DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

„Sprechen Sie europäisch?" und „Sprechen Sie europäisch!"

Sprachliche Vielfalt ist kulturelle Vielfalt

Albert Raasch

Dr. Albert Raasch, Professor em. für Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung, lehrte von 1973 bis 1999 am Romanistischen Institut der Universität des Saarlandes und hat sich auf vielfältige Weise der Förderung der Zweisprachigkeit in der Großregion Saar-Lor-Lux gewidmet.

Abstract:
English is firmly established as a lingua franca, yet in order to preserve cultural variety the mastering of several languages will continue to be indispensable. The author demonstrates in which ways learners profit from knowledge of and comparison between various languages and argues in favour of a common aim of „English plus multilinguality".

Was bedeutet „europäisch sprechen", wenn es trotz verwandtschaftlicher Beziehungen eine „europäische Sprache" nicht gibt? Welches sprachenpolitische Programm verbirgt sich hinter diesem Slogan zum „Europäischen Jahr der Sprachen"? - Albert Raasch zeigt auf, worüber zum Konzept der Mehrsprachigkeit politisch Konsens besteht und ab wann der Konflikt beginnt: Wird die Bewusstseinsbildung „pro" Mehrsprachigkeit und Pflege der europäischen Vielfalt zum Feldzug „contra" Englisch?

Die Formulierungen im Titel drücken in knapper Form aus, was der Ausdruck „Sprachenpolitik" meint; das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) hat gut daran getan, sie zum Slogan seines Beitrags zum „Europäischen Jahr der Sprachen" zu wählen. Versuchen wir, den Fächer der Bedeutungen, die in ihnen stecken, zur Entfaltung zu bringen.

„Europäisch sprechen": Gibt es denn überhaupt so etwas wie eine „europäische Sprache"? Ist man etwa darum bemüht, eine europäische Sprache zu schaffen, gewissermaßen eine Kunstsprache (wie das Esperanto), die sich aus Elementen der europäischen Sprachen zusammensetzt, aber von niemandem als Mutter- oder Erstsprache gelernt und gesprochen wird? So ganz abwegig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist dieser Gedanke vielleicht doch nicht, denn:

Diese verschiedenen Ansätze belegen zugleich, dass es eine „europäische Sprache" - trotz aller verwandtschaftlichen Beziehungen, die sich auf die Sprachen der Antike und letztlich auf das Indogermanische zurückführen lassen - nicht geben kann, weil die Schnittmengen über die aufgezählten Familienähnlichkeiten hinaus schlicht zu gering sind.

„Europäisch sprechen" bedeutet vielmehr, die Vielfalt der Sprachen, die in Europa nebeneinander bestehen, zu bewahren; jede dieser Sprachen ist ein Stück europäischer Identität, ob „klein" oder „groß", ob von vielen oder wenigen Sprechern benutzt, ob Sprachen der Mehrheit in einem Land (wie das Französische in Frankreich oder das Deutsche in Deutschland) oder der Minderheiten (wie das Baskische und das Bretonische in Frankreich oder das Sorbische und das Friesische in Deutschland). „Europäisch" sind nicht nur die Sprachen der Europäischen Union in ihrer gegenwärtigen Dimension, sondern auch die Sprachen der Beitritts- und Kandidatenländer; „europäisch" sind auch die Sprachen der 45 Länder, die im Europarat offiziell vertreten sind. „Europäisch" sind auch Dialekte (sprachliche Varietäten, die bestimmten geographischen Bereichen gemeinsam sind), Soziolekte (sprachliche Varietäten, die bestimmten sozialen Kontexten gemeinsam sind), Chronolekte (sprachliche Varietäten, die für bestimmte Epochen charakteristisch sind). „Europäisch" sind auch Sprachen, die von Migranten in Europa gesprochen werden.

„Europäisch sprechen" hat also, wie daraus deutlich wird, engstens zu tun mit Politik. Die Bewahrung der Verschiedenheit der Sprachen ist das Markenzeichen Europas, ist also ein sprachenpolitisches Programm; der Slogan bedeutet: Verschiedenheit ist europäische Gemeinsamkeit.

„Sprechen Sie europäisch?" ist eine Frage, über die man nachdenken kann und die man so umschreiben könnte: „Sprechen Sie so, dass Sie die Identität des vielfältigen Europas zum Ausdruck bringen?" Das ist eine Frage, die man möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern stellen soll; sie werden erkennen, dass „Sprachen" ähnlich sind wie der Euro, der nun gerade in Europa eingeführt wird: Münzen und Scheine weisen ganz verschiedene Symbole der europäischen Kulturen auf, und die Verschiedenheiten werden zugleich zusammengehalten durch Symbole der Identität: die Währung „Euro" ist die Garantie der Einheitlichkeit. Diese Frage „Sprechen Sie europäisch?" fordert zum Nachdenken heraus und macht bewusst, was Europa ist und vor allem: was der Einzelne/die Einzelne, mit Europa zu tun hat. Die Frage zeigt die Verantwortung auf, die jeder Einzelne trägt, um dieses Europa zu gestalten; dieses Bewusstsein zu fördern ist zentrales Anliegen des Europäischen Jahres der Sprachen, und darum ist die Formulierung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes ein so gelungener Beitrag zu diesem Jahr.

Nun kann man zurückfragen, warum denn diese Vielfalt der Sprachen gefördert und gepflegt werden soll; genügt vielleicht schon das Argument, das im Umweltschutz unmittelbar jedem einleuchtet, nämlich dass wir die Arten schützen müssen, damit sie nicht unwiederbringlich von der Erde verschwinden? Hilft es, die Bewohner Europas zu überzeugen, indem man ihnen ins Bewusstsein ruft, dass jede Woche auf der Erde eine Sprache stirbt? Solche ökologischen Beobachtungen und Überlegungen können vielleicht schon hinreichen, die Menschen aufzurütteln, und sie an ihre Verantwortung erinnern. Aber man sollte inhaltliche Argumente hinzufügen, die speziell die Sprachen betreffen.

Eine Sprache lernen heißt, sie aussprechen können, Wörter dieser Sprache kennenlernen und „richtig" schreiben können, Wörter zu Sätzen verbinden können, also Aussprache, Rechtschreibung, Wortschatz und Grammatik erwerben. Aber das ist wohl erst der Anfang eines umfassenden Verständnisses für Sprachen und Sprache. Wenn man einen Brief in französischer Sprache schreiben will, dann kann man am Schluss des Briefes nicht so etwas schreiben wie „Mit freundlichen Grüßen", sondern muss zwischen vielen Möglichkeiten diejenige wählen, die am besten die Beziehung zu dem Empfänger ausdrückt: eher freundschaftlich, familiär oder gar vertraulich, eher etwas distanziert, höflich, formell, unterkühlt: so unterschiedlich, wie man sich ja auch in einem Gespräch ausdrückt, mit Worten und mit Gesten, mit Mimik und mit Körperhaltung. Die Formel „Mit freundlichen Grüßen" ist eine Art Passepartout, praktisch, aber zugleich auch die Vielfalt der Beziehungen überlagernd oder verdeckend. Sich mit dem Französischen zu befassen, kann also Aufschluss auch über die eigene Sprache und das eigene Verhalten geben; man kann etwas Wesentliches und Interessantes lernen, wenn man sich mit einer anderen Sprache beschäftigt, weil man sich über die Sprache einer anderen Kultur nähert. Europa hat eben nicht nur eine Vielfalt verschiedener Sprachen herausgebildet, sondern mit den Sprachen zusammen verschiedene Kulturen. Dem zitierten Beispiel ließen sich viele weitere anfügen; man könnte z. B. deutlich machen, dass das österreichische Deutsch sich nicht (alleine) durch die „Marillen" und die „Paradeiser" und durch bestimmte charakteristische Merkmale der Aussprache unterscheidet, sondern auch durch eine Art des Gebrauchs der Sprache und damit durch eine andere Art des Umgangs zwischen den Menschen und damit der menschlichen Beziehungen, ihres Aufbaus und ihrer Pflege.

Sprachunterricht ist also letztlich Kulturunterricht, mit einem besonderen Akzent auf der Sprache: So verstanden ist Sprachunterricht „europäisch". Nicht das Thema „Europa" im Unterricht ist der wesentliche Beitrag von Schule und Bildungseinrichtungen der Erwachsenenbildung, sondern der wohlverstandene Begriff von Sprache, von Kultur in Sprache, von Sprache in Kultur. Sprachliche Vielfalt in Europa ist kulturelle Vielfalt; „Sprechen Sie europäisch?" fragt nach dem Beitrag jedes Einzelnen zur Förderung der europäischen Kulturen und ihrer je verschiedenen Merkmale und ihres zugleich gemeinsamen Kerns.

Die Frage „Sprechen Sie europäisch?" ist das eine; die Aufforderung: „Sprechen Sie europäisch!" das andere. Sprachenpolitik ist beides: Bewusstsein schaffen, nach Zusammenhängen fragen, Begriffe und Argumentationen formulieren, Gründe erhellen und Begründungen vorschlagen, den Ist-Zustand beschreiben und Theorien für die Analyse bereitstellen; aber auch appellieren, überzeugen, herausfordern, fordern.

Diese Fragen und Appelle betreffen alle Sprachen; das meinen jedenfalls wir, aber das meinen nicht alle Interessierten in Europa. Wenn wir bis hierher noch auf Konsens hoffen konnten, so beginnt jetzt der Konflikt, und er entzündet sich am Englischen. Das Konzept für Mehrsprachigkeit, das dem oben Geschilderten zugrunde liegt, ist zugleich ein Konzept gegen etwas, nämlich gegen die Einsprachigkeit - so weit, so gut -, interpretiert als die Einsprachigkeit „Englisch": Hier scheiden sich die Meinungen. Das Englische in seiner Dominanz blockiere den Erwerb der kulturellen und der sprachlichen europäischen Vielfalt, so heisst es; dieser Eindruck scheint nicht ganz verkehrt zu sein. Jeder will Englisch lernen und seine Kinder Englisch lernen lassen; auch das ist offenkundig richtig. Die Europäer zerstören also selbst die Grundlagen ihrer Identität; daher also: Bewußtseinsbildung im Europäischen Jahr der Sprachen im Sinne der Förderung der Mehrsprachigkeit. Was allerdings dann geschieht, ist Folgendes: Diese Bewußtseinsbildung „pro" wird zum Feldzug „contra", mit fatalen Folgen: Englisch sei „keine Sprache", sondern nur ein Übel, behauptet sogar ein anerkannter Sprachwissenschaftler; Verunsicherung bei den Eltern, die für ihre Kinder das Englische als prioritär ansehen: Das sind einige der Folgen.

Die Gesellschaft braucht offensichtlich Rat und Einsicht in diese sprachenpolitischen Zusammenhänge; hier sehe ich eine Aufgabe für die Erwachsenenbildung - speziell auch für die Volkshochschulen -, die hinausgeht über die gute Vermittlung von Sprachen und die europäische Aufforderung zu sprachenpolitischer Reflexion und sprachenpolitischem Handeln fördert. Der Begriff „Englisch" wird nämlich in doppeltem Sinne gebraucht, ohne dass sich die Öffentlichkeit dessen bewusst zu sein scheint: Jeder will Englisch lernen, weil es als lingua franca unverzichtbar ist; das ist richtig und aus meiner Sicht vollkommen nachvollziehbar: Ohne einige Englischkenntnisse könnte ich in Japan nicht existieren. Diese lingua franca sollte jeder erwerben, das aber lässt sich in drei oder vier oder maximal fünf Jahren leisten, dazu braucht man auf dem Gymnasium nicht neun Jahre; also kann man den dringenden und verständlichen Wunsch der Öffentlichkeit nach Erwerb des Englischen (in diesem Sinne) erfüllen und zugleich Sprachkenntnisse in anderen europäischen Sprachen erwerben. Das Englische in diesem Sinne blockiert also überhaupt nicht den Erwerb und die Pflege der europäischen Vielfalt; es geht nicht um „Englisch oder Mehrsprachigkeit", sondern um „Englisch und Mehrsprachigkeit". Und wer Freude daran hat, das Englische als kulturell gefüllte Sprache, als lingua culturalis also, intensiv zu lernen, der soll auch dazu Gelegenheit haben, denn dies wäre ebenfalls ein Beitrag im Sinne der Förderung europäischer Kultur.

Das Europäische Jahr der Sprachen sollte also für die Erwachsenenbildung als Instrument der Bewusstseinsbildung ei
ner breiten Öffentlichkeit Anlass sein, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie die Sprachenpolitik und die sprachenpolitischen Argumentationen in die Wirklichkeit ihrer Angebote und Programme übernimmt - nicht nur im Europäischen Jahr der Sprachen 2001, sondern ebenso im Europäischen Jahr der Sprachen 2002, im Europäischen Jahr der Sprachen 2003 …

Und vielleicht könnten sich die Forschungs- und Fortbildungsinstitutionen der Erwachsenenbildung der dringlichen Aufgabe annehmen, eine Didaktik der Sprachenpolitik für Erwachsene zu entwickeln; die Europäischen Jahre der Sprachen stellen ihnen diese herausfordernde Aufgabe. Wir sind auf die Antwort gespannt.


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Oktober 2001

Albert Raasch, „Sprechen Sie europäisch?" und „Sprechen Sie europäisch!"
Online im Internet:URL: http://www.diezeitschrift.de/42001/positionen4.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp