DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Das Europäische Jahr der Sprachen 2001

Ziele, Zahlen, Zwischenbilanz und Sprachenzukunft

Brigitte Jostes

Brigitte Jostes ist als Sprachwissenschaftlerin und Fremdsprachenvermittlerin vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit der wissenschaftlichen Begleitung des Europäischen Jahrs der Sprachen beauftragt.

Abstract:
The author outlines European and German activities and initiatives in the European Year of Languages. In order to bring these initiatives to fruition, it will be necessary to establish the usefulness of language knowledge in the minds of all European citizens. The author's argument in favour of familiarity with more than one foreign language as a culturally enriching experience culminates in the promise that „monolinguality is curable".

Europarat und Europäische Union haben das Jahr 2001 zum Europäischen Jahr der Sprachen (EJS) erklärt. Welche Ziele werden mit diesem Jahr verfolgt? Wie sieht die Zwischenbilanz aus? - Brigitte Jostes gibt einen Überblick über Ziele und Maßnahmen auf europäischer und nationaler Ebene und geht der Frage nach, wie die Vielfalt der Sprachen in Europa und über Europa hinaus nachhaltig geschützt werden kann.

Mit dem Unesco-Jahr des Dialogs der Kulturen und dem Jahr des Umweltschutzes ist es wie mit dem Welt-Nichtrauchertag und dem Muttertag: Allesamt sind diese besonderen Jahre und Tage schlechte Zeichen, sie sind ein sicherer Indikator dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist, in Zukunft aber besser werden soll. Nicht anders ist es mit dem Europäischen Jahr der Sprachen. Es sieht nicht gut aus für die Sprachenvielfalt, nicht nur in Europa, sondern im gesamten global village. Den düsteren Aussichten für die Sprachenvielfalt soll nun mit dem Europäischen Jahr der Sprachen gegengesteuert werden.

Ziele

Zu den von der Europäischen Kommission formulierten Zielen des Jahres gehört erstens die Förderung des Bewusstseins der Unionsbürger sowohl für den kulturellen Reichtum, den die Sprachenvielfalt darstellt, als auch für die persönlichen Vorteile, die mit einer Fremdsprachenkompetenz verbunden sind. Als eine unabhängig von Alter und Lebensumständen gegebene Herausforderung soll zweitens das Sprachenlernen als Musterbeispiel für lebenslanges Lernen verankert werden. Hierzu sollen in diesem Jahr verstärkt Informationen über Angebote, Methoden und Forschungen zum Fremdsprachenlernen gesammelt und verbreitet werden.

Europaweit liegen die Schwerpunkte der Informationskampagnen auf den beiden Instrumenten des Europarats zur Förderung des Sprachenlernens: erstens der „Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen", der mit der einheitlichen Beschreibung von Niveaustufen für kommunikative Kompetenzen die Übergänge zwischen den Bereichen des Bildungssystems wie auch die Mobilität in Europa erleichtert, und zweitens das „Europäische Portfolio der Sprachen", mit dem persönliche Sprachkompetenzen und Erwerbsverläufe dokumentiert werden und die Eigenverantwortlichkeit von Lernenden aller Altersstufen befördert wird.

Zahlen

Zur Durchsetzung dieser Ziele hat die Europäische Kommission rund 6 Millionen Euro für die Förderung von 185 Projekten bereitgestellt, davon 24 in Deutschland.

Um auf das EJS und seine Ziele aufmerksam zu machen, wird das Jahr umrahmt von einer Startkonferenz im schwedischen Lund und einer Bilanzkonferenz in Brüssel: Begleitend werden auf einer Homepage (www.eurolang2001.org) in allen europäischen Amtssprachen Informationen rund ums Thema EJS, Sprachen und Sprachenlernen angeboten, wie z. B. die Ergebnisse der Eurobarometer-Umfrage zum Stand der Sprachkenntnisse und Spracheinstellungen im europäischen Vergleich. Wie eine russische Puppe setzt sich diese äußere Struktur von umrahmenden Konferenzen und begleitenden Internetseiten auf nationaler Ebene und in Deutschland auch auf Länderebene fort: Über die in Deutschland von der EU geförderten Projekte wie auch über die vielfältigen Aktivitäten, die anlässlich des EJS mit großem Engagement und zu weiten Teilen ohne jegliche zusätzliche finanzielle Förderung stattfinden, informierten eine nationale Homepage zum EJS (www.na-bibb.de/ejs) wie auch von den Ländern betriebene Seiten.

In Europa gibt es also zahlreiche Anstrengungen, um die Botschaften und Ziele des EJS zu übermitteln. Mais soyons réalistes: Was können all diese Bemühungen unter dem schönen Logo des EJS bringen? Ein Jahr wie das EJS kann sich günstigstenfalls zur Situation der Sprachenvielfalt verhalten wie eine Schwalbe zum Sommer, es kann nicht mehr, aber eben auch nicht weniger sein. Während jedoch der Sommer kommt, wie er kommen muss, müssen wir uns eine Sprachenzukunft selber entwerfen. Das EJS kann also ein Jahr der Diskussionen, des gemeinsamen Ringens und auch der harten Kämpfe um einen gemeinsamen Entwurf für die europäische Sprachenzukunft sein.

Brüssel hat mit einer Formel eine Skizze der europäischen Sprachenzukunft vorgegeben: Die Formel lautet 1+2 und soll bedeuten, dass jeder Unionsbürger zukünftig neben seiner Muttersprache Kompetenzen (bzw. Teilkompetenzen) in zwei Fremdsprachen besitzen sollte. Diese Politik der Förderung der Mehrsprachigkeit wird flankiert von der Politik des Schutzes der Minderheitensprachen, wie sie in der „Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen" verabschiedet wurde.

Zwischenbilanz

Viele der EU-geförderten Projekte zeigen konkrete Möglichkeiten von regionalen Netzwerkstrukturen auf: So wurde z. B. in Augsburg eine Broschüre erstellt, in der alle Sprachlernangebote in der Stadt zusammengestellt sind, in Bielefeld stellen Hochschule, Volkshochschule und andere Träger der Erwachsenenbildung gemeinsam Sprachen und Sprachlernmöglichkeiten der Öffentlichkeit vor, und in Berlin präsentierten sich 240 kleine Projekte zusammen auf einem „Festival der Sprachen". Unter dem Logo des EJS finden darüber hinaus in vielen Bundesländern wichtige Dialoge zwischen Wissenschaft und Schule statt, in denen z. B. die durch den frühen Fremdsprachenbeginn (ab Klasse 3 oder gar früher) gegebenen neuen Perspektiven des schulischen Fremdsprachenunterrichts ausgelotet werden. Im Bereich der Erwachsenenbildung leistet das EJS einen enormen Beitrag zur dringend notwendigen Aufwertung der Arbeit des außerschulischen Fremdsprachenlehrers.

Und in der öffentlichen Diskussion? Das Thema Sprache und Sprachen steht durchaus auf der Tagesordnung (bei Sabine Christiansen ebenso wie in zwei Großen Anfragen im Parlament). Jedoch tritt das Sprachenthema kaum im Zusammenhang mit der Brüsseler Formel auf und auch nicht immer mit Hinweis auf das EJS. Auf der Tagesordnung steht vielmehr die Angst um den Niedergang des Deutschen: auf der einen Seite die Besorgnis um das Deutsche als Kultursprache, die für alle Diskursdomänen ausgebaut ist, nun jedoch vom Englischen aus den prestigereichsten hinauskatapultiert wird; auf der anderen Seite die Sorge um das Deutsche als Umgangssprache, in der nicht nur die Zahl der Anglizismen steigt (die übrigens gar nicht so problematisch sind), sondern auch ganze Texte und Textversatzstücke auf Englisch die Zugehörigkeit zum richtigen way of life markieren sollen. Hinzu kommt die Sorge um die Sprachkompetenzen nicht nur der Menschen mit Migrationshintergrund, die das Deutsche als Fremd- oder Zweitsprache erwerben, sondern auch um die Sprachkompetenzen der deutschen Muttersprachler. Diese Sorgen sind keineswegs damit abzutun, dass man sie unter den Verdacht von Konservativität, Zukunftsangst oder gar Nationaltümelei stellt.

Es geht nämlich u. a. um das gesellschaftliche Problem einer „sprachlichen Spaltung", die die schon oft angemerkte „digitale Spaltung" der Gesellschaft begleitet: Um als Dummer dazustehen, muss man nicht erst am Internet scheitern. Immer mehr Menschen haben Probleme hinsichtlich der Anforderungen, die an ihre Ausdrucksmöglichkeiten in der deutschen Sprache gestellt werden. Und daneben lauern sprachliche Gefahren in Form von fremden Wörtern schon bei Telekom, Bahn und Peek & Cloppenburg.

In den noch verbleibenden Monaten des EJS sollte deutlich gemacht werden, dass diese Besorgnis um die deutsche Sprache und die Förderung der Mehrsprachigkeit zwei Seiten einer Medaille sind. Diese Euro-Medaille heißt Sprachkultur.

Hinsichtlich der individuellen Sprachbiographien wissen wir mittlerweile, dass eine gefestigte Mutter- oder Erstsprache das Fundament ist, auf dem weitere Sprachkenntnisse aufgebaut werden sollten. Dass die englische Sprache als lingua franca eine der zwei Fremdsprachen sein sollte, muss nicht weiter diskutiert werden. Sehr wohl diskutiert werden muss aber die Frage nach der sinnvollsten schulischen Fremdsprachenfolge wie auch nach Umfang und Art der Kompetenzen, die in den beiden Fremdsprachen erworben werden sollen.

Individuelle Sprachenprofile sind der eine Aspekt, gesellschaftliche Rollen und Funktionen von Sprachen der andere. Und zur Gesellschaft gehört der Markt mit seinen Gesetzen - der, wie wir wissen, global geworden ist -, auf dem sich die Sprachen behaupten müssen. Das Wort „Markt" klingt freundlicher als das Wort „Krieg", mit dem französische Sprachwissenschaftler den Wettstreit der Sprachen gerne bezeichnen: la guerre des langues. Obgleich unfreundlich, trägt die Kriegsmetapher vielleicht doch weiter als die Marktmetapher: Denn während ein marktuntaugliches Produkt einfach „vom Markt genommen wird", muss man sich den Verlust einer Sprache wie eine Bombe auf den Kölner Dom vorstellen. Sprachen sind jahrtausendealte kollektive Produkte und zugleich Werkzeuge des menschlichen Geistes, darum werden sie von dem Berliner Romanisten Jürgen Trabant auch als „Kathedralen des Denkens" bezeichnet. Und das ist jede Sprache, unabhängig davon, ob sie zu einer traditionsreichen Kultursprache ausgebaut wurde oder ob sie die Sprache einer schriftlosen Gesellschaft ist.

Sprachenzukunft

Die Verteidigung der Sprachenvielfalt wie auch die damit verbundene Förderung des Sprachenlernens wären also auf Sand gebaute Projekte zur Sprachenzukunft, wenn die grundlegende anthropologische Bedeutung der Sprachenvielfalt nicht akzeptiert und vehement vertreten würde. In historisch-anthropologischer Perspektive ist die Verschiedenheit der Sprachen für den Menschen notwendig, zugleich aber eingebettet in einen Universalismus des menschlichen Sprechens. Der Blick auf die gegenwärtigen realen (blutigen) Kriege auf europäischem Boden, bei denen die Sprachen verteidigte Güter und Waffen zugleich sind, zeigt die dringende Notwendigkeit an, solch ein aufgeklärtes Sprachbewusstsein möglichst breit zu vermitteln.

Geht man von dem Bild des Sprachenkrieges zum Bild des Sprachenmarktes, so kann man dessen Gesetz mit dem Titel einer Fernsehshow der Wissensgesellschaft fassen, in der das Abfragen sinnloser Wissensversatzstücke auf die darwinistische Spitze getrieben wird: „Der Schwächste fliegt". Wenn wir in Europa über die Sprachenzukunft nachdenken, müssen wir wohl oder übel über ihren Wert auf dem Markt nachdenken. Der Marktvorteil der europäischen Kultursprachen - die gegenüber allen anderen genauso schützenswerten Sprachen einen enormen Marktvorteil haben - basiert auf den kulturellen Leistungen, die in ihnen seit ca. 500 Jahren vollbracht werden; hierzu zählt die italienische Oper wie die deutsche Philosophie, die gesamte europäische Literatur und vieles mehr. Zur europäischen Sprachenförderung gehört die Förderung dieser kulturellen Leistungen in den europäischen Sprachen. Ansonsten droht auch den europäischen Kultursprachen auf lange Sicht nur das Überleben in sprachlichen „Indianerreservaten", von denen es im Land der (sprach-)unbegrenzten Möglichkeiten ja schon einige gibt.

Die vielfältigen Bemühungen zur Förderung des Sprachenlernens sind deshalb als Hilfen zum Ausstieg aus der Einsprachigkeit so richtig und wichtig wie die praktischen Tipps zur Nikotinentwöhnung am Welt-Nichtrauchertag. Zur Förderung des Sprachenlernens wurden im EJS bislang viele Anregungen gegeben und Akzente gesetzt. Eingefleischten Rauchern ist aber nur dann der Griff zur Zigarette zu vergällen, wenn ihnen bewusst gemacht wird, dass Rauchen krank macht. Auch sprachliche Monokultur macht krank: Unsere Werbung dafür, wie die Einsprachigkeit heilbar ist, muss darum noch stärker als bisher von öffentlichen Diskussionen über Bedeutung und Wert der Sprachenvielfalt begleitet werden, wie dies ja auch im ersten der offiziellen Ziele des EJS formuliert ist. Schließlich ist der Wert der Sprachenvielfalt keineswegs so offensichtlich wie die Gesundheitsgefährdung durch das Rauchen. Im Gegenteil: Nicht nur die Esperanto-Bewegung geht von dem Gedanken aus, dass die sprachliche Vielfalt ein Quell allen kriegerischen Unheils auf der Welt ist. Darum war der Wert der Sprachenvielfalt auch nicht immer und überall bekannt, er ist vielmehr eine echte wissenschaftliche Entdeckung, die in historischer Perspektive von Francis Bacon (wenn auch in anderer Absicht) vorbereitet, von Gottfried Wilhelm Leibniz erkannt, von Etienne Condillac reflektiert und schließlich von Wilhelm von Humboldt zu einem tragfähigen Sprachdenken samt Forschungsprogramm ausgestaltet wurde.

Wenn wir diese Entdeckung der großen europäischen Sprachdenker nicht verbreiten und vertreten, droht die Gefahr, dass die im Prinzip richtige Förderung der Mehrsprachigkeit zu einem vorübergehenden Solidarzuschlag verkommt, von dem alle hoffen, dass er bald überflüssig sein wird.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Oktober 2001

Brigitte Jostes, Das Europäische Jahr der Sprachen 2001. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/42001/positionen3.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp