ambivalenz, in der sie sind. Man merkt schon: Das ist ihnen auch klar, dass sie Schwierigkeiten aus dem Weg gehen, wenn sie sich entziehen. Es ist aber auffällig, dass im Prinzip in diesen Gruppen eine relativ hohe Toleranz herrscht, eine Toleranz untereinander, auch Spleens und Marotten erst mal ein Stück weit zu akzeptieren.

M.V.: Es kann natürlich auch passieren, dass dann Teilnehmer isoliert werden. Dass die Gruppe dann sagt: Nee, das ist zu viel. Aber manchmal ist es auch so, dass solche Teilnehmer das Gruppenleben mit bestimmen. Nach dem Motto: Das ist dann der mit dem Tick, und das ist okay, das wird dann so geduldet.

DIE: Können Sie das Phänomen "Lernen am Widerstand" in Ihren Gruppen beobachten?

C.R.: Eigentlich nicht. Das heißt: In einem früheren Kurs für Jugendliche hatten wir eine Teilnehmerin, der wir empfohlen hatten, den Hauptschulabschluss nicht zu machen, den wir im Sommer anbieten. Wir haben ihr gesagt: Du sprichst so schlecht Deutsch, du hast wirklich wenig gelernt bis jetzt, es wird schief gehen. Sie war damit nicht einverstanden. Sie hat sich durchgesetzt, den Hauptschulabschluss zu machen, hat ihn gerade so bestanden, hat sich dann aus eigener Kraft für den Realschulabschluss angemeldet. Wir haben gedacht: Um Gottes willen! Den Realschulabschluss hat sie dann gut bestanden, und heute ist sie gelernte Bauingenieurin! Also, an diesem Widerstand hat sie sich ziemlich hochgearbeitet. Das ist ein ganz entscheidendes Erlebnis in meiner bisherigen Karriere gewesen. Es kann aber auch scheitern, dieses Instrument einzusetzen.

DIE: Heute wird selbstgesteuertes Lernen als eine der wichtigsten Kompetenzen gefordert. Ist das in Ihrer pädagogischen Praxis ein hilfreiches Element?

M.V.: Bei den lernunerfahrenen Teilnehmern ist das natürlich sehr schwierig. Die schickt man dann mit Hausaufgaben nach Hause und die wissen dann oft gar nicht, was sie damit machen sollen. Erstmals haben wir jetzt freitagnachmittags vier Übungsstunden, in denen wir das, was wir im Laufe der Woche gemacht haben, aufarbeiten können. Wir hoffen, dass wir im Laufe der Zeit die Teilnehmer dazu führen können, auch selbstständig zu Hause lernen zu können. Dass sie einfach das lernen, was im Deutschunterricht überhaupt in jedem neueren Lehrwerk sowieso vorhanden ist: das Lernen lernen. Dafür braucht man aber einfach Zeit. Wir wollen den Teilnehmern individuell die Möglichkeit bieten, mal eine dreiviertel Stunde lang Übungen zu machen und dann auch nachfragen zu können. Und dann haben wir auch diese 40 Stunden in der Woche, so dass diese vier Stunden den Teilnehmern zur Verfügung stehen.

Das Lernen lernen braucht Zeit

E.K.: Dieses "das Lernen lernen" ist fast für jeden möglich, aber es gibt schon eine Gradation. Das ist stark verquickt mit dem Bildungssystem im Herkunftsland, mit dem, was die Leute gewohnt sind, wie sie zum ersten Mal gelernt haben. Klassisch frontal und das acht, neun Jahre lang, mit Schlagstock oder ohne – das kommt alles vor. Das ist ja auch in der Biographie verhaftet. Manche schaffen es, das zu ändern, andere erwarten förmlich einen ganz traditionellen Frontalunterricht, wieder andere sind ganz offen, je nachdem, was sie erlebt haben und welche Persönlichkeit sie sind, wie große Potenziale sie haben in Bezug auf Flexibilität.

M.V.: Aber wenn diejenigen, die völlig lernunerfahren sind, dann wirklich das Buch aufschlagen und wissen, wie sie dann mit dem Buch arbeiten können, das ist dann ein Riesenerfolg.

DIE: Abschlussfrage. Wie gehen Sie selbst mit ihren eigenen Lernwiderständen um?

E.K.: Gute Frage, denn im Grunde richtet man sich so ein bisschen mit seinen Sachen ein, aus Bequemlichkeit. Nicht immer, aber ...

M.V.: Die Teilnehmer müssen natürlich eigentlich lernen. Man selbst lernt jeden Tag dazu, aber man ist ja nicht in der Situation, das man jetzt wirklich lernen muss. Ich kenne das von mir, wenn ich z.B. einen Sprachkurs gemacht habe. Dann habe ich da große Schwierigkeiten, Vokabeln zu behalten. Das würde ich jetzt nicht als Widerstand ansehen, sondern als Lernschwäche auf meiner Seite, wo andere es viel leichter haben. Das ist bei mir eine Schwierigkeit, da muss ich einfach mehr arbeiten. Das hängt aber auch immer davon ab, in welcher Situation man ist. In alltäglichen Situationen, wo es nicht unbedingt notwendig ist, arbeitet man natürlich auch nicht so sehr an sich.

C.R.: Ich lerne am besten, wenn mich eine Sache brennend interessiert. Da hab ich keine Lernschwierigkeiten. Bei Sachen, die mich interessieren müssten, muss ich mich dann halt hin und wieder zwingen und weiß ganz genau, da sind Widerstände da, ich schieb es weg und denke, das kann ich auch noch später machen.

E.K.: Ich ignoriere manches. Das beziehe ich meinetwegen auf die Frage: Lerne ich noch mal Arithmetik, wiederhole ich für mich noch mal Mathematik? Aber jetzt brauche ich die Sachen eigentlich nicht, damit gehe ich nicht um. Da habe ich keinen Draht dazu, das wäre dann eine echte Überwindung.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
April 2000

Susanne Offenbartl, Herbert Bohn, Bewusstseinsprozesse einleiten, um Lernblockaden aufzulösen
 Online im Internet: URL: http://www.diezeitschrift.de/22000/gespraech.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
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