DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung

Lernen in der Virtualität

Aktuelle Erkenntnisse der Lernpsychologie

Peter Reimann

Dr. Peter Reimann ist Professor für Pädagogische Psychologie und Direktor des Psychologischen Instituts an der Universität Heidelberg.

Welche Auswirkungen haben Virtualisierungsprozesse für die Lernenden? Wo liegen Forschungsdesiderate in Bezug auf die Entwicklung virtueller Lernumgebungen? - Peter Reimann nimmt zwei wichtige Formen des Lernens in virtuellen Umgebungen in den Blick: Lernen in Informationsnetzen (Hypermedia) und Lernen mit virtuellen Objekten und Akteuren (Simulationen). Ergebnisse der Lernforschung zeigen unter anderem Diskrepanzen zwischen Lernpotenzial und Lerngewinn auf.

Abstract:
The author looks at two forms of learning in virtual environments: learning with hypermedia and learning by confrontation with virtual objects and „persons" (simulations). For hypermedia, research has found a rather wide discrepancy between media-specific learning potential and actual outcome, which, especially for beginners, tends to be rather small. - Many empirical studies on learning in simulated reality have shown that simulations can indeed be conducive to learning, but that this is not automatically and necessarily so. Research in the future should look more closely on what measures should be implemented in such environments to enhance learning.

Die lernpsychologische Forschung befasst sich mit virtuellen Lernräumen insbesondere in drei Ausprägungsformen: Hypermedia - also das Lernen in virtuellen Informationsnetzen; Simulationen - das Lernen mit virtuellen Objekten und Akteuren; und Partizipation an virtuellen Lerngruppen. Ich konzentriere mich hier auf das Lernen mit Hypermedia und mit Simulationen als wichtige Spezialformen virtuellen Lernens.

Hypermedia: Lernen in virtuellen Informationsnetzen

Setzt man „virtuelle Lernumgebung" mit instruktionellen Angeboten im Internet gleich, sieht man sich bei einer lernpsychologischen Betrachtung vor das Problem gestellt, dass das Internet für sich genommen natürlich keine Lehr- oder Lernmethode darstellt. Vielmehr ist es eine technische Plattform, die den Zugriff auf eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Lernangebote erlaubt und die orts- und zeitunabhängige Kommunikation unterstützt. Psychologisch und didaktisch relevanter ist die hypermediale Informationsstruktur, die mit der Internet-Technologie, vor allem dem WWW, realisiert werden kann.

Die hypermediale Grundstruktur des WWW ist jedem bekannt, der einen Webbrowser nutzt: Informationen werden im WWW in Form von „Seiten" präsentiert; in diese Seiten - oder allgemeine Knoten - sind unterschiedlich viele Verknüpfungen zu anderen Knoten in Form von URL-Verweisen (links) integriert. Mit diesen technischen Möglichkeiten kann man lineare Navigation ähnlich wie bei einem Buch realisieren (z. B. „nächste Seite"; „vorhergehende Seite"), aber auch nicht-lineare „virtuelle Informationsräume" gestalten, in denen das „virtuelle Buch" nur noch den linearen Spezialfall darstellt.

Nicht-linear strukturierte Informationsräume haben den großen Vorteil, dass sie sich flexibler als ein lineares Buch nutzen lassen. Auf diese Art kann die Hypermedia-Methode unterschiedlichen Interessen und unterschiedlichem Vorwissen der Rezipienten Rechnung tragen. Ein weiteres Lernpotenzial liegt darin begründet, dass die „Rezipienten" zu aktiver Gestaltung ihrer Informationsaufnahme angehalten sind, da ihnen der Autor des Hypermediums keinen eindeutigen Lesepfad nahelegt. Spiro/Jehng (1990) argumentieren in ihrer einflussreichen Cognitive Flexibility Theory, dass Hypermedia dort didaktisch besonders sinnvoll ist, wo es um die Darstellung und Erschließung komplexer Sachverhalte (wie z. B. medizinisches Wissen) geht (vgl. Gerdes 1997; für einen Überblick über den Einsatz in der betrieblichen Weiterbildung vgl. Severing u. a. 2001).

Die empirische Forschung zur Wirksamkeit der Hypermedia-Methode resultierte in einer ausgesprochen heterogenen Befundlage (für eine Übersicht vgl. z. B. Dillon/Gabbard 1991; Tergan 1997). So profitieren beispielsweise Experten wegen des schnellen Informationszugriffs von dem nicht-linearen Medium, während Novizen eher aus „guided tours" und klarer Lernerführung einen Nutzen ziehen (vgl. Jacobson u. a. 1996). Problematisch sind oftmals bei Lernenden der Mangel an einer klaren Zielvorstellung und die Unwissenheit, was mit der Menge an Informationen eines Hypertextes überhaupt anzufangen ist (vgl. Schnotz/Zink 1997). Dieses Defizit kann zum bekannten Phänomen des „lost in Cyperspace" und zu einem ungerichteten Navigieren führen (vgl. Kuhlen 1991). Zur Unterstützung von Lernprozessen, insbesondere beim Wissenserwerb mit hypertextbasierten Lernumgebungen, wird daher häufig auf die Lernerunterstützung durch (Software)Werkzeuge zurückgegriffen.

Simulationen: Lernen mit virtuellen Objekten und Akteuren

Unter einer instruktionellen Computersimulation versteht man ein Modell eines Phänomens, eines Systems oder einer Aktivität; man lernt durch Manipulation des Modells und Analyse des Modellverhaltens. Dabei wird das Modellverhalten in Abhängigkeit von den Eingaben des Benutzers stets aktuell berechnet.

Simulationen sind didaktisch interessant, weil sie eine ganze Reihe von Möglichkeiten bieten, die sich beim Lernen am Original nicht oder nur schwer herstellen lassen. Der häufigst genannte Vorteil ist die Risikofreiheit: Diesen Vorteil des Flugsimulators über den echten Flug wissen auch die am Boden Lebenden zu schätzen. Der Flugsimulator, um bei diesem Beispiel zu bleiben, erlaubt auch die Nachstellung von Situationen, die im echten Fliegerleben nur sehr selten auftreten, auf die man aber trotzdem vorbereiten muss. In Simulationen und Simulatoren lässt sich die Problemkomplexität an individuelle Kenntnisse und Fertigkeiten anpassen. Prozesse, die in der Realität sehr schnell (z. B. atomarer Teilchenzerfall) oder sehr langsam (z. B. Evolutionsprozesse) ablaufen, lassen sich in Simulationen beliebig verzögern oder beschleunigen. Für viele Lernsituationen vorteilhaft ist die Eigenschaft, dass man in Simulationen Informationen nicht nur reduzieren, sondern auch im Original nicht vorhandene Informationen hinzufügen kann.

Die vielen empirischen Studien zum Lernen mit Computersimulationen (vgl. de Jong/van Joolingen 1998) zeigen, dass sich deren Eigenschaften in der Tat lernfördernd nutzen lassen, dass aber die bloße Präsentation einer Simulationsumgebung nicht automatisch zu tieferer kognitiver Verarbeitung oder schnellerem Fertigkeitserwerb führt. Das Lernen mit Simulationen wird von Schülern wie von erwachsenen Lernern immer als motivierender erlebt als text- und präsentationsorientierte Lehrformen. Um über diesen Motivationseffekt hinaus lernförderlich zu sein, bedarf es aber zusätzlicher Maßnahmen. Die Hauptprobleme beim Lernen mit Simulationen sind ähnlich denen beim Lernen mit Hypertext: Ohne klare Lernziele bleibt der Umgang mit einer Simulation vielleicht eine Weile spannend, aber er führt nicht zu Wissensänderungen. Ohne metakognitive Aktivitäten (Überwachung des Fortschritts, Analyse von Problemen, Anpassung der Mikrolernstrategien) erinnert der Umgang mit Simulationen mehr an ein zielloses Herumprobieren als an einen Wissenserwerbsprozess.

Viel untersucht ist auch der Einfluss der Abbildungsgenauigkeit des Modells (fidelity) auf den Lernerfolg, insbesondere auf den Transfer des am Modell Erlernten oder Geübten. Glaubte man ursprünglich, dass eine möglichst hohe Entsprechung zwischen Original und Modell auf jeden Fall zu relativ höherem Transfer führen würde, zeigen neuere Untersuchungen, dass der Vorwissensstand eine wichtige Einflussgröße ist: Anfänger profitieren wenig von allzu getreuen Modellen, da dies in aller Regel ja auch die komplexesten sind (vgl. Andrew/Carroll/Bell 1995). Auf Virtualität bezogen impliziert das, dass es für virtuelle Lernumwelten nicht unbedingt das Ziel sein muss, die „echte Welt" möglichst exakt zu imitieren. Abweichungen, insbesondere Vereinfachungen und Abstraktionen, aber auch Hinzufügungen in Form von „Verdinglichungen" theoretischer Größen und von Hilfestellungen, sind durchaus lernfördernd.

Weiterführende Fragestellungen

Im instruktionellen Kontext wird mit der Virtualisierung in erster Linie eine Erhöhung der Authentizität und Konkretheit von Lernarrangements angestrebt: Die Welt außerhalb des Klassenzimmers, des Seminarraums soll in das pädagogische Arrangement intensiver und genauer einbezogen werden. Das didaktische Ziel der Virtualisierung ist ironischerweise häufig eine bessere Verankerung in der Realität. Die angestrebte Authentizität von Hypermedia-Netzen und Simulationen bleibt aber häufig eingeschränkt, zum einen sicherlich deshalb, weil der Nachbildung des Originals finanzielle und organisatorische Grenzen gesteckt sind, zum anderen aber auch deshalb, weil authentische Prozesse des Arbeitens und Kommunizierens nur partiell übernommen werden und dann häufig in einer idealisierten Form, die der Praxis nur teilweise entspricht. Hinzu kommt, dass die Psychologie in vielen Fällen die Praxis noch gar nicht verstanden hat, die in Lernumwelten in virtueller, vielleicht sogar simulierter Form repräsentiert werden soll. Daher wird die Lernpsychologie nicht umhinkommen, sich intensiver mit Tätigkeits-, Arbeits- und Organisationsanalysen zu befassen.

Ein spezifischeres Desiderat für weitere Forschung ergibt sich aus der Eigenschaft sowohl von Hypermedia wie von Simulationen, dass beide Ansätze ohne relativ massive stützende Maßnahmen bei Anfängern nicht sonderlich effektiv sind. Um diese Methoden für breite Zielgruppen pädagogisch sinnvoll einzusetzen, bedarf es der weiteren Entwicklung und Evaluation von ergänzenden Methoden, z. B. auf metakognitiver Seite. Ein drittes Desiderat resultiert aus der Beobachtung, dass die Lernforschung vergleichsweise wenig darüber weiß, wie das Lernen in virtuellen Informations- und Interaktionsräumen die epistemologischen Überzeugungen von Lernern beeinflusst. Wie verändern sich unter dem Einfluss neuer Lerntechnologien Vorstellungen und Normen darüber, was Wissen, Erkenntnis, Lernen, Verstehen bedeutet? Wie beeinflussen diese subjektiven epistemologischen Überzeugungen ihrerseits das (Lern)Handeln?

Literatur

Andrew, L. A./Carroll, L. A./Bell, H. H. (1995): The future of selective fidelity in training devices. In: Educational Technology, H. 6, S. 32-36

De Jong, T./van Joolingen, W. R. (1998): Scientific discovery learning with computer simulations of conceptual domains. In: Review of Educational Research, S. 179-202

Dillon, A./Gabbard, R. (1998): Hyypermedia as an Educational Techology. A Review of the Quantitative Research Literature on Learner Comprehension, Control, and Style. In: Review of Educational Research, H. 3, S. 322-349

Gerdes, H. (1997): Lernen mit Text und Hypertext. Berlin

Jacobson, M. J./Maouri, C./Mishra, P./Kolar, C. (1996): Learning with hypertext learning environments: Tehory, design and research. In: Journal of Educational Multimedia and Hypermedia, H. 5, S. 239-281

Kuhlen, R. (1991): Hypertext. Ein nicht-lineares Medium zwischen Buch und Wissenschaft. Heidelberg

Schnotz, W./Zink, T. (1997): Informationssuche und Kohärenzbildung beim Wissenserwerb mit Hypertext. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, H. 2, S. 95-108

Severing, E./Keller, C./Reglin, T./Spies, J. (2001): Betriebliche Bildung via Internet. Konzeption, Umsetzung und Bewertung. Bern

Spiro, R. J./Jehng, J. C. (1990): Cognitive flexibility and hypertext. Theory and technology for the nonlinear and multidimensional traversal of complex subject matter. In: Nix, D./Spiro, R. J. (Hrsg.): Eognition, education, and multimedia. Exploring ideas in high technology. Hillsdale, N. Y., S. 163-205

Tergan, S.-O. (1997); Hypertext und Hypermedia. In: Issing, L. J./Klimsa, P. (Hrsg.): Information und Lernen mit Multimedia. Weinheim, S. 123-138


Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
Juli 2001

Peter Reimann, Lernen in der Virtualität. Online im Internet:
URL: http://www.diezeitschrift.de/32001/positionen3.htm
Dokument aus dem Internetservice Texte online des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung
http://www.die-bonn.de/publikationen/online-texte/index.asp