DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Wissensgesellschaft - Forscherhabitus - Erwachsenenbildung/Weiterbildung

Zum DFG-Projekt „Wissensgesellschaft. Umgang mit Wissen im Kontext sozialer Welten vor dem Hintergrund der universellen Institutionalisierung des Pädagogischen

Jochen Kade / Wolfgang Seitter

Dr. Jochen Kade ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der Universität Frankfurt/M.
Dr. Wolfgang Seitter ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Erwachsenenbildung an der Universität Marburg.

Was heißt es, wenn heute von der Wissensgesellschaft gesprochen wird? Welche Funktion erfüllt hierin die Erwachsenenbildung? - Vor diesem Hintergrund stellen die Autoren den Forschungsansatz ihres DFG-Projekts „Wissensgesellschaft. Umgang mit Wissen im Kontext sozialer Welten vor dem Hintergrund der universellen Institutionalisierung des Pädagogischen" vor.

Abstract
In modern society, the production of knowledge is multiplied and taken from the universities who were traditionally dedicated to this task, into the general public. The role of institutions of secondary education changes from diffusing to producing knowledge; teachers representing, in this context, the once-universal authority of science. Against this background, the authors present their DFG-funded project „Wissensgesellschaft.
Umgang mit Wissen im Kontext sozialer Welten vor dem Hintergrund der universellen Institutionalisierung des Pädagogischen" („Knowledge Society. Dealing with knowledge in societal contexts in times of a universal institutionalisation of pedagogy").

Wenn die moderne Gesellschaft heute als Wissensgesellschaft bezeichnet wird, so ist damit zweierlei gemeint: Zum einen wird das Handeln in den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären zunehmend wissensabhängig, genauer: abhängig von der Anwendung wissenschaftlichen Wissens. Die Wissenschaft bekommt innerhalb der Gesellschaft eine zentrale Funktion. Zum anderen aber findet auch die Auflösung der Wissenschaft als Institution in ihrer universitätszentrierten Form statt.

Diese Diffusion wissenschaftlichen Wissens über die Grenzen des Wissenschaftssystems und seiner institutionell-organisatorischen Orte hinaus markiert aber nur ein „Oberflächenphänomen" der Wissensgesellschaft, wie Peter Weingart unlängst noch einmal betont hat (vgl. Weingart 2001). Wichtiger ist, dass in der modernen Gesellschaft sich die Wissensproduktion vervielfältigt, und zwar in institutioneller und insbesondere auch in kultureller Hinsicht. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird Wissen daher „prinzipiell ungesichertes Wissen" (Stichweh 1999, S. 464). Es verliert seine selbstverständliche Gegebenheit, ist nicht mehr fest an Personen und teilweise auch an lokale Kontexte gebunden. Als „depersonalisiertes und dekontextualisiertes Wissen (kann) ... es in die Organisation und Modifikation der Sozialzusammenhänge, aus denen es stammt, wieder eintreten" (ebd., S. 465). Damit wird die Wissens-Voraussetzung dafür geschaffen, dass sich in der Gesellschaft das „experimentelle Lernen als Handlungsmodus" (Weingart 2001, S. 351) verbreitet und der Forscher - tendenziell - zu einem universell erwarteten Handlungstypus werden kann. „Erfahrungen (werden) nicht mehr passiv ,gemacht` und verarbeitet ..., sondern prospektiv durch forschendes Verhalten gesucht und in Gestalt systematischer Variationen gewählt und reflektiert ... Gesellschaftliche Innovationen in allen Funktions
bereichen geraten zunehmend unter den Imperativ des durch ,aktive Erfahrung` gesteuerten Lernens" (ebd., S. 17). In beiden Entwicklungen sieht Weingart wesentliche Merkmale einer neuen Wissensordnung, d. h. des „Ensembles gesellschaftlicher Arrangements, das die Produktion und Diffusion von Wissen regelt" (ebd., S. 16).

Diese Veränderungen im institutionellen und kulturellen Wissenshaushalt der modernen Gesellschaft sind nicht im Sinne einer linearen Fortschrittsgeschichte von Aufklärung durch wissenschaftliches Wissen zu lesen. Sie verlaufen widersprüchlich, ja paradox. In dem Maße, in dem die Universität, der bislang gesellschaftlich privilegierte institutionelle Ort der Wissensproduktion, ihre soziale Distanz zu den Anwendungskontexten von Wissenschaft verliert, werden - so Weingart - auch die institutionellen Voraussetzungen für den für wissenschaftliches Wissen konstitutiven Objektivitätsanspruch brüchig. Die Beurteilungskriterien für die Qualität (wissenschaftlichen) Wissens werden in der Folge nicht allein von der Wissenschaft, sondern auch von ihren Anwendern definiert. Aus den Anwendungskontexten erwachsen zusätzliche oder auch konkurrierende soziale, politische oder ökonomische Qualitätskriterien. Die gesellschaftliche Erfolgsgeschichte der Wissenschaft geht also mit einem Brüchigwerden und einer Trivialisierung ihres Wahrheitskriteriums einher, einem Verlust dessen, was das wissenschaftliche Wissen gerade im Unterschied zum gesellschaftlich eingebundenen lebensweltlichen, beruflichen und technischen Wissen, d. h. also dem im gesellschaftlichen Handeln „kondensierten und inkorporierten Sinn" kennzeichnet. Auf diese Wissensform zielen etwa der Habitusbegriff oder der des impliziten Wissens (vgl. Stichweh 1999, S. 465) ab. Wenn über den Umgang mit Wissen in der Gesellschaft, d. h. außerhalb des Wissenschaftssystems, gesprochen wird, kann also nicht der Begriff des wissenschaftlichen Wissens mit seinem Code wahr/falsch (allein) zugrundegelegt werden, auch wenn das in die gesellschaftliche Praxis eingebundene Wissen in der Moderne zunehmend dadurch bestimmt ist, dass es auf das Wissen als wissenschaftliches Wissen bezogen ist.

Wenn man Wissen - Niklas Luhmann folgend - über den Begriff des kognitiven Erwartens im Unterschied zu normativen Erwartungen bestimmt, dann verweist Wissen auf „generalisierte kognitive Erwartungen, die vorläufig festgehalten werden, die aber änderbar sind, weil die Bereitschaft zum Wissenserwerb und zur Modifikation des Wissens und damit die Bereitschaft zum Lernen neuen Wissens erwartet werden kann" (vgl. Luhmann 1984, S. 447f.). Diese Wissensbestimmung trifft das habitualisierte Wissen sowie das den sozialen Praktiken implizite Wissen (tacit knowlegde) jedoch nicht. Denn dieses ist gerade dadurch charakterisiert, dass es eine selbstverständliche Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen kann und nicht dem Anspruch der Veränderung und damit des Lernens ausgesetzt ist. Es kennt den Unterschied von kognitiven und normativen Erwartungen (noch) nicht bzw. behandelt ihn als nicht gegeben. Diese selbstverständliche Gültigkeit des Wissens und damit seine prinzipielle Resistenz gegenüber Lernzumutungen wird vom reflexiven und wissenschaftlichen Wissen prinzipiell in Frage gestellt, gewissermaßen mit dem Zweifel infiziert. Deswegen kann die Wissensgesellschaft im Diskurs auch als Lerngesellschaft gefasst werden. Ein vom wissenschaftlichen Wissen unterschiedener weiter Wissensbegriff richtet den Blick darauf, wie die Dominanz des wissenschaftlichen Wissens das gesellschaftlich angewendete Wissen verändert, indem es ihm seine Selbstverständlichkeit nimmt, kognitiven Erwartungen aussetzt, relativiert und Lernen verlangt, das wiederum Verlernen voraussetzt. Insofern wird „alles Wissen im Übergang vom vorhandenen Wissen zu einem anderen Wissen gewonnen" (Stichweh 1999, S. 464f.).

In dem Prozess der popularisierenden Verbreitung eines als objektiv und dauerhaft angenommenen wissenschaftlichen Wissens fungiert die Erwachsenenbildung/Pädagogik nicht nur als unselbstständiges Mittel, sondern zugleich als (Neu-)Produzent von Wissen; und zwar, was seinen kognitiven Inhalt angeht ebenso wie im Hinblick auf seinen Objektivitätsanspruch. Die Erwachsenenbildung generiert ihre Lösungen mit ihren eigenen Mitteln, mit ihren institutionellen Arrangements und eingeführten Praktiken, d. h. mit Hilfe des darin verkörperten und ihr zugänglichen pädagogischen Wissens. Sie stellt Wissen in Zusammenhang mit Aneignung und Vermittlung und verknüpft es so mit der Erwartung des Lernens. Sie substituiert das wissenschaftliche Wahrheitskriterium durch einen bildungsorientierten Rekurs auf Wahrheit im Sinne von Vernunft. Das Problem brüchig gewordener Objektivität löst sie, indem die Vermittlung von Wissen in eine asymmetrische Rollenbeziehung eingebettet wird. Der Kursleiter, Teamer, Lehrer etc. repräsentiert in diesem Setting die abwesende, für die Schüler oder Teilnehmer nicht zugängliche Wissenschaft mit ihrem Objektivitätsanspruch. Diese Repräsentation kann selbst dort ihre objektivitätsstiftende Leistung erbringen, wo der mit dem Wissen vermittelte Objektivitätsanspruch nicht mehr durch die Wissenschaft selbst ,gedeckt` ist (vgl. Nolda 1996). Der Sog der Unsicherheit und Uneindeutigkeit der Qualitätskriterien von Wissen wird damit durch dessen interaktionsbezogene Behandlung gestoppt, die im Zeichen von pädagogischer Vereindeutigung, von klaren Kausalvorstellungen, Machbarkeit und Gerichtetheit steht.

Auf diesen Problemzusammenhang von Wissen, Lernen und Erwachsenenbildung richtet sich das Projekt „Umgang mit Wissen in kontrastierenden sozialen Welten"1. Es rekonstruiert das pädagogische Wissen und seine Institutionalisierungsformen, die bei der Vermittlung von (wissenschaftlichem) Wissen in zwei kontrastierenden organisationsbezogenen institutionellen Zusammenhängen auf der Ebene von unterschiedlich eng in sie eingebundenen Kommunikationsprozessen zum Einsatz kommen und sich in dieser Anwendung zugleich reproduzieren und erneuern. Dazu wird ein gesellschaftstheoretisches, institutionsbezogenes Konzept von Wissensordnung, wie es Weingart nutzt (Wissensordnung als Ensemble gesellschaftlicher Arrangements, das die Produktion und Diffusion von Wissen regelt), mit einem kultursoziologischen Konzept geteilter Wissensordnungen (vgl. Reckwitz 1999) verbunden. Beide Konzepte werden aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive als pädagogische Wissensordnungen spezifiziert.

Bei der Rekonstruktion eines solchen zweidimensionalen Konzeptes pädagogischer Wissensordnungen gehen wir von der wissenssoziologischen Grundannahme moderner Organisationstheorie aus, dass Organisationen ein Sonderfall von Institutionen sind. Sie beruhen auf der Institutionalisierung von Wissen, die einen „Horizont von Selbstverständlichkeiten vorgeben" und damit „Handlungs- und Wissensmöglichkeiten strukturieren" (Knoblauch 1997, S. 10). Solche Institutionalisierungsprozesse finden in reziproken, auf der Grundlage sinnhaften Handelns beruhenden Kommunikations- bzw. Interaktionsprozessen - im Kontext unserer Untersuchungsfrage also pädagogischer Kommunikation - statt.

Die analysierten Institutionalisierungskontexte sind unter dem Gesichtspunkt des Einsatzes und der Institutionalisierung von Wissen ausgewählt. Es handelt sich einerseits um einen aus einem großen Unternehmenskomplex heraus entwachsenen neuen Industriepark, der im Zeichen von Umstrukturierung und Neugründung unter den Bedingungen der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien steht. In diesem Restrukturierungsprozess kommt es zu einem verstärkten Einsatz von Wissen und von Prozessen der Neuinstitutionalisierung von Wissen, da das alte Wissen als Grundlage der Wissens- und Handlungsmöglichkeiten seine Gültigkeit verloren hat und seine Selbstverständlichkeit einbüßt. Damit kontrastiert der zweite von uns untersuchte Institutionalisierungskomplex, eine Einrichtung im Bereich der Sozialarbeit und -pädagogik für Obdachlose. Hier ist nicht Diskontinuität, sondern Kontinuität bestimmend. Dieser Komplex ist im Wesentlichen durch den Fortgang der Arbeit bestimmt, zumindest in den Kernbereichen. Analyseebene sind in beiden Feldern die organisationsbezogenen (pädagogischen) Kommunikationsprozesse. Wir untersuchen sie unter zwei Fragen: erstens des Umgangs mit Wissen, der in ihnen zu beobachten ist, und zweitens im Blick auf die pädagogischen Wissensordnungen, die diesem Umgang mit Wissen zugrundeliegen. Dabei unterscheiden wir - unter dem Aspekt der Nähe zur Organisation - jeweils zwei Arten von Kommunikation; eine organisationseingebundene und eine organisationsbezogene Kommunikation. Im „Verein für psychische und soziale Notlagen" kommen damit zum einen die in sozialpädagogische Rollenbeziehungen eingebetteten Kommunikationen zwischen Sozialarbeitern und ihren Klienten, den Obdachlosen, in den Blick, zum anderen Kommunikationsprozesse zwischen Obdachlosen, die nicht von der Einrichtung her definiert sind, aber gleichwohl in der durch sie mitbestimmten sozialen Welt der Obdachlosen stattfinden. Im Falle des Industrieparkbetreibers „Kappa" untersuchen wir die Frage der Institutionalisierung von Wissen in der Kommunikation der Führungskräfte mit den Mitarbeitern. Gerade in Umstrukturierungsphasen geht ein wichtiger Teil der Unternehmenskommunikation, soweit in ihnen neues Wissen im Unternehmen institutionalisiert wird, von den Führungskräften aus. Führungskräfte sind im Unternehmen die Mitarbeiter, die anderen Mitarbeitern Wissen mit dem Anspruch auf Annahme vermitteln. Der andere Kommunikationsbereich, an dem wir die Institutionalisierung von Wissen untersuchen, agiert - analog wie im Fall des Vereins, in dem Kommunikation der Obdachlosen unabhängig von den Sozialarbeitern stattfindet - unabhängig von den Führungskräften. Es geht hier um die tätigkeitsbezogene Kommunikation von Mitarbeitern an ihrem Arbeitsplatz.

Anmerkung

1 In dem DFG-Projekt „Wissensgesellschaft. Umgang mit Wissen im Kontext sozialer Welten vor dem Hintergrund der universellen Institutionalisierung des Pädagogischen" arbeiten mit als Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen Birte Egloff, Manfred Kroschel und Regine Mohr sowie als studentische Mitarbeiter/innen Axel Bohmeyer, Deike Brinkmann, Marc Dembach, Jörg Dinkelaker und Manu Kembter.

Literatur

Kade, J./Seitter, W. (2001): Uneindeutige Verhältnisse. Bildung - Umgang mit Wissen - pädagogische Wissensordnungen. Theoretischer Zugang und empirische Fälle. Erste Befunde. Frankfurt/M. (Manuskr.)

Knoblauch, H. (1997): Die kommunikative Konstruktion postmoderner Organisationen. Institution, Arbeitssystem und kontextuelles Handeln. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, H. 2, S. 6-23

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.

Nolda, S. (1996): Interaktion und Wissen. Eine qualitative Studie zum Lehr/Lernverhalten in Veranstaltungen der allgemeinen Erwachsenenbildung. Frankfurt/M.

Nolda, S. (2001): Das Konzept der Wissensgesellschaft und seine (mögliche) Bedeutung für die Erwachsenenbildung. In: Wittpoth, J. (Hrsg.): Erwachsenenbildung und Zeitdiagnose. Theoriebeobachtungen. Bielefeld, S. 91-117

Reckwitz, A. (2000): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Weilerswist

Seitter, W./Kade, J. (2002): Biographie - Institution - Wissen. Theoretische Konzepte und empirische Projekte zur Erwachsenenbildung. In: Kraul, M./Marotzki, W. (Hrsg.): Biographische Arbeit. Opladen, S. 241-269

Stichweh, R. (1999): Kultur, Wissen und die Theorien soziokultureller Evolution. In: Soziale Welt, H. 4, S. 459-472

Weingart, P. (2001): Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
April 2002

Jochen Kade, Wolfgang Seitter, Wissensgesellschaft - Forscherhabitus - Erwachsenenbildung/Weiterbildung.
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/22002/positionen3.htm
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